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Der Patron zog ab. Er warf die Tür hinter sich zu.

»Ist Geld in den Koffern?« fragte Ravic die Frau.

»Ich... nein, ich glaube nicht.«

»Wissen Sie, wo es ist? In seinem Anzug? Oder war keins da?«

»Er hatte Geld in seiner Brieftasche.«

»Wo ist sie?«

»Unter...« Die Frau zögerte. »Unter seinem Kopfkissen hatte er sie meistens.«

Ravic stand auf. Er hob vorsichtig das Kopfkissen mit dem Kopf des Toten und holte darunter eine lederne schwarze Brieftasche hervor. Er gab sie der Frau. »Nehmen Sie das Geld heraus und alles, was wichtig für Sie ist. Rasch. Es ist keine Zeit für Sentimentalität. Sie müssen leben. Zu was sonst ist es nütze? Soll es bei der Polizei verschimmeln?«

Er blickte eine Minute aus dem Fenster. Ein Lastwagenchauffeur beschimpfte auf der Straße einen Kutscher mit einem von zwei Pferden gezogenen Grünkramwagen. Er beschimpfte ihn mit der vollen Überlegenheit, die ein schwerer Motor verleiht. Ravic wandte sich um. »Fertig?«

»Ja.«

»Geben Sie mir die Brieftasche wieder zurück.« Er schob sie unter das Kissen. Er fühlte, daß sie dünner war als vorher. »Packen Sie die Sachen in Ihre Handtasche«, sagte er.

Sie tat es gehorsam. Ravic nahm die Rechnung und sah sie durch. »Haben Sie hier schon einmal eine Rechnung bezahlt?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube schon.«

»Dies ist eine Rechnung für zwei Wochen. Bezahlte...« Ravic zögerte einen Moment. Es schien ihm sonderbar, von dem Toten als Herrn Raszinsky zu sprechen. »Wurden die Rechnungen immer pünktlich bezahlt?«

»Ja, immer. Er sagte oft, daß... in seiner Lage es wichtig wäre, immer pünktlich da zu zahlen, wo man müßte.«

»Dieser Halunke von Wirt! Haben Sie eine Ahnung, wo die letzte Rechnung sein kann?«

Es klopfte. Ravic konnte sich nicht enthalten zu lächeln. Der Hausknecht brachte die Koffer herein. Der Wirt folgte ihm.

»Sind das alle?« fragte Ravic die Frau.

»Ja.«

»Natürlich sind das alle«, grunzte der Wirt. »Was dachten Sie denn?«

Ravic nahm einen kleinen Koffer. »Haben Sie einen Schlüssel dazu? Nein? Wo können die Schlüssel sein?« »Im Schrank. In seinem Anzug.«

Ravic öffnete den Schrank. Er war leer. »Nun?« fragte er den Wirt.

Der Wirt wandte sich an den Valet: »Nun?« fauchte er.

»Der Anzug ist draußen«, stotterte der Valet.

»Warum?«

»Zum Bürsten und Reinigen.«

»Das braucht er wohl nicht mehr«, sagte Ravic.

»Bring ihn sofort herein, verdammter Dieb«, schnauzte der Wirt.

Der Hausdiener gab ihm einen kuriosen, zwinkernden Blick und ging. Gleich darauf brachte er den Anzug herein. Ravic schüttelte das Jackett, dann die Hose. Es klirrte in der Hose. Ravic zögerte einen Moment. Sonderbar, in die Hosentasche eines toten Mannes zu greifen. Als wäre der Anzug mitgestorben. Und sonderbar, so zu denken. Ein Anzug war ein Anzug.

Er nahm die Schlüssel heraus und öffnete die Koffer. Obenauf lag eine Segeltuchmappe. »Ist es diese?« fragte er die Frau. Sie nickte.

Ravic fand die Rechnung sofort. Sie war quittiert. Er zeigte sie dem Wirt. »Sie haben eine Woche zuviel gerechnet.«

»So?« schnappte der Patron zurück. »Und dann der Ärger? Die Schweinerei? Die Aufregung? Das ist wohl nichts, was? Daß ich meine Galle wieder fühle, das ist wohl inbegriffen, wie? Sie haben ja selbst gesagt, daß Gäste ausziehen werden! Der Schaden ist viel höher! Und das Bett? Das Zimmer, das ausgeschwefelt werden muß? Das Bettuch, das verdreckt ist?«

»Das Bettuch ist auf der Rechnung. Außerdem ein Diner für fünfundzwanzig Frank, das er gestern abend noch gegessen haben soll. Haben Sie etwas gegessen gestern?« fragte er die Frau.

»Nein. Aber kann ich es nicht einfach bezahlen? Es ist... ich möchte es rasch erledigen.«

Rasch erledigen, dachte Ravic. Wir kennen das. Und dann — die Stille und der Tote. Die Keulenschläge des Schweigens. Besser so — wenn es auch scheußlich ist. Er nahm einen Bleistift vom Tisch und rechnete. Dann gab er die Rechnung an den Wirt zurück.

»Einverstanden?«

Der Patron warf einen Blick auf die Endziffer. »Ich bin doch nicht verrückt?«

»Einverstanden?« fragte Ravic noch einmal.

»Wer sind Sie überhaupt? Was mischen Sie sich hier ein?«

»Ich bin der Bruder«, sagte Ravic. »Einverstanden?«

»Plus zehn Prozent Service und Steuer. Sonst nicht.«

»Gut.« Ravic fügte die Zahl hinzu. »Sie haben zweihundertzweiundneunzig Frank zu zahlen«, sagte er zu der Frau.

Sie nahm drei Hundert-Frank-Scheine aus der Tasche und gab sie dem Wirt, der sie nahm und sich zum Gehen wandte. »Um sechs Uhr muß das Zimmer geräumt sein. Sonst rechnet es für einen andern Tag.«

»Acht Frank zurück«, sagte Ravic.

»Und der Concierge?«

»Den zahlen wir selbst. Die Trinkgelder auch.«

Der Wirt zahlte mürrisch acht Frank auf den Tisch. »Sales etrangers«, murmelte er und verließ das Zimmer.

»Der Stolz mancher französischer Hoteliers besteht darin, daß sie die Fremden hassen, von denen sie leben.« Ravic bemerkte den Hausknecht, der mit einem Trinkgeldgesicht noch an der Tür stand. »Hier...«

Der Valet besah den Schein zuerst. »Merci, Monsieur«, erklärte er dann und ging.

»Jetzt kommt noch die Polizei, und dann kann er abgeholt werden«, sagte Ravic und sah die Frau an. Sie saß still in der Ecke zwischen den Koffern in der leise einfallenden Dämmerung. »Wenn man tot ist, ist man sehr wichtig... wenn man lebt, kümmert sich niemand.«

Er sah die Frau noch einmal an. »Wollen Sie nicht hinuntergehen? Es muß unten so etwas wie ein Schreibraum sein.« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich kann mit Ihnen gehen. Ein Freund von mir kommt her, um die Sache mit der Polizei zu erledigen. Doktor Veber. Wir können unten auf ihn warten.«

»Nein. Ich möchte hierbleiben.«

»Sie können nichts tun. Warum wollen Sie hierbleiben?«

»Ich weiß nicht. Er... wird nicht mehr lange dasein. Und ich bin oft... er war nicht glücklich mit mir. Ich war oft fort. Jetzt will ich hierbleiben.«

Sie sagte das ruhig, ohne Sentimentalität.

»Er weiß nichts mehr davon«, sagte Ravic.

»Das ist es nicht...«

»Gut. Dann werden Sie hier etwas trinken. Sie brauchen das.«

Ravic wartete nicht auf Antwort. Er klingelte. Der Kellner erschien überraschend schnell. »Bringen Sie zwei große Kognaks.«

»Hierher?« — »Ja. Wohin sonst?«

»Sehr wohl, mein Herr.«

Der Kellner brachte zwei Gläser und eine Flasche Courvoisier. Er blickte in die Ecke, wo das Bett weiß in der Dämmerung schimmerte. »Soll ich Licht machen?« fragte er.

»Nein. Aber Sie können die Flasche hierlassen.«

Der Kellner stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand mit einem zweiten Blick auf das Bett, so rasch er konnte.

Ravic nahm die Flasche und goß die Gläser voll. »Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun.« Er erwartete, daß die Frau sich weigern würde und er ihr zureden müsse. Aber sie trank das Glas ohne Zögern aus.

»Ist in den Koffern, die Ihnen nicht gehören, noch etwas Wichtiges?«

»Nein.«

»Etwas, das Sie behalten möchten. Das nützlich für Sie ist? Wollen Sie nicht nachsehen?«

»Nein. Es ist nichts drin. Ich weiß es.«

»Auch nicht in dem kleinen Koffer?«

»Vielleicht. Ich weiß nicht, was er darin hatte.«

Ravic nahm den Koffer, stellte ihn auf einen Tisch am Fenster und öffnete ihn. Ein paar Flaschen; etwas Wäsche; ein paar Notizbücher; ein Kasten mit Wasserfarben; einige Pinsel, ein Buch; in einem Seitenfach der Segeltuchmappe, in Seidenpapier gewickelt, zwei Geldscheine. Er hielt sie gegen das Licht. »Hier sind hundert Dollar«, sagte er. »Nehmen Sie das. Davon können Sie eine Zeitlang leben. Den Koffer werden wir zu den Ihren stellen. Er kann ebensogut Ihnen gehört haben.«

»Danke«, sagte die Frau.

»Es ist möglich, daß Sie das alles jetzt scheußlich finden. Aber es muß getan werden. Es ist wichtig für Sie. Es gibt Ihnen ein Stück Zeit.«

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