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Die Bucht von Antibes kam in großem Bogen auf sie zu. Es wurde immer heller. Vor dem aufblauenden Tag standen die eisengrauen Schatten von vier Kriegsschiff en: drei Zerstörer und ein Kreuzer. Sie mußten über Nacht eingelaufen sein. Niedrig und drohend und lautlos standen sie vor dem zurückweichenden Himmel. Ravic sah auf Joan. Sie war an seiner Schulter eingeschlafen.

17

Ravic ging zur Klinik. Er war seit einer Woche zurück von der Riviera. Plötzlich blieb er stehen. Was er sah, wirkte wie eine Kinderspielerei. Der Neubau glänzte in der Sonne, als wäre er aus einem Modellkasten aufgebaut; die Gerüste standen wie Filigran vor dem hellen Himmel — und als eines sich davon löste und ein Balken mit einer Figur langsam zu kippen begann, sah es aus, als fiele ein Streichholz mit einer Fliege daran herunter. Es fiel und fiel und schien endlos zu fallen — die Figur löste sich und war jetzt eine kleine Puppe, die die Arme ausstreckte und ungeschickt durch den Raum segelte. Es war, als sei die Welt einen Augenblick eingefroren und totenstill. Nichts regte sich, kein Wind, kein Atem, kein Ton — nur die kleine Figur und der starre Balken fielen und fielen...

Dann war plötzlich alles Lärm und Bewegung. Ravic fühlte, daß er den Atem angehalten hatte. Er lief.

Der Verunglückte lag auf dem Pflaster. Die Straße war eine Sekunde vorher fast leer gewesen. Jetzt schwärmte sie von Menschen. Sie kamen von allen Seiten, als hätte eine Alarmglocke geläutet. Ravic drängte sich durch. Er sah, daß zwei Arbeiter den Verunglückten hochzuheben versuchten. »Nicht heben! Liegenlassen!« rief er.

Die Leute um ihn und vor ihm machten Platz. Die beiden Arbeiter hielten den Verunglückten halb schwebend. »Langsam herunterlassen! Vorsichtig! Langsam!«

»Was sind Sie?« fragte einer der Arbeiter. »Arzt?«

»Ja.«

»Gut.«

Die Arbeiter legten den Verunglückten auf das Pflaster. Ravic kniete neben ihm nieder und horchte. Er öffnete vorsichtig die schweißige Bluse und fühlte den Körper ab. Dann stand er auf. — »Was?« fragte der Arbeiter, der ihn vorher gefragt hatte. »Bewußtlos, was?«

Ravic schüttelte den Kopf. »Was?« fragte der Arbeiter.

»Tot«, sagte Ravic.

»Tot?«

»Ja.«

»Aber«, sagte der Mann verständnislos, »wir haben doch gerade noch mit ihm zusammen Mittag gegessen.«

»Ist da ein Arzt?« fragte jemand hinter dem Ring von starrenden Menschen.

»Was ist los?« fragte Ravic.

»Ist da ein Arzt? Schnell!«

»Was ist los?«

»Die Frau...«

»Was für eine Frau?«

»Der Balken hat sie getroffen. Sie blutet.«

Ravic drängte sich durch. Eine kleine Frau in einer großen blauen Schürze lag auf einem Haufen Sand neben einer Kalkgrube. Ihr Gesicht war faltig, sehr blaß, und ihre Augen standen regungslos wie Kohlen darin. Unter dem Hals spritzte das Blut wie eine kleine Fontäne hervor. Es spritzte in einem puckernden, schiefen Strahl seitlich heraus, und das wirkte sonderbar unordentlich. Unter dem Kopf fraß sich eine schwarze Lache rasch durch den Sand.

Ravic drückte die Arterie ab. Er riß eine Bandage aus der schmalen Notfalltasche, die er automatisch bei sich trug. »Halten Sie das!« sagte er zu dem nächsten neben ihm.

Vier Hände griffen gleichzeitig nach der Tasche. Sie fiel in den Sand und öffnete sich. Er riß eine Schere und einen Knebel heraus und riß die Bandage auf.

Die Frau sagte nichts. Nicht einmal ihre Augen bewegten sich. Sie war starr, und jeder Muskel ihres Körpers war gespannt. »Alles in Ordnung, Mutter«, sagte Ravic.

»Alles in Ordnung.«

Der Balken hatte Schulter und Hals getroffen. Die Schulter war zerschmettert; das Schlüsselbein gebrochen und das Gelenk zerschlagen. Es würde steif bleiben. »Es ist der linke Arm«, sagte Ravic und fühlte langsam den Nacken ab. Die Haut war eingerissen, aber alles andere war heil. Der Fuß war verdreht; er betastete den Knochen und das Bein. Graue Strümpfe, oft gestopft, aber heil, mit einem schwarzen Band unter dem Knie gehalten — wie genau man das immer wieder alles sah! Schwarze Schnürschuhe geflickt, die Schnürriemen geknotet mit einem doppelten Knoten, die Schuhe an den Spitzen repariert.

»Hat jemand nach der Ambulanz telefoniert?« fragte er.

Niemand antwortete. »Ich glaube, der Polizist«, sagte jemand nach einer Weile.

Ravic hob den Kopf. »Polizist? Wo ist er?«

»Drüben — bei dem andern...«

Ravic stand auf. »Dann ist alles in Ordnung.«

Er wollte gehen. In diesem Augenblick schob sich der Polizist durch die Menge. Es war ein junger Mann mit einem Notizblock in der Hand. Er leckte aufgeregt an einem kurzen, stumpfen Bleistift.

»Einen Augenblick«, sagte er und begann zu schreiben. »Hier ist alles in Ordnung«, sagte Ravic. »Einen Augenblick, mein Herr.« »Ich bin sehr eilig. Ich muß zu einem dringenden Fall.« »Einen Augenblick, mein Herr. Sie sind der Arzt?« »Ich habe die Ader abgebunden, das ist alles. Jetzt brauchen Sie nur noch auf die Ambulanz zu warten.«

»Einen Moment, mein Herr! Ich muß Ihren Namen aufschreiben. Es ist wichtig, daß Sie Zeuge sind. Die Frau kann sterben.«

»Sie wird nicht sterben.«

»Das weiß niemand. Da ist noch die Frage des Schadenersatzes.« »Haben Sie einer Ambulanz telefoniert?« »Mein Kollege tut das. Stören Sie mich jetzt nicht, sonst dauert es noch länger.« »Die Frau ist halbtot, und Sie wollen weg«, sagte einer der Arbeiter vorwurfsvoll zu Ravic.

»Sie wäre tot, wenn ich nicht dagewesen wäre.«

»Na also«, sagte der Arbeiter ohne sichtbare Logik. »Da müssen Sie doch bleiben.«

Ein Kameraverschluß tickte. Ein Mann, der einen Hut trug, der vorn aufgeschlagen war, lächelte. »Würden Sie noch einmal so tun, als machten Sie den Verband fest?« fragte er Ravic.

»Nein.«

»Es ist die Presse«, sagte der Mann. »Sie kommen mit hinein, mit Adresse und Text: daß Sie die Frau gerettet haben. Gute Reklame. Bitte hier, so — das Licht ist so besser.«

»Gehen Sie zum Teufel!« sagte Ravic. »Die Frau braucht dringend eine Ambulanz. Der Verband kann nicht lange so bleiben. Sehen Sie zu, daß eine Ambulanz kommt.«

»Alles nacheinander, mein Herr«, erklärte der Polizist. »Ich muß erst einmal das Protokoll fertig haben.«

»Hat der Tote dir schon gesagt, wie er heißt?« fragte ein halbwüchsiger Junge.

»Ta gueule!« Der Polizist spuckte ihm vor die Füße.

»Fotografieren Sie es noch einmal von hier«, sagte jemand zu dem Fotografen.

»Warum?«

»Damit man sieht, daß die Frau auf dem abgesperrten Trottoir war. Die Straße war gesperrt. Sehen Sie dort...«, er zeigte auf eine schrägstehende Latte mit der Aufschrift : Attention! Danger! »Nehmen Sie das so auf, daß man es sieht. Wir brauchen das. Schadenersatz kommt nicht in Frage.«

»Ich bin Pressefotograf«, sagte der Mann mit dem Hut ablehnend. »Ich fotografiere nur, was ich für interessant halte.«

»Aber das ist doch interessant! Was ist denn sonst interessant? Mit dem Schild im Hintergrund.«

»Ein Schild ist nicht interessant. Aktion ist interessant.«

»Dann nehmen Sie es ins Protokoll.« Der Mann tippte dem Polizisten auf die Schulter.

»Wer sind Sie denn?« fragte der ärgerlich.

»Ich bin der Vertreter der Baufirma.«

»Schön«, sagte der Polizist. »Bleiben Sie auch mal hier. Wie heißen Sie? Das müssen Sie doch wissen?« fragte er die Frau. — Die Frau bewegte die Lippen. Die Augenlider begannen zu flattern. Wie Schmetterlinge, wie todmüde, graue Motten, dachte Ravic, und im gleichen Moment: ich Idiot! Ich muß sehen, daß ich verschwinde!

»Verdammt!« sagte der Polizist. »Vielleicht ist sie verrückt geworden. Das gibt Arbeit! Und mein Dienst ist um drei zu Ende.«

»Marcel«, sagte die Frau.

»Was? Augenblick mal. Was?« Der Polizist beugte sich wieder hinunter.

Die Frau schwieg. »Was?« Der Polizist wartete. »Noch einmal! Sagen Sie das noch einmal!«

52
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