Die Frau schwieg. »Sie mit Ihrem gottverdammten Gerede«, sagte der Polizist zu dem Vertreter der Baufirma. »Wie soll man dabei sein Protokoll kriegen?«
In diesem Augenblick klickte wieder der Verschluß der Kamera. »Danke«, sagte der Fotograf. »Sehr lebendig.«
»Haben Sie unser Zeichen mit drauf?« fragte der Vertreter der Baufirma, ohne auf den Polizisten zu hören. »Ich bestelle sofort ein halbes Dutzend.«
»Nein«, erklärte der Fotograf. »Ich bin Sozialist. Zahlen Sie nur die Versicherung, Sie jammervoller Jagdhund der Millionäre.«
Eine Sirene schrillte. Die Ambulanz. Dies ist der Augenblick, dachte Ravic. Er machte vorsichtig einen Schritt. Aber der Polizist hielt ihn fest. »Sie müssen mit zur Wache gehen, mein Herr. Es tut mir leid, aber es muß alles aufgenommen werden.«
Der zweite Polizist stand jetzt neben ihm. Es war nichts zu machen. Hoffentlich geht es gut, dachte Ravic und ging mit.
Der zuständige Beamte im Polizeirevier hatte schweigend dem Gendarmen und dem Polizisten, der das Protokoll neu aufnahm, zugehört. Jetzt wandte er sich an Ravic. »Sie sind kein Franzose«, sagte er. Er fragte nicht; er stellte es fest.
»Nein«, sagte Ravic.
»Was sind Sie?«
»Tscheche.«
»Wie kommt es, daß Sie hier Arzt sind? Als Ausländer können Sie doch nicht praktizieren, wenn Sie nicht naturalisiert sind?«
Ravic lächelte. »Ich praktiziere hier nicht. Ich bin hier als Tourist. Zu meinem Vergnügen.«
»Haben Sie Ihren Paß bei sich?«
»Brauchen wir das, Fernand?« fragte der andere Beamte. »Der Herr hat der Frau geholfen, und wir haben seine Adresse. Das ist doch genug. Da sind ja noch mehr Zeugen.«
»Es interessiert mich. Haben Sie Ihren Paß bei sich? Oder Ihre Carte d’Identité?«
»Natürlich nicht«, sagte Ravic. »Wer hat schon immer seinen Paß bei sich?«
»Wo haben Sie ihn?«
»Im Konsulat. Habe ihn vor einer Woche hingebracht. Er muß verlängert werden.«
Ravic wußte, daß, wenn er sagte, der Paß sei im Hotel, ein Polizist mitgeschickt und der Schwindel sofort entdeckt werden konnte. Außerdem hatte er zur Vorsicht ein falsches Hotel angegeben. Mit dem Konsulat hatte er eine bessere Chance.
»Bei welchem Konsulat?« fragte Fernand.
»Beim tschechischen. Wo sonst?«
»Wir können da anrufen und anfragen.« Fernand sah Ravic an.
»Natürlich.«
Fernand wartete eine Weile. »Schön«, sagte er dann. »Werden wir mal anfragen.«
Er stand auf und ging in einen Nebenraum. Der andere Beamte war sehr verlegen. »Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte er zu Ravic. »Es ist natürlich gar nicht nötig. Wird sofort aufgeklärt sein! Wir sind Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe.«
Aufgeklärt, dachte Ravic. Er sah sich ruhig um, während er eine Zigarette hervorholte. Der Gendarm stand neben der Tür. Das war zufällig.
Niemand verdächtigte ihn bis jetzt ernstlich.
Er konnte ihn beiseite stoßen — aber da waren noch der Mann von der Baufirma und zwei Arbeiter. Er gab es auf. Es war zu schwierig, durchzukommen; draußen vor der Tür standen auch gewöhnlich immer noch ein paar Polizisten herum.
Fernand kam zurück. »Auf dem Konsulat ist kein Paß mit Ihrem Namen.«
»Möglich«, sagte Ravic.
»Wieso möglich?«
»Ein einzelner Beamter weiß doch nicht gleich alles am Telefon. Da sind ein halbes Dutzend Leute mit diesen Dingen beschäftigt.«
»Dieser wußte Bescheid.«
Ravic erwiderte nichts. »Sie sind kein Tscheche«, sagte Fernand.
»Hör mal, Fernand«, begann der zweite Beamte.
»Sie haben keinen tschechischen Akzent«, sagte Fernand. — »Meinetwegen nicht.«
»Sie sind ein Deutscher«, erklärte Fernand triumphierend. »Und Sie haben keinen Paß.«
»Nein«, erwiderte Ravic. »Ich bin ein Marokkaner, und ich habe jeden französischen Paß der Welt.«
»Mein Herr!« brüllte Fernand. »Was erlauben Sie sich? Sie beleidigen das französische Kolonialreich.«
»Merde!« sagte einer der Arbeiter. Der Vertreter der Baufirma machte ein Gesicht, als wollte er salutieren!
»Fernand, nun laß doch...«
»Sie lügen! Sie sind kein Tscheche! Haben Sie einen Paß oder nicht? Antworten Sie!«
Die Ratte im Menschen, dachte Ravic. Die Ratte im Menschen, die man nie ersäufen kann. Was geht es diesen Idioten an, ob ich einen Paß habe? Aber die Ratte riecht etwas, und schon kriecht sie aus dem Loch.
»Antworten Sie!« schnauzte Fernand.
Ein Stück Papier! Ob man es besaß oder nicht. Diese Kreatur würde sich entschuldigen und verbeugen, wenn man diesen Fetzen Papier hätte. Es würde gleichgültig sein, ob man eine Familie ermordet oder eine Bank beraubt hätte — der Mann würde salutieren. Aber selbst Christus ohne Paß — heute würde er im Gefängnis verkommen. Er würde ohnehin lange vor seinem dreiunddreißigsten Jahre erschlagen worden sein.
»Sie bleiben hier, bis sich das geklärt hat«, sagte Fernand. »Ich werde dafür sorgen.«
»Schön«, sagte Ravic.
Fernand stampfte hinaus. Der zweite Beamte kramte in seinen Papieren. »Mein Herr«, sagte er dann, »es tut mir leid. Er ist verrückt mit diesen Sachen.«
»Macht nichts.«
»Sind wir fertig?« fragte einer der Arbeiter.
»Ja.«
»Gut.« Er wandte sich an Ravic. »Wenn die Weltrevolution kommt, brauchen Sie keinen Paß mehr.«
»Sie müssen verstehen, mein Herr«, sagte der Beamte. »Fernands Vater ist im Weltkrieg gefallen. Daher haßt er die Deutschen und macht solche Sachen.« Er sah Ravic einen Augenblick verlegen an. Er ahnte scheinbar, was los war. »Tut mir furchtbar leid, mein Herr. Wenn ich allein wäre...«
»Macht nichts.« Ravic sah sich um. »Kann ich einmal telefonieren, bevor dieser Fernand zurückkommt?«
»Natürlich. Drüben am Tisch. Tun Sie es rasch.«
Ravic telefonierte mit Morosow. Er erklärte ihm auf deutsch, was geschehen war. Er möchte Veber Bescheid sagen.
»Joan auch?« fragte Morosow.
Ravic zögerte. »Nein. Noch nicht. Sag ihr, ich sei zurückgehalten worden, aber in zwei, drei Tagen sei alles in Ordnung. Kümmere dich um sie.«
»Schön«, erwiderte Morosow nicht allzu enthusiastisch. »Schön, Wozzek.«
Ravic legte das Telefon nieder, als Fernand hereinkam. »Was sprachen Sie da gerade?« fragte er grinsend. »Tschechisch?«
»Esperanto«, erwiderte Ravic.
Veber kam am nächsten Vormittag. »Eine verdammte Bude«, sagte er und sah sich um.
»Französische Gefängnisse sind noch richtige Gefängnisse«, erwiderte Ravic. »Nicht angefault von Humanitätsduselei. Gutes, stinkendes, achtzehntes Jahrhundert.«
»Zum Kotzen«, sagte Veber. »Zum Kotzen, daß Sie da ’reingeraten sind.«
»Man soll keine guten Taten ausüben. Rächt sich sofort. Ich hätte die Frau verbluten lassen sollen. Wir leben in einem eisernen Zeitalter, Veber.«
»In einem gußeisernen. Haben die Brüder ’rausgekriegt, daß Sie illegal hier sind?« »Natürlich.«
»Die Adresse auch?«
»Natürlich nicht. Ich werde das alte ›International‹ doch nicht bloßstellen. Die Wirtin würde eine Strafe bekommen, weil sie unangemeldete Gäste hat. Und eine Razzia würde erfolgen, bei der man ein Dutzend Refugiés schnappen würde. Als Adresse habe ich diesmal das Hotel Lancaster angegeben. Teures, feines, kleines Hotel. Habe da in meinem früheren Leben mal gewohnt.«
»Und Ihr neuer Name ist Wozzek?«
»Wladimir Wozzek.« Ravic grinste. »Mein vierter.«
»Scheiße«, sagte Veber. »Was können wir tun, Ravic?«
»Nicht viel. Die Hauptsache ist, daß die Brüder nicht ’rauskriegen, daß ich schon ein paarmal hier war. Das gibt sonst sechs Monate Gefängnis.« »Verdammt.« »Ja, die Welt wird täglich humaner. Lebe gefährlich, sagte Nietzsche. Die Emigranten tun es — wider Willen.« »Und wenn man es nicht herausfindet?« »Vierzehn Tage, denke ich. Und die bekannte Ausweisung.« »Und dann?« »Dann komme ich wieder.« »Bis Sie wieder geschnappt werden.« »Genauso. Diesmal hat es lange gedauert. Zwei Jahre. Ein Menschenleben.« »Wir müssen da etwas machen. Das geht nicht mehr so weiter.« »Doch, es geht. Was wollen Sie schon machen?« Veber dachte nach. »Durant«, sagte er dann plötzlich.