»Natürlich! Durant kennt einen Haufen Leute und hat Einfluß...« Er unterbrach sich. »Mein Gott, Sie haben ja einen der Oberbonzen selbst operiert! Den mit der Gallenblase!«
»Ich nicht. Durant...«
Veber lachte. »Ich kann es dem Alten natürlich nicht sagen. Aber er kann irgendwas tun. Ich werde ihm auf der Seele knien.«
»Sie werden wenig erreichen. Ich habe Durant vor einiger Zeit um zweitausend Frank gebracht. Das vergißt der Typ nicht leicht.«
»Er wird«, sagte Veber ziemlich vergnügt, »er wird nämlich Angst haben, daß Sie etwas über schwarze Operationen erzählen. Sie haben ja Dutzende für ihn gemacht. Außerdem braucht er Sie!«
»Er kann leicht jemand anders finden. Binot oder einen Refugiéchirurgen. Es gibt genug.«
Veber strich sich seinen Schnurrbart. »Nicht mit Ihrer Hand. Wir werden das auf jeden Fall versuchen. Ich werde es noch heute machen. Kann ich hier was für Sie tun? Wie ist das Essen?«
»Schauderhaft. Aber ich kann mir was besorgen lassen.«
»Zigaretten?«
»Genug. Was ich brauche, können Sie mir nicht besorgen: ein Bad.«
Ravic lebte zwei Wochen mit einem jüdischen Installateur, einem halbjüdischen Schriftsteller und einem Polen zusammen. Der Installateur hatte Heimweh nach Berlin; der Schriftsteller haßte es; dem Polen war alles egal. Ravic sorgte für Zigaretten. Der Schriftsteller erzählte jüdische Witze. Der Installateur war unersetzlich als Fachmann gegen den Gestank.
Nach zwei Wochen wurde Ravic abgeholt. Man brachte ihn zunächst zu einem Inspektor, der ihn fragte, ob er Geld hätte.
»Ja.«
»Gut. Dann können Sie ein Taxi nehmen.«
Ein Beamter ging mit ihm. Die Straße war hell genug und sonnig. Es war gut, einmal wieder draußen zu sein. Ein alter Mann am Eingang verkaufte Luftballons. Ravic konnte sich nicht denken, weshalb er das gerade vor dem Gefängnis tat. Der Beamte winkte ein Taxi heran. »Wohin fahren wir?« fragte Ravic.
»Zum Chef.«
Ravic wußte nicht, was für ein Chef das war. Es war ihm auch ziemlich gleich, solange es nicht der Chef eines deutschen Konzentrationslagers war. Es gab nur einen wirklichen Schrecken in der Welt: völlig hilflos brutalem Terror ausgeliefert zu sein. Dies hier war harmlos.
Das Taxi hatte ein Radio. Ravic stellte es an. Er bekam die Nachrichten über den Gemüsemarkt; dann politische Neuigkeiten. Der Beamte gähnte. Ravic drehte weiter. Musik. Ein Schlager. Der Beamte hellte sich auf. »Charles Trenet«, sagte er. »Menilmontant. Klasse.«
Das Taxi hielt. Ravic zahlte. Man brachte ihn in einen Warteraum, der, wie alle Warteräume der Welt, nach Erwartung, Schweiß und Staub roch.
Er saß eine halbe Stunde und las eine alte Nummer von »La Vie Parisienne«, die ein Besucher liegengelassen hatte.
Sie war wie klassische Literatur nach zwei Wochen ohne Bücher. Dann wurde er zum Chef geführt.
Es dauerte eine Weile, ehe er den kleinen fetten Mann erkannte. Er kümmerte sich gewöhnlich nicht um Gesichter, wenn er operierte. Sie waren ihm so gleichgültig wie Nummern. Ihn interessierte nur die kranke Stelle. Aber dieses Gesicht hatte er sich mit Neugier angesehen. Da saß er, gesund, den Spitzbauch schon wieder angefressen, ohne Gallenblase, Leval. Ravic hatte schon vergessen gehabt, daß Veber Durant mobilisieren wollte, und er hatte nicht erwartet, zu Leval selbst geführt zu werden.
Leval sah ihn von oben bis unten an. Er ließ sich dabei Zeit. »Sie heißen natürlich nicht Wozzek«, knurrte er dann.
»Nein.«
»Wie heißen Sie?«
»Neumann.« Ravic hatte das mit Veber arrangiert. Der hatte es Durant erklärt. Wozzek war zu exzentrisch. »Sind Deutscher, was?« »Ja.« — Refugié?« »Ja.« »Weiß man nie. Sehen nicht so aus.« »Nicht alle Refugiés sind Juden«, erklärte Ravic. »Weshalb haben Sie gelogen? Mit Ihrem Namen?« Ravic zuckte die Achseln. »Was soll man machen? Wir lügen, so wenig wir können. Wir müssen — aber wir tun es nicht aus Spaß.«
Leval schwoll auf. »Glauben Sie, es macht uns Spaß, daß wir uns mit Ihnen abgeben müssen?«
Grau, dachte Ravic. Der Kopf war weißgrau, die Tränensäcke schmutzigblau, der Mund halb offen. Damals redete er nicht; damals war er ein Haufen quabbeliges Fleisch mit einer faulenden Gallenblase darin.
»Wo wohnen Sie? Die Adresse war auch falsch.«
»Ich habe irgendwo gewohnt. Einmal hier, einmal da.«
»Wie lange?«
»Drei Wochen. Ich bin vor drei Wochen aus der Schweiz gekommen. Wurde dort über die Grenze geschoben. Sie wissen ja, daß wir illegal, ohne Papiere, nirgendwo das Recht haben zu leben — und daß die meisten von uns sich noch nicht entschließen können, Selbstmord zu begehen. Das ist der Grund, weshalb wir Ihnen Scherereien machen.«
»Sollten in Deutschland geblieben sein«, knurrte Leval. »Es ist alles gar nicht so schlimm da. Wird viel übertrieben.«
Eine Spur anders geschnitten, dachte Ravic, und du wärest nicht hier, um diesen Unsinn zu reden. Die Würmer hätten ohne Papiere deine Grenzen überschritten — oder du wärest eine Handvoll Staub in einer geschmacklosen Urne.
»Wo haben Sie hier gewohnt?« fragte Leval.
Das möchtest du gern wissen, dachte Ravic, um andere da zu fangen. »In guten Hotels«, sagte er. »Unter verschiedenen Namen. Immer für ein paar Tage.
»Das ist nicht wahr.«
»Weshalb fragen Sie mich, wenn Sie es besser wissen«, sagte Ravic, der langsam genug hatte.
Leval schlug mit der flachen Hand ärgerlich auf den Tisch. »Seien Sie nicht unverschämt!« Er besah sich gleich darauf seine Hand genau.
»Sie haben auf die Schere geschlagen«, sagte Ravic.
Leval steckte die Hand in die Tasche. »Finden Sie nicht, daß Sie ziemlich frech sind?« fragte er plötzlich mit der Ruhe eines Mannes, der es sich leisten kann, sich zu beherrschen, weil der andere völlig auf ihn angewiesen ist.
»Frech?« Ravic blickte ihn erstaunt an. »Frech nennen Sie das? Wir sind hier doch weder in der Schule noch im Stift für reuige Verbrecher! Ich handle in Notwehr — und Sie möchten, daß ich mich wie ein Gauner fühle, der um ein mildes Urteil bittet? Nur, weil ich kein Nazi bin und deshalb keine Papiere habe? Daß wir uns noch immer nicht für Verbrecher halten, obschon wir Gefängnisse, Polizei, Demütigungen jeder Art kennen, nur weil wir am Leben bleiben wollen — das ist das einzige, was uns noch aufrechterhält, verstehen Sie das nicht? Das ist weiß Gott etwas anderes als Frechheit.«
Leval antwortete nicht darauf. »Haben Sie hier praktiziert?« fragte er.
»Nein.«
Die Narbe muß jetzt kleiner sein, dachte Ravic. Ich habe damals gut genäht. Es war eine mächtige Arbeit mit all dem Fett. Inzwischen hat er sich wieder angefressen. Angefressen und angesoffen.
»Das ist die größte Gefahr«, erklärte Leval. »Ohne Examen, ohne Kontrolle treiben Sie sich hier herum! Wer weiß, wie lange schon! Denken Sie nicht, daß ich Ihnen die drei Wochen glaube. Wer weiß, wo Sie schon überall Ihre Finger drin gehabt haben, in wieviel dunklen Sachen.«
In deinem Balg mit den harten Arterien, der dicken Leber und der gärenden Galle, dachte Ravic. Und wenn ich sie nicht drin gehabt hätte, dann hätte dein Freund Durant dich human und idiotisch getötet und wäre dadurch wieder berühmter als Operateur geworden und hätte seine Preise erhöht.
»Die größte Gefahr«, wiederholte Leval. »Sie dürfen nicht praktizieren. Also nehmen Sie alles, was Ihnen in den Weg kommt, das ist doch klar. Ich habe mit einer unserer Autoritäten darüber gesprochen: er ist vollkommen derselben Meinung. Wenn Sie etwas von ärztlicher Wissenschaft verstehen, sollten Sie seinen Namen kennen...«
Nein, dachte Ravic. Das ist nicht wahr. Er wird jetzt nicht Durant sagen. Das Leben macht solche Witze nicht.
»Professor Durant«, sagte Leval mit Würde. »Er hat es mir erklärt. Heildiener, ausgelernte Studenten, Masseure, Assistenten, das alles gibt sich hier für große Ärzte aus Deutschland aus. Wer kann das kontrollieren? Unerlaubte Eingriffe, Abtreibungen, Zusammenarbeit mit Hebammen, Pfuschereien, weiß der Himmel, was da noch alles vor sich geht! Wir können gar nicht scharf genug sein!«