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»Kakerlaken!« unterbrach die Frau. »Von allen Seiten! Sie kriechen! Kriechen...«

Ravic machte die Spritze. »Hat sie irgendwann schon einmal so etwas gehabt?«

»Nein. Ich verstehe es nicht. Ich weiß nicht, warum sie gerade von...«

Ravic hob die Hand. »Erinnern Sie sie nicht daran. Sie wird in ein paar Minuten müde werden und einschlafen. Es kann sein, daß sie geträumt hat davon — und aufgeschreckt ist. Sie wird vielleicht morgen aufwachen und nichts mehr wissen. Erinnern Sie sie nicht daran. Tun Sie, als sei nichts gewesen.«

»Kakerlaken«, murmelte die Frau schläfrig. »Fette, dicke...«

»Brauchen Sie all das Licht?«

»Wir haben es angezündet, weil sie immerzu nach Licht schrie.«

»Machen Sie das Oberlicht aus. Warten Sie mit dem andern, bis sie fest schläft. Sie wird schlafen. Die Dosis ist groß genug. Ich werde morgen vormittag um elf nachsehen.«

»Danke«, sagte der Mann. »Sie glauben nicht...«

»Nein. So was kommt heutzutage oft vor. Etwas Vorsicht die nächsten Tage, nicht allzuviel Sorgen zeigen...«

Leicht gesagt, dachte er, als er zu seinem Zimmer hinaufstieg. Er drehte das Licht an. Neben seinem Bett standen seine Bücher. Seneca, Schopenhauer, Plato, Rilke, Laotse, Litaipe, Pascal, Heraklit, eine Bibel, andere — das Härteste und das Weichste, viele in den schmalen Dünndruckausgaben für jemand, der unterwegs war und wenig mitführen konnte. Er suchte aus, was er mitnehmen wollte. Dann sah er seine übrigen Sachen durch. Es war nicht viel zu zerreißen. Er hatte immer so gelebt, daß man ihn plötzlich abholen konnte. Seine alte Decke, der Mantel — sie würden ihm helfen, wie Freunde. Das Gift in der ausgehöhlten Medaille, das er schon mit ins deutsche Konzentrationslager genommen hatte — das Bewußtsein, es zu haben und es jeden Augenblick brauchen zu können, hatte ihn es leichter überstehen lassen —; er steckte die Medaille ein. Besser, sie bei sich zu haben. Es gab Beruhigung.

Man wußte nicht, was noch kam. Man konnte von der Gestapo wieder erwischt werden. Auf dem Tisch stand noch eine halbe Flasche Calvados. Er trank ein Glas, Frankreich, dachte er. Fünf Jahre unruhigen Lebens. Drei Monate Gefängnis, illegaler Aufenthalt, viermal ausgewiesen, zurückgekommen. Fünf Jahre Leben. Es war gut gewesen.

33

Das Telefon klingelte. Er hob es schläfrig ab. »Ravic...«, sagte jemand.

»Ja...« Es war Joan.

»Komm«, sagte sie. Sie sprach langsam und leise. »Sofort, Ravic...«

»Nein.«

»Du mußt...«

»Nein. Laß mich in Ruhe. Ich bin nicht allein. Ich komme nicht.«

»Hilf mir...«

»Ich kann dir nicht helfen...«

»Etwas ist passiert...« Die Stimme klang gebrochen. »Du mußt... sofort...«

»Joan«, sagte Ravic ungeduldig. »Es ist keine Zeit für dieses Theater mehr. Du hast das einmal mit mir gemacht, und ich bin darauf ’reingefallen. Ich weiß jetzt Bescheid. Laß mich in Ruhe. Versuch es mit jemand anderem.«

Er legte den Hörer zurück, ohne eine Antwort abzuwarten, und versuchte, wieder einzuschlafen. Es gelang ihm nicht. Das Telefon klingelte wieder. Er nahm es nicht ab. Es klingelte und klingelte durch die graue, verödete Nacht. Er nahm ein Kissen und packte es über den Apparat. Es klingelte erstickt weiter und hörte dann auf.

Ravic wartete. Es blieb still. Er stand auf und griff nach einer Zigarette. Sie schmeckte nicht. Er drückte sie aus. Der Rest des Calvados stand noch auf dem Tisch. Er trank einen Schluck und stellte ihn weg. Kaffee, dachte er. Heißer Kaffee. Und Butter und frische Croissants. Er wußte ein Bistro, das die ganze Nacht offen war.

Er sah auf die Uhr. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen, aber er war nicht mehr müde. Es hatte keinen Zweck, in einen schweren, zweiten Schlaf zu fallen und zerschlagen aufzuwachen. Er ging ins Badezimmer und drehte die Brause an.

Irgendein Geräusch. Wieder das Telefon? Er drehte die Wasserhähne ab. Es klopfte. Jemand klopfte an seine Tür. Ravic nahm seinen Bademantel über. Das Klopfen wurde stärker. Joan konnte es nicht sein; sie wäre hereingekommen. Die Tür war nicht verschlossen. Er wartete einen Moment, bevor er öffnete. Wenn es die Polizei bereits war...

Er öffnete die Tür. Draußen stand ein Mann, den er nicht kannte, der ihn aber an irgend jemand erinnerte. Er trug einen Smoking.

»Doktor Ravic?«

Ravic erwiderte nichts. Er sah den Mann an. »Was wollen Sie?« fragte er.

»Sind Sie Doktor Ravic?«

»Sagen Sie mir besser, was Sie wollen.«

»Wenn Sie Doktor Ravic sind, müssen Sie sofort zu Joan Madou kommen.«

»So?«

»Sie hat einen Unfall gehabt.«

»Was für einen Unfall?« lächelte Ravic ungläubig.

»Mit einer Waffe«, sagte der Mann. »Geschossen...«

»Ist sie getroffen?« fragte Ravic, immer noch lächelnd. Fingierter Selbstmordversuch wahrscheinlich, dachte er, um den armen Teufel hier zu erschrecken.

»Sie stirbt, mein Gott«, flüsterte der Mann. »So kommen Sie doch! Sie stirbt. Ich habe sie erschossen!«

»Was?«

»Ja... ich...«

Ravic hatte bereits den Bademantel abgeworfen und griff nach seinen Sachen. »Haben Sie ein Taxi unten?«

»Ich habe meinen Wagen.«

»Verdammt...« Ravic streifte den Bademantel wieder über, faßte seine Tasche und griff nach seinen Schuhen, seinem Hemd und seinem Anzug. »Ich kann das im Wagen anziehen... los... rasch.«

Der Wagen schoß durch die milchige Nacht. Die Stadt war ganz abgedunkelt. Es gab keine Straßen mehr — nur eine fließende, neblige Weite, in der die blauen Luftschutzlampen zu spät und verloren auftauchten — als fahre der Wagen auf dem Meeresboden.

Ravic zog seine Schuhe und seine Sachen an; er stopfte den Bademantel, in dem er heruntergelaufen war, in die Ecke neben dem Sitz. Er hatte keine Strümpfe und keine Krawatte. Unruhig starrte er in die Nacht. Es hatte keinen Zweck, den Fahrer etwas zu fragen. Er fuhr mit aller Konzentration, sehr schnell und völlig auf die Richtung achtend. Er hatte keine Zeit, etwas zu sagen. Er konnte nur den Wagen herumwerfen, ausweichen, Unfälle vermeiden und sehen, daß er sich in der ungewohnten Dunkelheit nicht verfuhr. Fünfzehn Minuten verloren, dachte Ravic. Mindestens fünfzehn Minuten.

»Fahren Sie schneller...«, sagte er.

»Ich kann nicht — ohne Scheinwerfer — abgeblendet — Luftschutz...«

»Dann fahren Sie mit Scheinwerfer, zum Teufel!« Der Mann drehte die großen Lichter an. Einige Polizisten schrien an den Straßenecken. Ein geblendeter Renault fuhr fast in sie hinein. »Los — weiter! Rascher!«

Der Wagen hielt mit einem Ruck vor dem Haus. Der Aufzug war unten. Die Tür war offen. Irgendwo klingelte jemand wütend. Der Mann hatte wahrscheinlich die Tür nicht zugeworfen, als er herausgerannt war. Gut, dachte Ravic. Spart ein paar Minuten.

Der Fahrkorb kroch nach oben. Das war schon einmal so gewesen! Nichts war passiert damals! Nichts würde auch diesmal... Der Fahrstuhl hielt plötzlich. Jemand schaute durch das Fenster und öffnete die Tür. »Was soll das heißen, den Aufzug so lange untenzuhalten?«

Es war der Mann, der geklingelt hatte. Ravic schob ihn zurück und riß die Tür zu: »Gleich! Wir müssen erst ’rauf!«

Der Mann draußen schimpfte. Der Aufzug kroch weiter. Der Mann vom vierten Stock klingelte wütend weiter. Der Fahrstuhl hielt. Ravic riß die Tür auf, bevor der Mann von unten Unsinn machen und den Fahrstuhl mit ihnen wieder herunterholen konnte.

Joan lag auf dem Bett. Sie war angezogen. Ein Abendkleid, hochgeschlossen bis zum Hals. Silberne, blutige Flekken darauf. Blut auf dem Fußboden. Da war sie gefallen. Der Idiot hatte sie dann aufs Bett gelegt.

»Ruhig!« sagte, Ravic. »Ruhig! Alles kommt in Ordnung. Es ist nicht sehr schlimm.«

Er zerschnitt die Achselbänder des Abendkleides und streifte es vorsichtig herunter. Die Brust war unverletzt. Es war der Hals. Der Kehlkopf konnte nicht getroffen sein; sie hätte sonst nicht telefonieren können. Die Arterie war unverletzt. »Schmerzen?« fragte er.

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