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Hinter Caën kamen die Pferde. Lange Kolonnen in der Nacht, Pferde, Pferde, schattenhaft im Mondlicht. Und dann Viererkolonnen, Männer mit Bündeln, Pappkartons, Paketen. Der Beginn der Mobilisation.

Sie waren fast geräuschlos. Niemand sang. Kaum jemand sprach. Sie zogen schweigend durch die Nacht, Kolonnen von Schatten, an der rechten Seite der Straße, um Raum zu lassen für die Wagen.

Ravic passierte eine nach der andern. Pferde, dachte er. Pferde. Wie 1914. Keine Tanks. Pferde.

Er hielt an einer Benzinstation und ließ den Wagen nachfüllen. Der kleine Ort hatte noch Licht in den Fenstern, aber er war fast verstummt. Eine Kolonne zog hindurch. Die Leute starrten ihr nach. Sie winkten nicht.

»Ich gehe morgen«, sagte der Mann an der Tankstelle. Er hatte ein klares, bäuerliches, braunes Gesicht. »Mein Vater fiel im letzten Krieg. Mein Großvater 1871. Ich gehe morgen. Es ist immer dasselbe. Seit ein paar hundert Jahren machen wir das nun schon. Und es nützt nichts, wir müssen wieder gehen.«

Er umfaßte mit einem Blick die schäbige Pumpe, das kleine Haus und die Frau, die schweigend neben ihm stand. »Achtundzwanzig Frank dreißig, mein Herr.«

Die Landschaft wieder. Der Mond. Lieux. Evreux. Kolonnen. Pferde. Schweigen. Ravic hielt vor einem kleinen Restaurant. Draußen standen zwei Tische. Die Wirtin erklärte, sie habe nichts mehr zu essen da. Ein Abendessen war ein Abendessen, immer noch, trotz allem; und in Frankreich war ein Omelette mit Käse kein Abendessen. Schließlich ließ er sich doch überzeugen und hatte auch noch einen Salat dazu und Kaffee und eine Karaffe Vin ordinaire.

Ravic saß allein vor dem rosa Haus und aß. Über den Wiesen zog der Nebel. Ein paar Frösche quakten. Es war sehr still, nur aus dem oberen Stockwerk des Hauses klang ein Lautsprecher. Eine Stimme, beruhigend, zuversichtlich, hoffnungslos und gänzlich überflüssig. Jeder lauschte und niemand glaubte ihr.

Er zahlte. »Paris wird verdunkelt«, sagte die Wirtin. »Es war gerade im Radio.«

»Ja. Gegen Flugzeugangriffe. Zur Vorsicht. Im Radio sagen sie, alles sei nur zur Vorsicht. Es gäbe keinen Krieg. Man sei am Verhandeln. Was denken Sie?«

»Ich glaube nicht, daß es Krieg gibt.« Ravic wußte nicht, was er sonst antworten sollte.

»Gott gebe es. Aber was nützt es schon? Die Deutschen werden Polen nehmen. Dann werden sie Elsaß-Lothringen verlangen. Dann Kolonien. Dann etwas anderes. Immer mehr, bis wir uns ergeben oder Krieg machen müssen. Da ist es wohl schon besser, gleich.«

Die Wirtin ging langsam ins Haus zurück. Eine neue Kolonne kam die Straße hinunter.

Der rote Schein von Paris am Horizont. Verdunkelt — Paris würde verdunkelt werden. Es war natürlich, aber es klang sonderbar: Paris verdunkelt. Paris. Als würde das Licht der Welt verdunkelt.

Die Vorstadt. Die Seine. Das Gebrodel der kleinen Straßen. Schwingend die Avenue, die gerade auf den Arc de Triomphe zuführt, der bleich und noch bestrahlt im nebligen Licht des Etoiles sich hob, und hinter ihm, immer noch schimmernd in vollem Glanz, die Champs-Elysées.

Ravic atmete auf. Er fuhr hindurch. Er fuhr durch die Stadt, und dann sah er es plötzlich: Die Dunkelheit hatte schon angefangen, sich auf sie zu senken. Wie räudige Stellen in einem glänzenden Fell sprangen hier und da Flecken kranker Finsternis hervor. Das bunte Spiel der Lichtreklamen war an einigen Stellen zerfressen von langen Schatten, die drohend zwischen den wenigen ängstlichen Rot und Weiß und Blau und Grün hockten. Einzelne Straßen lagen schon blind da, als wären schwarze Würmer durchgekrochen und hätten allen Glanz zerdrückt. Die Avenue George V. hatte kein Licht mehr; in der Avenue Montaigne starb es gerade; Gebäude, die nachts Kaskaden von Licht gegen die Sterne geworfen hatten, starrten jetzt mit kahlen, grauen Fronten. Die eine Hälfte der Avenue Victor Emanuel III. war erloschen; die andere stand noch hell da — wie ein paralysierter Körper in Agonie, halb schon tot, halb noch voll Leben. Die Krankheit sickerte überall durch, und als Ravic zum Place de la Concorde zurückkam, war auch dessen weites Rund inzwischen gestorben.

Die Ministerien lagen blaß und farblos, die Lichtketten waren verschwunden, die tanzenden Tritonen und Nereiden der weißen Schaumnächte waren auf ihren Delphinen erstarrt zu grauen, formlosen Klumpen; die Springbrunnen waren verödet, die fließenden Wasser verfinstert, und bleiern ragte der einst leuchtende Obelisk wie ein drohender, mächtiger Finger der Ewigkeit in den sich verdunkelnden Himmel, und überall krochen wie Mikroben die kleinen, fahlblauen, kaum sichtbaren elektrischen Bahnen des Luft schutzdienstes hervor und verbreiteten sich, faulig schimmernd, wie eine kosmische Tuberkulose über die lautlos niederbrechende Stadt.

Ravic lieferte den Wagen ab. Er nahm ein Taxi und fuhr zum »International«. Vor der Tür stand der Sohn der Wirtin auf einer Leiter. Er schraubte eine blaue Birne ein. Die Beleuchtung des Einganges war immer so stark gewesen, um gerade das Schild zu erkennen; jetzt aber reichte das bißchen blauer Schein nicht mehr aus; es verfehlte die erste Hälfte — blaß konnte man nur noch das Wort »national« erkennen, und das auch nur mit Mühe.

»Gut, daß Sie kommen«, sagte die Wirtin. »Da ist eine verrückt geworden. In Nummer sieben. Am besten, sie kommt aus dem Haus. Ich kann keine Verrückten im Hotel haben.«

»Vielleicht ist sie nicht verrückt, hat nur einen Nervenkollaps.«

»Ganz egal! Verrückte gehören in ein Asyl. Ich habe es ihnen schon gesagt. Sie wollen natürlich nicht. Was man für Scherereien hat! Wenn sie nicht ruhig wird, muß sie heraus. Es geht nicht. Die anderen Gäste müssen schlafen.«

»Kürzlich ist jemand im Ritz verrückt geworden«, sagte Ravic. »Ein Prinz. Alle Amerikaner wollten später eine Suite haben.«

»Das ist etwas anderes. Das ist verrückt aus follie. Das ist elegant. Nicht verrückt aus Not.«

Ravic sah sie an. »Sie verstehen das Leben, Madame.«

»Das muß ich. Ich bin ein guter Mensch. Ich habe die Refugiés aufgenommen. Alle. Gut. Ich habe daran verdient. Mäßig. Aber eine Verrückte, die schreit, das ist zuviel. Sie muß ’raus, wenn sie nicht ruhig wird.«

Es war die Frau, deren Junge gefragt hatte, weshalb er Jude sei. Sie saß auf dem Bett, ganz in die Ecke gedrückt, die Hände vor den Augen. Das Zimmer war hell erleuchtet. Alle Birnen brannten, und auf dem Tisch standen noch zwei Leuchter mit Kerzen.

»Kakerlaken«, murmelte die Frau. »Kakerlaken! Schwarze, dicke, glänzende Kakerlaken! Da in den Ecken, da sitzen sie, Tausende, Unzählige, macht Licht, macht Licht, Licht, sonst kommen sie, Licht, Licht, sie kommen, sie kommen...«

Sie schrie und preßte sich in die Ecke, die Beine hoch angezogen, die Hände von sich gespreizt, die Augen glasig und aufgerissen. Der Mann versuchte ihre Hände zu greifen. »Da ist doch nichts, Mamme, nichts in den Ecken...«

»Licht! Licht! Sie kommen! Kakerlaken...«

»Wir haben Licht, Mamme. Da ist doch Licht, sieh nur, sogar Kerzen auf dem Tisch!« Er holte eine Taschenlampe hervor und leuchtete damit in die hellen Ecken des hellen Zimmers. »Nichts ist in den Ecken, da sieh, wie ich leuchte, nichts ist da, nichts .,.«

»Kakerlaken! Kakerlaken! Sie kommen, alles ist schwarz von Kakerlaken! Aus allen Ecken kriechen sie! Licht! Licht! Die Wände hinauf kriechen sie, sie fallen schon von der Decke!«

Die Frau röchelte und hob die Arme über den Kopf. »Wie lange geht das schon?« fragte Ravic den Mann.

»Seit es dunkel ist. Ich war weg.Versuchte noch einmal, man hatte mir gesagt, beim Konsul von Haiti, ich nahm den Jungen mit, es war nichts, wieder nichts, und als wir zurückkamen, saß sie da in der Ecke auf dem Bett und schrie...«

Ravic hatte die Spritze fertig. »Hatte sie vorher geschlafen?«

Der Mann sah ihn hilflos an. »Ich weiß nicht. Sie war immer ruhig. Wir haben kein Geld für eine Anstalt. Wir haben auch keine... unsere Papiere sind nicht genug. Wenn sie nur aufhören wollte. Mamme, es ist doch alles da, ich bin da, Siegfried ist da, der Doktor ist da, keine Kakerlaken sind da...«

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