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»Alles«, sagte Ravic, ohne zu lächeln. »Auch die Industrie und die Politiker, die jetzt schon Geschäfte mit Deutschland machen.«

Veber bezwang sich. »Ravic — wir — wollen wir lieber von etwas anderem reden?«

»Gut. Ich bringe Kate Hegström nach Cherbourg. Ich bin um Mitternacht zurück.«

»Schön.« Veber atmete heftig. »Was... was haben Sie vorbereitet für sich, Ravic?«

»Nichts. Ich werde in ein französisches Konzentrationslager kommen. Es wird besser sein als ein deutsches.«

»Ausgeschlossen. Frankreich wird keine Refugiés einsperren.«

»Warten wir ab. Es ist selbstverständlich, und man kann nichts dagegen sagen.«

»Ravic...«

»Schön. Warten wir ab. Hoffen wir, Sie haben recht. Wissen Sie, daß der Louvre geräumt wird? Man schickt die besten Bilder nach Mittelfrankreich «

»Nein. Woher wissen Sie das?«

»Ich war heute nachmittag da. Die blauen Fenster der Kathedrale von Chartres sind ebenfalls schon verpackt. Ich war gestern da. Sentimentale Reise. Wollte sie noch einmal sehen. Sie waren schon fort. Ein Flugplatz ist zu nahe dabei. Neue Fenster waren schon drin. So, wie im vorigen Jahr zur Zeit der Münchner Konferenz.«

»Sehen Sie!« Veber klammerte sich sofort daran. »Damals ist auch nichts geschehen. Große Aufregung, und dann kam Chamberlain mit dem Regenschirm des Friedens.«

»Ja. Der Regenschirm des Friedens ist noch in London — und die Göttin des Sieges steht noch im Louvre — ohne Kopf. Sie bleibt. Zu schwer zu transportieren. Ich muß gehen. Kate Hegström wartet.«

Die »Normandie« lag weiß mit tausend Lichtern in der Nacht am Kai. Der Wind kam kühl und salzig vom Wasser her. Kate Hegström zog ihren Mantel fester um sich. Sie war sehr dünn. Ihr Gesicht hatte fast nur noch Knochen, über die sich die Haut spannte, und darüber lagen, erschreckend groß, die Augen wie dunkle Teiche.

»Ich bliebe lieber hier«, sagte sie. »Es ist plötzlich so schwer, wegzugehen.«

Ravic starrte sie an. Da lag das mächtige Schiff, die Gangway hell erleuchtet, Menschen strömten hinein, viele davon so eilig, als fürchteten sie, im letzten Moment noch zu spät zu kommen; da lag der schimmernde Palast, und er hieß nicht mehr »Normandie«, er hieß Entkommen, Flucht, Rettung; er war in tausend Städten und Zimmern und dreckigen Hotels und Kellern Europas für Zehntausende von Menschen eine unerreichbare Fata Morgana des Lebens, und hier sagte jemand neben ihm, dem der Tod die Eingeweide zerfraß, mit dünner und lieblicher Stimme: »Ich bliebe lieber hier.«

Es hatte alles keinen Sinn. Für die Emigranten im »International«, für die tausend »Internationais« in Europa, für all die Gehetzten, Gefolterten, Fliehenden, Gestellten, wäre dieses das gelobte Land gewesen; sie wären zusammengebrochen, hätten geschluchzt und die Gangway geküßt und an Wunder geglaubt, wenn sie den Fahrscheinzettel gehabt hätten, der in der müden Hand neben ihm flatterte, das Fahrscheinheft eines Menschen, der ohnehin in den Tod fuhr und der gleichzeitig sagte: »Ich bliebe lieber hier.«

Eine Gruppe Amerikaner kam heran. Langsam, herzlich, laut. Sie hatten alle Zeit der Welt. Die Gesandtschaft hatte sie gedrängt, zu fahren. Sie diskutierten es. Schade eigentlich! Es wäre »fun« gewesen, sich die Sache weiter anzusehen. Was konnte ihnen schon passieren? Der Gesandte! Man war neutral! Schade eigentlich!

Der Geruch von Parfüm. Schmuck. Das Gesprüh von Diamanten. Vor ein paar Stunden hatte man im »Maxime« gegessen, lächerlich billig in Dollars, mit einem Corton 29 dazu und einem Pol Roger 28 als Abschluß; jetzt das Schiff, man würde an der Bar sitzen, Backgammon spielen, ein paar Whiskys trinken — und vor den Konsulaten die langen, hoffnungslosen Menschenreihen, der Geruch der Todesangst wie eine Wolke darüber, ein paar überarbeitete Angestellte, das Standgericht eines kleinen Sekretärs, der immer wieder den Kopf schüttelte — »Nein, kein Visa, nein, unmöglich«, die schweigende Verurteilung schweigender Schuldloser — Ravic starrte auf das Schiff, das kein Schiff mehr war, eine leichte Arche, die sich anschickte, vor der Sintflut davonzugleiten, der Sintflut, der man einmal entkommen war und die sich jetzt anschickte, einen einzuholen.

»Es wird Zeit für Sie, Kate.«

»Wird es? Adieu, Ravic.«

»Adieu, Kate.«

»Wir brauchen uns nichts vorzulügen, wie?«

»Nein.«

»Kommen Sie bald nach...«

»Sicher, Kate. Bald...«

»Adieu, Ravic. Danke für alles. Ich werde jetzt gehen.

Ich werde da hinaufgehen und winken. Bleiben Sie hier, bis das Schiff fährt, und winken Sie mir.«

»Gut, Kate.«

Sie ging langsam die Gangway hinauf. Ihre Gestalt schwankte ganz wenig. Ihre Gestalt, schmaler als alle neben ihr, rein in der Struktur, fast ohne Fleisch, hatte die schwarze Eleganz sicheren Todes. Ihr Gesicht war kühn, wie der Kopf einer ägyptischen Bronzekatze — nur noch Linie, Atem und Augen.

Die letzten Fahrgäste. Ein Jude, schweißüberströmt, einen Pelzmantel über dem Arm, fast hysterisch, mit zwei Gepäckträgern, schreiend, laufend. Die letzten Amerikaner. Dann die Gangway, die langsam eingezogen wurde. Ein sonderbares Gefühl. Eingezogen, unwiderruflich. Das Ende. Ein schmaler Streifen Wasser. Die Grenze. Zwei Meter Wasser nur — aber die Grenze zwischen Europa und Amerika. Zwischen Rettung und Untergang.

Ravic suchte nach Kate Hegström. Er fand sie bald. Sie stand an der Reling und winkte. Er winkte zurück.

Das Schiff schien sich zu bewegen. Das Land schien sich zurückzuziehen. Wenig. Kaum merkbar. Und plötzlich war das weiße Schiff frei. Es schwebte auf dem dunklen Wasser, vor dem dunklen Himmel, unerreichbar. Kate Hegström war nicht mehr zu erkennen, und die Zurückbleibenden sahen sich schweigend und verlegen oder mit falscher Fröhlichkeit an und gingen eilig oder zögernd fort.

Der Wagen fuhr durch den Abend zurück nach Paris. Die Hecken und Obstbaumgärten der Normandie flogen vorüber. Der Mond hing oval und groß am nebligen Himmel. Das Schiff war vergessen. Nur noch die Landschaft, der Geruch nach Heu und reifen Äpfeln, die Stille und die tiefe Ruhe des Unabänderlichen.

Der Wagen fuhr fast lautlos. Er fuhr, als hätte die Schwerkraft keine Macht über ihn. Häuser glitten vorüber, Kirchen, Dörfer, die goldenen Flecken der Estaminets und Bistros, ein blinkender Flußlauf, eine Mühle, und dann wieder die falsche Kontur der Ebene, über die der Himmel sich wölbte wie die Innenseite einer riesenhaften Muschel, in deren milchigem Perlmutter die Perle des Mondes schimmerte.

Es war ein Ende und eine Erfüllung. Ravic hatte es schon einige Male vorher empfunden; aber jetzt kam es ganz, sehr stark und unentrinnbar, es durchdrang ihn, und nichts widerstrebte mehr.

Alles war schwebend und ohne Gewicht. Zukunft und Vergangenheit begegneten sich, und beide waren ohne Wünsche und Schmerzen. Nichts war wichtiger und stärker als das andere. Die Horizonte waren im Gleichgewicht, und für einen sonderbaren Augenblick waren die Schalen des Daseins gleich. Das Schicksal war nie stärker als der gelassene Mut, den man ihm entgegensetzte. Wenn es unerträglich werden würde, konnte man sich töten. Es war gut, das zu wissen, aber es war auch gut zu wissen, daß nie etwas verloren war, solange man noch lebte.

Ravic kannte die Gefahr. Er wußte, wohin er ging, und er wußte auch, daß er sich morgen wieder wehren würde — aber in dieser Nacht, in dieser Stunde der Rückkehr von der Küste eines verlorenen Ararats in den Blutgeruch der kommenden Zerstörung war plötzlich alles ohne Namen; Gefahr war Gefahr und doch nicht Gefahr; Schicksal war Opfer und Gottheit, der man opferte, zugleich. Und das Morgen war eine unbekannte Welt.

Es war alles gut. Das, was gewesen war, und das, was kam. Es war genug. Wenn es das Ende sein würde, so war es gut. Er hatte einen Menschen geliebt und ihn verloren. Er hatte einen andern gehaßt und ihn getötet. Beide hatten ihn befreit. Der eine hatte sein Gefühl wieder aufbrechen lassen, der andere seine Vergangenheit ausgelöscht. Es war nichts zurückgeblieben, was unerfüllt war. Es war kein Wunsch mehr da; kein Haß und keine Klage. Wenn es ein neues Beginnen war, so war es das. Ohne Erwartung, die gestärkt und nicht zerrissen war, würde man anfangen. Die Aschen waren ausgeräumt, paralysierte Stellen lebten wieder, aus Zynismus war Stärke geworden. Es war gut.

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