»Auf Wiedersehen dann«, sagte Leonie Wagner nervös. Es war alles eingeladen. »Oder good bye.« Sie lachte irritiert. »Oder adieu. Man weiß ja heute nicht mehr.«
Sie begann ein paar Hände zu schütteln. »Verwandte drüben«, sagte sie. »Verwandte. Wir selber hätten natürlich nie...«
Sie hörte bald auf. Der Doktor Ernst Seidenbaum klopfte ihr auf die Schulter. »Macht nichts. Manche haben Glück, manche nicht.«
»Die meisten nicht«, sagte der Emigrant Wiesenhoff. »Macht nichts. Gute Reise.«
Josef Stern verabschiedete sich von Ravic und Morosow und einigen anderen. Er lächelte wie jemand, der einen Bankbetrug begangen hatte. »Wer weiß, wie es noch wird. Vielleicht sehnen wir uns noch nach dem international zurück.«
Selma Stern saß bereits im Wagen. Der Junggeselle Stolz verabschiedete sich nicht. Er fuhr nicht nach Amerika. Er hatte nur Papiere bis Portugal. Er hielt das für zu unbedeutend für eine Abschiedsszene. Er winkte nur kurz, als der Wagen losratterte.
Die Zurückbleibenden standen wie eine Schar verregneter Hühner herum. »Komm«, sagte Morosow zu Ravic. »Auf, in die Katakomben! Dies schreit nach Calvados!«
Sie saßen kaum, als die anderen hereinkamen. Sie trieben herein wie losgerissene Blätter vor einem Wind. Zwei Rabbis, bleich, mit schütteren Bärten, Wiesenhoff, Ruth Goldberg, der Schachautomat Finkenstein, der Fatalist Seidenbaum, eine Anzahl Ehepaare, ein halbes Dutzend Kinder, Rosenfeld, der Besitzer der Impressionisten, der doch nicht weggekommen war, ein paar Halbwüchsige und einige sehr alte Leute.
Es war noch zu früh für das Abendessen; aber es schien, daß keiner von allen in die Einsamkeit des Zimmers hinauf wollte. Sie hockten zusammen. Sie waren leise, fast ergeben. Sie hatten so viel Unglück gehabt; es kam schon fast nicht mehr darauf an.
»Die Aristokratie ist abgereist«, sagte Seidenbaum. »Hier tagt jetzt die Versammlung der lebenslänglich oder zum Tode Verurteilten. Das auserwählte Volk! Jehovas Lieblinge! Speziell für Pogrome. Es lebe das Leben.«
»Da ist immer noch Spanien«, sagte Finkenstein. Er hatte das Schachbrett vor sich und die Schachaufgabe des »Matin«.
»Spanien. Die Faschisten küssen die Juden, wenn sie herüberkommen.«
Die dicke, elastische Kellnerin brachte den Calvados. Seidenbaum setzte sein Pincenez auf. »Nicht einmal das können die meisten von uns«, erklärte er, »sich gründlich betrinken. Eine Nacht des Elends los sein. Nicht einmal das. Die Nachkommen Ahasvers. Selbst er, der alte Wanderer, würde verzweifeln; heute, ohne Papiere, käme er nicht weit.«
»Trinken Sie einen mit«, sagte Morosow. »Der Calvados ist gut. Die Wirtin weiß es noch nicht, gottlob. Sonst würde sie den Preis erhöhen.«
Seidenbaum schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht.«
Ravic sah auf einen Mann, der ziemlich unrasiert war und alle Augenblicke einen Spiegel hervorholte, sich darin betrachtete und nach einer Weile von neuem damit begann. »Wer ist das?« fragte er Seidenbaum. »Den habe ich noch nie hier gesehen.«
Seidenbaum verzog die Lippen. »Das ist der neue Aaron Goldberg.«
»Wieso? Hat die Frau so rasch wieder geheiratet?«
»Nein. Sie hat ihm den Paß des toten Goldberg verkauft. Zweitausend Frank. Der alte Goldberg hatte einen grauen Bart; deshalb läßt sich der neue drüben auch einen wachsen. Wegen der Paßfotografie. Sehen Sie nur, wie er zupft und zupft. Er traut sich nicht, den Paß zu benutzen, bevor er einen ähnlichen Bart hat. Es ist ein Rennen gegen die Zeit.«
Ravic betrachtete den Mann, der nervös an seinen Stoppeln zerrte und sie mit dem Paß verglich. »Er kann immer noch sagen, der Bart wäre ihm abgebrannt.«
»Gute Idee. Ich werde ihm das erklären.« Seidenbaum nahm sein Pincenez ab und schaukelte es hin und her. »Makabre Sache«, lächelte er. »Es war ein reines Geschäft vor zwei Wochen. Jetzt ist Wiesenhoff bereits eifersüchtig, und Ruth Goldberg ist konfus. Dämonie des Papiers. Auf dem Papier ist er ihr Mann.«
Er stand auf und ging zu dem neuen Aaron Goldberg hinüber.
»Dämonie des Papiers gefällt mir.« Morosow wandte sich an Ravic. »Was machst du heute?«
»Kate Hegström fährt abends mit der ›Normandie‹. Ich werde sie nach Cherbourg bringen. Sie hat ihren Wagen. Ich nehme ihn zurück und bringe ihn zur Garage. Sie hat ihn dem Garagenbesitzer verkauft.«
»Kann sie reisen?«
»Natürlich. Es ist ganz gleich, was sie macht. Das Schiff hat einen guten Arzt. In New York...« Er zuckte die Achseln und trank sein Glas aus.
Die Luft in den Katakomben war schwül und tot. Der Raum hatte keine Fenster. Unter der verstaubten, künstlichen Palme saß ein altes Ehepaar. Sie waren völlig versunken in eine Traurigkeit, die sie wie eine Mauer umstand. Sie saßen regungslos, Hand in Hand, und es schien, als könnten sie sich nicht mehr erheben.
Ravic hatte plötzlich das Gefühl, aller Jammer der Welt sei eingesperrt in diesen unterirdischen Raum, dem das Licht fehlte. Die kranken, elektrischen Birnen hingen gelb und verwelkt an den Wänden und machten es noch trostloser. Das Schweigen, das Flüstern, das Kramen in den hundertmal umgewendeten Papieren, das Überzählen, das stumme Dasitzen, die hilflose Erwartung des Endes, das krampfhafte bißchen Courage, das tausendmal gedemütigte Leben, das nun, in die Ecke gedrängt, entsetzt, nicht mehr weiter konnte — er spürte es auf einmal, er konnte es riechen, er roch die Angst, die letzte, riesenhafte, schweigende Angst, er roch sie, und er wußte, wo er sie vorher gerochen hatte — im Konzentrationslager, als man die Leute von den Straßen, aus den Betten hineingetrieben hatte und sie in den Baracken standen und darauf warteten, was mit ihnen geschehen würde.
Am Tisch neben ihm saßen zwei Leute. Eine Frau, die das Haar in der Mitte gescheitelt hatte, und ihr Mann. Vor ihnen stand ein Junge von ungefähr acht Jahren. Er hatte herumgehorcht an den Tischen und war jetzt herübergekommen. »Warum sind wir Juden?« fragte er die Frau.
Die Frau antwortete nicht.
Ravic sah Morosow an.
»Ich muß los«, sagte er. »Zur Klinik.«
»Ich muß auch weg.«
Sie gingen die Treppe hinauf. »Zuviel ist zuviel«, sagte Morosow. »Das sage ich dir als ehemaliger Antisemit.«
Die Klinik war eine optimistische Angelegenheit nach den Katakomben. Auch hier war Qual, Krankheit und Elend — aber hier hatte es wenigstens eine Art von Logik und Sinn. Man wußte, weshalb es so war und was zu tun und nicht zu tun war. Es waren Fakten; man konnte sie sehen, und man konnte versuchen, etwas dagegen zu tun.
Veber saß in seinem Untersuchungszimmer und las eine Zeitung. Ravic sah ihm über die Schulter. »Allerhand, was?« fragte er.
Veber warf die Zeitung auf den Boden. »Diese korrupte Bande! Aufhängen sollte man fünfzig Prozent unserer Politiker.«
»Neunzig«, erklärte Ravic. »Haben Sie noch etwas von der Frau gehört, die bei Durant in der Klinik liegt?«
»Sie ist in Ordnung.« Veber griff nervös nach einer Zigarre. »Für Sie ist das einfach, Ravic. Aber ich bin Franzose.«
»Ich bin gar nichts. Aber ich wollte, Deutschland wäre nur so korrupt wie Frankreich.«
Veber sah auf. »Ich rede Unsinn. Entschuldigen Sie.« Er vergaß, die Zigarre anzuzünden. »Es kann keinen Krieg geben, Ravic! Es kann einfach nicht! Es ist Gebell und Gedrohe. Im letzten Augenblick wird noch etwas geschehen!«
Er schwieg eine Zeitlang. All seine frühere Sicherheit war vorbei. »Wir haben schließlich noch die Maginotlinie«, sagte er dann, beinahe beschwörend.
»Natürlich«, erwiderte Ravic ohne Überzeugung. Er hatte das tausendmal gehört. Unterhaltungen mit Franzosen endeten meistens damit.
Veber wischte sich die Stirn. »Durant hat sein Vermögen nach Amerika geschickt. Seine Sekretärin hat es mir gesagt.«
»Typisch.«
Veber sah Ravic mit gehetzten Augen an. »Er ist nicht der einzige. Mein Schwager hat seine französischen Papiere gegen amerikanische eingewechselt. Gaston Nerée hat sein Geld in Dollarnoten in einem Safe. Und Dupont soll ein paar Säcke Gold vergraben haben in seinem Garten.« Er stand auf. »Ich kann nicht darüber reden. Ich weigere mich. Es ist unmöglich. Es ist unmöglich, daß man Frankreich verraten und verschachern kann. Wenn Gefahr droht, wird sich alles zusammenfinden. Alles.«