Литмир - Электронная Библиотека
Содержание  
A
A

»Ja. Wenn Sie Zeit haben.«

Warum sollte ich keine Zeit haben, dachte er. Dann fiel ihm ein, daß sie ihn das letztemal mit Kate Hegström gesehen hatte. Er blickte auf.

Ihr Gesicht verriet nichts.

»Ich habe Zeit«, sagte er. »Ich muß morgen um neun operieren, das ist alles.«

»Können Sie das, wenn Sie so spät aufbleiben?«

»Ja. Das hat nichts damit zu tun. Es ist Gewohnheit. Ich operiere auch nicht jeden Tag.«

Der Kellner füllte die Gläser nach. Er brachte mit der Flasche eine Schachtel Zigaretten und legte sie auf den Tisch. Es war ein Paket Laurens grün. »Die hatten Sie doch damals auch, wie?« fragte er Ravic triumphierend.

»Keine Ahnung. Sie wissen mehr als ich. Aber ich glaube Ihnen ohne weiteres.«

»Es stimmt«, sagte Joan Madou.

»Es waren Laurens grün.«

»Sehen Sie! Die Dame hat ein besseres Gedächtnis als Sie, mein Herr.«

»Das weiß man noch nicht. Auf jeden Fall können wir die Zigaretten brauchen.«

Ravic öffnete das Paket und hielt es ihr hinüber. »Wohnen Sie noch in demselben Hotel?« fragte er.

»Ja. Ich habe nur ein größeres Zimmer genommen.«

Eine Gruppe von Chauffeuren kam herein. Sie setzten sich an den Nebentisch und begannen ein lautes Gespräch.

»Wollen wir gehen?« fragte Ravic. Sie nickte.

Er winkte dem Kellner und zahlte. »Müssen Sie nicht doch noch zurück zur Scheherazade?«

»Nein.«

Er nahm ihren Mantel. Sie zog ihn nicht an. Sie hängte ihn nur über ihre Schultern. Es war ein billiger Nerz und möglicherweise eine Imitation — aber er sah an ihr nicht billig aus. Billig war nur, was man nicht selbstverständlich trug, dachte Ravic. Er hatte schon billige Kronenzobel gesehen.

»Dann werden wir Sie jetzt zu Ihrem Hotel bringen«, sagte er, als sie draußen vor dem Eingang in dem leise sprühenden Regen standen.

Sie wandte sich langsam zu ihm. »Gehen wir nicht zu dir?«

Ihr Gesicht war dicht unter seinem, schräg aufwärts zu ihm gerichtet. Das Licht von der Laterne vor der Tür lag voll darauf. Die feinen Sprühperlen der Feuchtigkeit glitzerten in ihrem Haar.

»Ja«, sagte er.

Ein Taxi kam heran und hielt. Der Chauffeur wartete eine Weile. Dann gab er einen schnalzenden Laut von sich, schaltete knarrend und fuhr weiter.

»Ich habe auf dich gewartet. Wußtest du das?« fragte sie. — »Nein.«

Ihre Augen glänzten im Widerschein der Laterne. Man konnte hindurchsehen, und sie schienen nirgendwo aufzuhören. »Ich habe dich heute erst gesehen«, sagte er. »Das früher warst du nicht.«

»Nein.«

»Das früher war alles nicht.«

»Nein. Ich habe es vergessen.«

Er fühlte die leichte Ebbe und Flut ihres Atems. Unsichtbar bebte es ihm entgegen, sanft, ohne Schwere, bereit und voll Vertrauen — ein fremdes Dasein in der fremden Nacht. Er spürte plötzlich sein Blut. Es kam und kam und war mehr als das: Leben, tausendmal verflucht und gegrüßt, oft verloren und wiedergewonnen — vor einer Stunde noch eine dürre Landschaft, kahl, voll Gestern und ohne Trost — und jetzt wieder strömend und nahe dem rätselhaften Augenblick, an den er nie mehr geglaubt hatte; man war wieder der erste Mensch am Rande des Meeres, und aus den Fluten stieg es auf, weiß und leuchtend, Frage und Antwort in einem, es kam und kam, und der Sturm über den Augen begann...

»Halte mich«, sagte Joan. Er sah in ihr Gesicht hinunter und legte den Arm um sie. Ihre Schultern kamen ihm entgegen wie ein Schiff, das sich in einen Hafen legen will.

»Muß man dich halten?« fragte er.

»Ja.«

Ihre Hände lagen dicht zusammen an seiner Brust. »Ich werde dich schon halten.«

»Ja.«

Ein zweites Taxi bremste quietschend an der Bordkante. Der Chauffeur schaute ungerührt zu ihnen hinüber. Auf seiner Schulter saß ein kleiner Hund, der eine Strickweste trug. »Taxi?« krächzte der Mann unter einem langen, flächsernen Schnurrbart hervor.

»Sieh«, sagte Ravic. »Der dort weiß von nichts. Er weiß nicht, daß uns etwas angerührt hat. Er sieht uns, und er sieht nicht, daß wir uns verändert haben. Das ist das Verrückte in der Welt: Du kannst dich in einen Erzengel, einen Narren oder einen Verbrecher verwandeln, niemand sieht es. Aber wenn dir ein Knopf fehlt — das sieht jeder.«

»Es ist nicht verrückt. Es ist gut. Es läßt uns bei uns.«

Ravic sah sie an. Uns — dachte er. Welch ein Wort! Das geheimnisvollste Wort der Welt.

»Taxi?« krächzte der Chauffeur ungeduldig, aber lauter, und zündete sich eine Zigarette an.

»Komm«, sagte Ravic. »Den dort werden wir nicht los. Er hat Berufserfahrung.«

»Wir wollen nicht fahren. Laß uns gehen.«

»Es fängt an zu regnen.«

»Das ist kein Regen. Das ist Nebel. Ich will kein Taxi. Ich will mit dir gehen.«

»Gut. Aber dann will ich dem da drüben wenigstens klarmachen, daß inzwischen hier etwas geschehen ist.«

Ravic ging hinüber und sprach mit dem Chauff eur. Der Mann lächelte ein wunderschönes Lächeln, grüßte mit einer Geste, wie sie nur Franzosen in solchen Augenblicken haben, zu Joan hin und fuhr ab.

»Wie hast du es ihm klargemacht«, fragte sie, als Ravic zurückkam.

»Durch Geld. Es ist das einfachste. Nachtarbeiter und Zyniker. Er verstand sofort. War wohlwollend mit einer Spur liebenswürdiger Verachtung.«

Sie lächelte und lehnte sich an ihn. Er spürte, wie etwas in ihm sich öffnete und ausbreitete, warm und weich und weit, etwas, das ihn niederzog wie mit vielen Händen, und es war plötzlich unerträglich, daß sie nebeneinander standen, auf Füßen, schmalen Plattformen, lächerlich aufgerichtet, balancierend; anstatt es zu vergessen und niederzusinken, dem Schluchzen der Haut nachzugeben, dem Ruf hinter den Jahrtausenden, als es das alles noch nicht gab, Gehirn und Fragen und Qual und Zweifel — nur das dunkle Glück des Blutes...

»Komm«, sagte er.

Sie gingen durch den feinen Regen die leere, graue Straße entlang, und plötzlich, als sie an das Ende kamen, lag der Platz wieder mächtig und ohne Grenzen vor ihnen, und schwebend, hoch, hob sich das schwere Grau des Arc aus dem fließenden Silber.

9

Ravic ging zum Hotel zurück. Joan Madou hatte morgens noch geschlafen, als er weggegangen war. Er hatte geglaubt, in einer Stunde zurück zu sein. Jetzt war es drei Stunden später.

»Hallo, Doktor«, sagte jemand, der ihm auf der Treppe zum zweiten Stock begegnete.

Ravic sah den Mann an. Ein blasses Gesicht, ein Busch wilder, schwarzer Haare, eine Brille. Er kannte ihn nicht.

»Alvarez«, sagte der Mann. »Jaime Alvarez. Erinnern Sie sich nicht?«

Ravic schüttelte den Kopf.

Der Mann bückte sich und streifte ein Hosenbein hoch. Eine lange Narbe lief vom Schienbein aufwärts zum Knie. »Erinnern Sie sich jetzt?«

»Habe ich das operiert?«

Der Mann nickte. »Auf einem Küchentisch hinter der Front. In einem provisorischen Lazarett von Aranjuez. Kleine, weiße Villa in einem Mandelhain. Erinnern Sie sich nun?«

Ravic spürte plötzlich den schweren Geruch der Mandelblüten. Er roch ihn, als käme er die dunkle Treppe herauf, faulig, unentwirrbar gemischt mit dem süßeren und fauleren von Blut.

»Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«

Die Verwundeten hatten auf der mondhellen Terrasse gelegen, in Reihen nebeneinander. Ein paar deutsche und italienische Flugzeuge hatten das fertiggebracht. Kinder, Frauen, Bauern, zerrissen von Bombensplittern. Ein Kind ohne Gesicht; eine schwangere Frau, aufgerissen bis zur Brust; ein alter Mann, der die Finger der Hand, die ihm weggeschmettert waren, ängstlich in der andern hielt, weil er glaubte, man könne sie wieder annähen. Über allem der schwere Nachtgeruch und der klare, fallende Tau.

»Ist das Bein wieder ganz in Ordnung?« fragte Ravic.

»Ungefähr. Ich kann es nicht voll biegen.« Der Mann lächelte. »Es war gut genug, um über die Pyrenäen damit zu kommen. Gonzales ist tot.«

26
{"b":"125277","o":1}