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Ravic wußte nicht mehr, wer Gonzales war. Aber er erinnerte sich jetzt an einen jungen Studenten, der ihm geholfen hatte. »Wissen Sie, was aus Manolo geworden ist?«

»Gefangen. Erschossen.«

»Und Serna? Der Brigadekommandeur?«

»Tot. Vor Madrid.« Der Mann lächelte wieder. Es war ein starres, automatisches Lächeln, das plötzlich kam und ohne jede Emotion war. »Mura und La Pena sind gefangen worden. Erschossen.«

Ravic wußte nicht mehr, wer Mura und La Pena waren. Er hatte Spanien nach sechs Monaten verlassen, als die Front durchbrachen war und das Lazarett aufgelöst wurde.

»Carnero, Orta und Goldstein sind im Konzentrationslager«, sagte Alvarez. »In Frankreich. Blatzky ist auch sicher. Versteckt hinter der Grenze.«

Ravic erinnerte sich nur noch an Goldstein. Es waren zu viele Gesichter damals gewesen. »Wohnen Sie jetzt hier im Hotel?« fragte er.

»Ja. Wir sind vorgestern eingezogen. Drüben.« Der Mann zeigte auf die Zimmer im zweiten Stock. »Wir waren lange im Lager unten an der Grenze. Sind endlich ’rausgelassen worden. Wir hatten noch Geld.« Er lächelte wieder. »Betten. Richtige Betten. Gutes Hotel. Sogar Bilder von unseren Führern an den Wänden.«

»Ja«, sagte Ravic ohne Ironie. »Das muß angenehm sein, nach all dem drüben.«

Er verabschiedete sich von Alvarez und ging auf sein Zimmer.

Das Zimmer war aufgeräumt und leer. Joan war fort. Er sah sich um. Sie hatte nichts hinterlassen. Er hatte es auch nicht erwartet.

Er klingelte. Das Mädchen kam nach einer Weile. »Die Dame ist fort«, sagte es, bevor er fragen konnte.

»Das sehe ich selbst.Woher wissen Sie denn, daß jemand hier war?«

»Aber Herr Ravic«, sagte das Mädchen, ohne weiter etwas hinzuzufügen, mit einem Gesicht, als sei ihre Ehre schwer beleidigt worden.

»Hat sie Frühstück gehabt?«

»Nein. Ich habe sie nicht gesehen. Ich hätte sonst schon daran gedacht. Ich weiß das doch von früher.«

Ravic sah es an. Der Nachsatz gefiel ihm nicht. Er zog ein paar Frank hervor und steckte sie dem Mädchen in die Schürzentasche. »Schön«, sagte er. »Machen Sie es das nächstemal ebenso. Bringen Sie nur Frühstück, wenn ich es Ihnen ausdrücklich sage. Und kommen Sie nicht zum Aufräumen, bevor Sie genau wissen, daß das Zimmer leer ist.«

Das Mädchen lächelte vertraut. »Sehr wohl, Herr Ravic.«

Er blickte ihm unbehaglich nach. Er wußte, was es dachte. Es glaubte, Joan sei verheiratet und wolle nicht gesehen werden. Früher hätte er darüber gelacht. Jetzt gefiel es ihm nicht. Warum eigentlich nicht, dachte er. Er zuckte die Achseln und ging zum Fenster. Hotels waren Hotels. Man konnte das nicht ändern.

Er öffnete das Fenster. Ein wolkiger Mittag stand über den Häusern. Spatzen schrien in den Dachrinnen. Einen Stock tiefer zankten zwei Stimmen. Es mußte die Familie Goldberg sein. Der Mann war zwanzig Jahre älter als die Frau. Getreidehändler en gros aus Breslau. Die Frau hatte ein Verhältnis mit dem Emigranten Wiesenhoff . Sie glaubte, daß niemand das wußte. Der einzige, der es nicht wußte, war Goldberg.

Ravic schloß das Fenster. Er hatte morgens eine Gallenblase operiert. Eine anonyme Gallenblase für Durant. Ein Stück unbekannten, männlichen Bauch, den er für Durant aufgeschnitten harte. Zweihundert Frank Honorar. Danach war er bei Kate Hegström gewesen. Sie hatte Fieber. Zuviel Fieber. Er war eine Stunde dagewesen. Sie hatte unruhig geschlafen. Es war nichts Außergewöhnliches. Aber es hätte besser nicht sein sollen.

Er starrte durch das Fenster. Das sonderbare, leere Gefühl des Nachher. Das Bett, das nichts mehr sagte. Der Tag, der das Gestern unbarmherzig zerriß wie ein Schakal das Fell einer Antilope. Die Wälder der Nacht, zauberhaft in der Dunkelheit hochgeschossen, schon wieder endlos entfernt, eine Fata Morgana nur noch über der Wüste der Stunden...

Er wandte sich ab. Auf einem Tisch fand er die Adresse Lucienne Martinets. Sie war vor kurzem entlassen worden. Sie hatte keine Ruhe gegeben. Er war vor zwei Tagen bei ihr gewesen. Es war nicht nötig, sie schon wieder zu sehen; er hatte nichts weiter zu tun und beschloß, hinzugehen.

Das Haus lag in der Rue Clavel. Zu ebener Erde lag eine Schlächterei, in der eine mächtige Frau das Beil schwang und Fleisch verkaufte. Sie war in Trauer. Der Mann war vor zwei Wochen gestorben. Jetzt regierte die Frau das Geschäft mit einem Gesellen. Ravic sah sie im Vorbeigehen. Sie schien einen Besuch vorzuhaben. Sie trug einen Hut mit einem langen, schwarzen Kreppschleier und hackte für eine Bekannte aus Gefälligkeit rasch noch ein Schweinebein ab. Der Schleier wehte über das offene Schwein, das Beil blitzte und krachte hernieder.

»Mit einem Schlag«, sagte die Witwe befriedigt und warf das Bein auf die Waage.

Lucienne wohnte im obersten Stock in einem kleinen Zimmer unter dem Dach. Sie war nicht allein. Ein Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren lungerte auf einem Stuhl herum. Er hatte eine Radfahrermütze auf und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette, die beim Sprechen an der Oberlippe klebenblieb. Als Ravic eintrat, blieb er sitzen.

Lucienne lag im Bett. Sie war verwirrt und errötete. »Doktor — ich wußte nicht, daß Sie heute kommen würden.« Sie sah nach dem Burschen.

»Dies ist...«

»Irgend jemand«, unterbrach der Bursche sie grob. »Nicht weiter nötig, mit Namen herumzuwerfen.« Er lehnte sich zurück. »So, Sie sind also der Doktor?«

»Wie geht es, Lucienne?« fragte Ravic, ohne sich um ihn zu kümmern. »Vernünftig, daß Sie noch im Bett liegen.«

»Sie könnte längst aufstehen«, erklärte der Bursche. »Ihr fehlt nichts mehr. Wenn sie nicht arbeitet, kostet und kostet das nur.«

Ravic sah sich nach ihm um. »Gehen Sie mal ’raus«, sagte er.

»Was?«

»’raus. Vor die Tür. Ich will Lucienne untersuchen.«

Der Bursche brach in ein Gelächter aus. »Das können Sie auch so.Wir sind nicht so fein. Und wieso untersuchen? Sie waren ja erst vorgestern hier. Das kostet dann wieder einen Besuch extra, was?«

»Bruder«, sagte Ravic ruhig. »Sie sehen nicht so aus, als ob Sie es bezahlen. Und ob es was kostet, ist außerdem eine andere Sache. Und nun verschwinden Sie.«

Der Bursche grinste und spreizte behaglich die Beine. Er trug spitze Lackschuhe und violette Strümpfe.

»Bitte, Bobo«, sagte Lucienne. »Es dauert sicher nur einen Augenblick.«

Bobo beachtete sie nicht. Er fixierte Ravic. »Ganz gut, daß Sie da sind«, sagte er. »Da kann ich Ihnen gleich einmal Bescheid stoßen. Wenn Sie vielleicht denken, mein Lieber, Sie könnten eine Rechnung schinden, Hospital, Operation und so was — ist nicht! Wir haben nicht verlangt, daß sie ins Hospital sollte — von Operation gar nicht zu reden, also mit großem Geld ist Essig. Sie können sich noch freuen, daß wir keinen Schadenersatz beanspruchen! Operation wider Willen.« Er zeigte eine Reihe fleckiger Zähne. »Da staunen Sie, was? Ja. Bobo weiß Bescheid; er ist nicht so leicht anzuschmieren.«

Der Bursche sah sehr zufrieden aus. Er hatte das Gefühl, sich glänzend herausgedreht zu haben. Lucienne war blaß geworden. Sie blickte ängstlich von Bobo zu Ravic.

»Verstanden?« fragte Bobo triumphierend.

»War es der?« fragte Ravic Lucienne. Sie antwortete nicht. »Der also«, sagte er und betrachtete Bobo.

Ein magerer, langer Lümmel mit einem kunstseidenen Schal um den dünnen Hals, an dem der Adamsapfel auf und ab stieg. Abfallende Schultern, eine zu lange Nase, ein degeneriertes Kinn — ein Vorstadtzuhälter aus dem Buche.

»Was der also?« fragte Bobo herausfordernd.

»Ich habe Ihnen, glaube ich, jetzt oft genug gesagt, daß Sie ’rausgehen sollen. Ich will untersuchen.«

»Merde«, erwiderte Bobo.

Ravic ging langsam auf ihn zu. Er hatte genug von Bobo. Der Bursche sprang auf, wich zurück und hatte plötzlich einen dünnen Strick von etwa einem Meter Länge in den Händen. Ravic wußte, was er wollte. Er hatte vor, wenn Ravic näher kam, zur Seite zu springen, dann schnell hinter ihn, um ihm dann den Strick über den Kopf zu streifen und ihn von hinten zu drosseln. Es war gut, wenn der andere es nicht kannte oder zu boxen versuchte.

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