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»Bobo«, rief Lucienne. »Bobo, nicht!«

»Du Rotzjunge«, sagte Ravic. »Der jämmerliche alte Seiltrick — weiter weißt du nichts?« Er lachte.

Bobo war einen Moment verblüfft. Seine Augen wurden unsicher. Ravic hatte ihm gleich darauf das Jackett mit beiden Händen über die Schultern heruntergezogen, so daß er die Arme nicht mehr heben konnte. »Das hier kanntest du wohl noch nicht?« sagte er, öffnete rasch die Tür und stieß den überraschten, wehrlosen Burschen ziemlich grob hinaus. »Wenn du Lust auf so was hast, werde Soldat, du Möchtegern-Apache! Aber belästige keine Erwachsenen.«

Er schloß die Tür von innen ab. »So, Lucienne«, sagte er. »Nun wollen wir mal sehen.«

Sie zitterte. »Ruhig, ruhig. Es ist schon vorbei.« Er nahm das verschlissene, baumwollene Plumeau und legte es auf den Stuhl. Dann rollte er die grüne Decke zurück. »Pyjama? Warum denn das? Es ist doch unbequemer. Sie sollen sich noch nicht viel bewegen, Lucienne.«

Sie schwieg einen Augenblick. »Ich habe sie nur heute angezogen«, sagte sie dann.

»Haben Sie keine Nachthemden mehr? Ich kann Ihnen zwei von der Klinik schicken.«

»Nein, nicht deshalb. Ich habe sie angezogen, weil ich wußte...«, sie blickte nach der Tür und flüsterte, »... daß er kam. Er sagt, ich wäre nicht mehr krank. Er will nicht mehr warten.«

»Was? Schade, daß ich das vorher nicht gewußt habe.« Ravic blickte grimmig nach der Tür. »Er wird warten!«

Lucienne hatte die sehr weiße Haut anämischer Frauen. Die Adern lagen blau unter der dünnen Oberschicht. Sie war hübsch gewachsen, mit schmalen Knochen, schlank, aber nirgendwo mager. Eines der zahllosen Mädchen, dachte Ravic, bei denen man sich fragte, warum die Natur den Aufwand gemacht hatte, sie so zierlich zu bilden — wenn man wußte, was aus fast allen von ihnen wurde — ein überarbeitetes, durch falsches und ungesundes Leben rasch formlos werdendes Wesen.

»Sie müssen noch eine Woche ziemlich viel im Bett liegenbleiben, Lucienne. Sie können aufstehen und hier herumgehen. Aber seien Sie vorsichtig; heben Sie nichts. Und steigen Sie keine Treppen in den nächsten Tagen. Haben Sie jemand, der nach Ihnen sieht? Außer diesem Bobo?«

»Die Vermieterin. Aber die knurrt auch schon.« »Sonst niemand?« »Nein. Marie war früher da. Sie ist tot.« Ravic musterte das Zimmer. Es war ärmlich und sauber. Vor dem Fenster standen ein paar Fuchsien. »Und Bobo?« fragte er. »Der ist also wieder aufgetaucht, nachdem alles vorbei war...«

Lucienne antwortete nicht.

»Warum schmeißen Sie ihn nicht ’raus?«

»Er ist nicht so schlecht, Doktor. Nur wild...«

Ravic sah sie an. Liebe, dachte er. Auch das ist Liebe.

Das alte Mirakel. Es wirft nicht nur den Regenbogen der Träume an den grauen Himmel der Tatsachen — es verklärt sogar einen Scheißhaufen mit romantischem Licht —; ein Wunder und ein toller Hohn. Er hatte plötzlich das sonderbare Gefühl, in einer fernen Weise zum Mitschuldigen geworden zu sein. »Gut, Lucienne«, sagte er. »Machen Sie sich nichts daraus. Werden Sie nur erst gesund.«

Sie nickte erleichtert. »Und das mit dem Geld«, sagte sie verlegen und eilig, »das ist nicht wahr. Er hat das nur so gesagt. Ich werde alles bezahlen. Alles. In Raten. Wann kann ich wieder arbeiten?«

»In ungefähr zwei Wochen, wenn Sie keinen Unsinn machen. Und nichts mit Bobo! Absolut nichts, Lucienne! Sie können sonst sterben, verstehen Sie?«

»Ja«, erwiderte sie ohne Überzeugung.

Ravic legte die Decke über den schmalen Körper. Als er aufblickte, sah er, daß sie weinte. »Geht es nicht doch früher?« sagte sie. »Ich kann ja sitzen, wenn ich arbeite. Ich muß...«

»Vielleicht. Wir werden sehen. Es hängt davon ab, wie Sie sich verhalten. Sie sollten mir sagen, wie die Hebamme hieß, die den Eingriff gemacht hat, Lucienne.«

Er sah die Abwehr in ihren Augen. »Ich gehe nicht zur Polizei«, sagte er. »Bestimmt nicht. Ich will nur versuchen, das Geld herauszubekommen, das Sie ihr bezahlt haben, Sie können dann ruhiger sein. Wieviel war es?«

»Dreihundert Frank. Sie werden es nie von ihr kriegen.«

»Man kann es versuchen. Wie heißt sie, und wo wohnt sie? Sie werden sie nie mehr brauchen, Lucienne. Sie können keine Kinder mehr bekommen. Und sie kann nichts gegen Sie tun.«

Das Mädchen zögerte. »In der Schublade dort«, sagte sie dann. »Rechts in der Schublade.«

»Dieser Zettel hier?« — »Ja.«

»Gut. Ich werde in den nächsten Tagen hingehen. Haben Sie keine Angst.« Ravic zog seinen Mantel an. »Was ist denn?« fragte er. »Weshalb wollen Sie aufstehen?«

»Bobo. Sie kennen ihn nicht.«

Er lächelte. »Ich glaube, ich kenne schlimmere. Bleiben Sie nur liegen. Nach dem, was ich gesehen habe, brauchen wir keine Sorge zu haben. Auf Wiedersehen, Lucienne. Ich komme bald wieder.«

Ravic drehte den Schlüssel und die Klinke zur selben Zeit und öffnete rasch die Tür. Niemand stand auf dem Flur. Er hatte es auch nicht erwartet; er kannte Bobos Typ.

In der Schlächterei unten stand jetzt der Geselle, ein gelbgesichtiger Mensch ohne die Passion der Wirtin. Er hackte lustlos herum. Seit dem Trauerfall war er bedeutend müder geworden.

Seine Chance, die Meisterin zu heiraten, war gering. Ein Bürstenbinder gegenüber im Bistro erklärte das laut und auch, daß sie ihn vorher ebenfalls zum Friedhof bringen würde. Der Geselle habe bereits stark verloren. Die Witwe aber sei mächtig aufgeblüht. Ravic trank einen Cassis und zahlte. Er hatte geglaubt, Bobo in dem Bistro zu treffen; aber Bobo war nicht da.

Joan Madou kam aus der Tür der Scheherazade. Sie öffnete die Tür des Taxis, in dem Ravic wartete. »Komm«, sagte sie. »Laß uns weg von hier. Wir wollen zu dir.«

»Ist etwas passiert?«

»Nein. Nichts. Ich habe nur genug vom Nachtklubleben.«

»Einen Augenblick.« Ravic winkte die Blumenverkäuferin, die vor dem Eingang stand, heran. »Muttchen«, sagte er. »Gib mir alle deine Rosen. Was kosten sie? Aber sei nicht wahnsinnig.«

»Sechzig Frank. Für Sie.Weil Sie mir das Rezept für den Rheumatismus gegeben haben.«

»Hat es genützt?«

»Nein. Kann es auch nicht, solange ich die Nacht im Nassen stehe.«

»Sie sind der vernünftigste Patient, den ich im Leben getroffen habe.«

Er nahm die Rosen. »Hier ist eine Entschuldigung, weil du heute morgen allein aufwachen mußtest und kein Frühstück bekommen hast«, sagte er zu Joan und packte die Blumen auf den Boden des Taxis.

»Willst du noch etwas trinken?«

»Nein. Wir wollen zu dir. Leg die Blumen hierher auf den Sitz. Nicht auf den Boden.«

»Sie liegen da gut. Man soll Blumen lieben, aber nicht zu viele Umstände mit ihnen machen.«

Sie wendete rasch den Kopf. »Du meinst, was man liebt, soll man nicht verwöhnen?«

»Nein. Ich meine nur, daß man schöne Dinge nicht dramatisieren soll. Im Augenblick ist es außerdem besser, wenn keine Blumen zwischen uns liegen.«

Joan blickte ihn einen Moment zweifelnd an. Dann erhellte sich ihr Gesicht. »Weißt du, was ich heute getan habe? Ich habe gelebt. Wieder gelebt. Ich habe geatmet. Wieder geatmet. Ich war da. Wieder da. Zum ersten Male. Ich habe wieder Hände. Und Augen und einen Mund.«

Der Chauffeur manövrierte das Taxi in der schmalen Straße aus den anderen Wagen heraus. Dann fuhr er mit einem Ruck an. Der Stoß warf Joan gegen Ravic. Er hielt sie einen Augenblick in seinen Armen und fühlte sie. Es war wie ein warmer Wind, als wehte sie ihn an und schmelze die Krusten des Tages hinweg, die sonderbare, abwehrende Kühle in ihm, während sie dasaß und sprach, hingerissen von ihrem Gefühl und von sich selbst.

»Den ganzen Tag — es strömte, als wären überall Brunnen, es warf sich mir über den Nacken und gegen die Brust, als müßte ich grün werden und Blätter treiben und Blüten — es hielt mich und hielt mich und hielt mich und ließ mich nicht los — und da bin ich nun — und du...«

Ravic sah sie an. Sie saß vorgebeugt auf dem schmutzigen Ledersitz, und ihre Schultern leuchteten aus ihrem schwarzen Abendkleid. Sie war offen und unbedenklich und ohne Scham, sie sagte, was sie fühlte, und er kam sich ärmlich und trocken gegen sie vor.

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