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Die sanfte, unerbittliche, trostlose Chemie! Blut, das einmal ineinander gestürzt war, konnte es nie gleich stark wieder. Was Joan immer noch hielt und ab und zu zurücktrieb zu ihm, war ein Rest in ihm, den sie noch nicht durchdrungen hatte. Wenn sie ihn durchdrungen haben würde, würde sie gehen für immer. Wer wollte darauf warten? Wer damit zufrieden sein? Wer sich aufgeben dafür?

»Ich wollte, ich wäre so stark wie du, Ravic.«

Er lachte. Das auch noch. »Du bist viel stärker als ich.«

»Nein. Du siehst ja, wie ich hinter dir herlaufe.«

»Das zeigt es gerade. Du kannst dir das erlauben. Ich nicht.« Sie sah ihn einen Moment aufmerksam an. Dann erlosch die Helligkeit, die ihr Gesicht überflogen hatte.

»Du kannst nicht lieben«, sagte sie. »Du gibst dich nie her.«

»Du immer. Deshalb wirst du auch immer gerettet.«

»Kannst du nicht ernsthaft mit mir reden?«

»Ich rede ernsthaft mit dir.«

»Wenn ich immer gerettet werde, warum komme ich dann nicht von dir los?«

»Du kommst ganz gut von mir los.«

»Laß das! Du weißt, das hat nichts damit zu tun. Wenn ich von dir loskommen würde, liefe ich nicht hinter dir her. Andere habe ich vergessen. Dich nicht. Weshalb?«

Ravic nahm einen Schluck. »Vielleicht, weil du mich nicht ganz unter die Füße gekriegt hast.«

Sie stutzte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe nicht alle unter die Füße gekriegt, wie du das nennst. Manche überhaupt nicht. Und ich habe sie vergessen. Ich war unglücklich, aber ich habe sie vergessen.«

»Du wirst mich auch vergessen.«

»Nein. Du machst mich unruhig. Nein, nie.«

»Man glaubt gar nicht, wieviel man vergessen kann«, sagte Ravic. »Das ist ein großer Segen und ein verdammtes Elend.«

»Du hast mir immer noch nicht gesagt, weshalb das so ist mit uns.«

»Das können wir beide uns nicht erklären. Wir können reden, solange wir wollen. Es würde nur immer konfuser. Es gibt Dinge, die man nicht erklären kann. Und andere, die man nicht versteht. Gesegnet sei das bißchen Dschungel in uns. Ich gehe jetzt.«

Sie stand rasch auf. »Du kannst mich nicht allein lassen.«

»Willst du mit mir schlafen?« Sie sah ihn an und sagte nichts. »Ich hoffe nicht«, sagte er.

»Wozu fragst du das?«

»Um mich zu erheitern. Geh schlafen. Es ist schon hell draußen. Keine Zeit für Tragödien.«

»Du willst nicht bleiben?«

»Nein. Und ich werde nie wiederkommen.«

Sie stand sehr still. »Nie?«

»Nie. Und du wirst nie wieder zu mir kommen.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. Dann deutete sie auf den Tisch. »Deswegen?«

»Nein.«

»Ich verstehe dich nicht. Wir können doch...«

»Nein«, sagte er rasch. »Nicht das noch. Die Formel von der Freundschaft. Der kleine Gemüsegarten auf der Lava erloschener Gefühle. Nein, wir können das nicht. Wir nicht. Man mag das können bei kleinen Affären. Und dann ist es auch schmierig. Liebe soll man nicht durch Freundschaft besudeln. Ein Ende ist ein Ende.«

»Aber warum gerade jetzt?«

»Du hast recht. Es hätte früher sein sollen. Als ich zurückkam aus der Schweiz. Aber niemand ist allwissend. Und manchmal will man auch nicht alles wissen. Es war...«, er brach ab.

»Was war es?« Sie stand vor ihm, als verstände sie etwas nicht und müsse es dringend wissen. Sie war blaß, und ihre Augen waren durchsichtig. »Was war das nur mit uns, Ravic?« flüsterte sie.

Der Korridor hinter ihrem Haar, halb erleuchtet, schwankend im Licht, als führe er weit in einen Schacht, in dem Versprechen dämmerte, betaut von vielen Generationen, betaut von immer neuen Hoffnungen. »Liebe...«, sagte er.

»Liebe?«

»Liebe. Und deshalb ist dieses das Ende.«

Er schloß die Tür hinter sich. Der Aufzug. Er drückte den Knopf. Aber er wartete nicht, bis der Lift heraufkroch. Er fürchtete, Joan würde ihm nachkommen. Er ging rasch die Treppen hinunter. Er wunderte sich, die Tür nicht zu hören. Auf dem zweiten Absatz blieb er stehen und horchte. Nichts regte sich. Niemand kam.

Das Taxi stand noch vor dem Haus. Er hatte es vergessen gehabt. Der Fahrer tippte an seine Mütze und grinste vertraulich. »Wieviel?« fragte Ravic. — »Siebzehnfünfzig.«

Ravic zahlte. »Wollen Sie nicht zurückfahren?« fragte der Chauff eur erstaunt.

»Nein. Ich will gehen.«

»Ziemlich weit, mein Herr.«

»Ich weiß.«

»Da hätten Sie mich doch nicht warten zu lassen brauchen. Kostet Sie elf Frank für nichts.«

»Macht nichts.«

Der Fahrer versuchte einen Zigarettenstummel, der ihm braun und feucht an der Oberlippe klebte, anzuzünden. »Na, hoffentlich war’s das wert.«

»Mehr!« sagte Ravic.

Die Anlagen standen in der kalten Morgenhelle. Die Luft war schon warm, aber das Licht war kalt. Büsche von Flieder, grau überstaubt. Bänke. Auf einer schlief ein Mann, das Gesicht mit einer Nummer des »Paris Soir« zugedeckt. Es war dieselbe Bank, auf der Ravic in der Regennacht gesessen hatte.

Er sah den Schlafenden an. Der »Paris Soir« hob sich atmend über dem verdeckten Gesicht, als habe das Schundblatt eine Seele oder sei ein Schmetterling, der gleich, mit großen Nachrichten, zum Himmel fliegen wolle. Sacht atmete die fette Überschrift: Hitler erklärt, außer dem polnischen Korridor keine territorialen Wünsche mehr zu haben. Und darunter: Plätterin erschlägt Mann mit heißem Bügeleisen. Eine vollbusige Frau im Sonntagskleid starrte aus einer Fotogravüre. Neben ihr wogte eine zweite Fotografie: Chamberlain erklärt den Frieden immer noch für möglich, mit einer Art Bankclerk mit Regenschirm und einem Gesicht wie ein glückliches Schaf. Unter seinen Füßen, in kleiner Schrift: Hunderte von Juden an der Grenze erschlagen.

Der Mann, der mit all diesem sich vor dem Nachttau und dem frühen Licht geschützt hatte, schlief tief und ruhig.

Er trug alte, brüchige Segeltuchschuhe, eine braunwollene Hose und ein ziemlich zerrissenes Jackett. Ihn ging all dies nichts an. Er war so weit unten, daß ihn nichts mehr anging — so wie ein Tiefseefisch nichts spürt von den Stürmen der Ozeane.

Ravic ging ins »International« zurück. Er war klar und frei. Er ließ nichts zurück. Er konnte es auch nicht gebrauchen. Er konnte nichts mehr brauchen, das ihn noch verwirrte. Er wollte heute in das »Prince de Galles« ziehen. Zwei Tage zu früh. Aber es war besser, zu früh als zu spät auf Haake zu warten.

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Die Halle im »Prince de Galles« war leer, als Ravic herunterkam. Ein tragbares Radio spielte leise am Rezeptionstisch. In den Ecken wirtschafteten ein paar Scheuerfrauen. Ravic ging rasch und unauffällig durch. Er sah auf die Uhr gegenüber der Tür. Es war fünf Uhr morgens.

Er ging die Avenue George V hinauf und hinüber zu Fouquet’s. Niemand saß da. Das Restaurant war längst geschlossen. Er blieb einen Augenblick stehen. Dann hielt er ein Taxi an und fuhr zur Scheherazade.

Morosow stand vor der Tür und sah ihm entgegen. »Nichts«, sagte Ravic.

»Das dachte ich mir. War ja auch heute nicht zu erwarten.«

»Doch heute schon. Heute ist es vierzehn Tage her.«

»Man soll nicht mit einem Tag rechnen. Warst du die ganze Zeit im ›Prince de Galles‹?«

»Ja, von morgens bis jetzt.«

»Er wird morgen anrufen«, sagte Morosow. »Kann heute was zu tun gehabt haben oder einen Tag später abgereist sein.«

»Morgen vormittag muß ich operieren.«

»So früh wird er nicht anrufen.«

Ravic erwiderte nichts. Er sah auf ein Taxi, aus dem ein Gigolo im weißen Smoking stieg. Eine blasse Frau mit großen Zähnen folgte ihm. Morosow öffnete ihnen die Tür. Die Straße roch plötzlich nach Chanel Cinque. Die Frau hinkte leicht. Der Gigolo ging faul hinter ihr her, nachdem er das Taxi bezahlt hatte. Die Frau wartete auf ihn an der Tür. Ihre Augen waren grün im Licht der Lampen. Die Pupillen waren sehr klein zusammengezogen.

»Um diese Zeit ruft er bestimmt nicht an«, sagte Morosow, als er zurückkam.

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