Ravic sah sie an. Ihre Knie preßten die großen, weißen Blüten gegen die Zeitung, die er unter die Chrysanthemen geschoben hatte. Eine sonderbare Nacht, dachte er. Irgendwo wird jetzt geschossen, und Menschen werden gejagt und eingesperrt und gequält und gemordet, und ein Stück friedliche Welt wird zertreten, und man ist da und weiß es und ist hilflos, und in den hellen Bistros summt es von Leben, niemand kümmert sich, Menschen gehen ruhig schlafen, und ich sitze hier mit einer Frau zwischen bleichen Chrysanthemenblüten und einer Flasche Calvados, und der Schatten der Liebe steigt auf, schaudernd, fremd und traurig, einsam auch sie, vertrieben aus den sicheren Gärten der Vergangenheit, scheu und wild und rasch, als hätte sie kein Recht…
»Joan«, sagte er langsam und wollte etwas ganz anderes sagen. »Es ist schön, daß du da bist.«
Sie sah ihn an.
Er nahm ihre Hände. »Du verstehst, was das heißt? Mehr als tausend Worte...«
Sie nickte. Ihre Augen waren plötzlich voll Tränen. »Es heißt gar nichts«, sagte sie. »Ich weiß es.«
»Das ist nicht richtig«, erwiderte Ravic und wußte, daß es richtig war.
»Nein. Gar nichts. Du mußt mich lieben, Liebster, das ist alles.«
Er antwortete nicht.
»Du mußt mich lieben«, wiederholte sie. »Sonst bin ich verloren.«
Verloren ..., dachte er. Wie schnell sie das sagt! Wer wirklich verloren ist, spricht
nicht mehr.
12
»Haben Sie das Bein abgenommen?« fragte Jeannot.
Sein schmales Gesicht war blutlos und weiß wie eine alte Hauswand. Die Sommersprossen stachen so dunkel daraus hervor, als gehörten sie nicht dazu und wären mit Farbe übergesprenkelt. Der Beinstumpf lag unter einem Drahtkorb, über den die Decke gebreitet war.
»Hast du Schmerzen?« fragte Ravic.
»Ja. Im Fuß. Der Fuß tut sehr weh. Ich habe die Schwester gefragt. Der alte Drache will es mir nicht sagen.«
»Dein Bein ist amputiert«, sagte Ravic.
»Über dem Knie oder unter dem Knie?«
»Zehn Zentimeter darüber. Das Knie war zerschmettert und nicht zu retten.«
»Gut«, sagte Jeannot. »Das gibt ungefähr zehn Prozent mehr bei der Versicherung. Sehr gut. Ein künstliches Bein ist ein künstliches Bein, über oder unter dem Knie. Aber fünfzehn Prozent mehr sind etwas, was man jeden Monat in die Tasche stecken kann.« Er zögerte einen Augenblick. »Besser, Sie sagen es meiner Mutter vorläufig nicht. Sehen kann sie es ja nicht mit diesem Papageienkäfig über dem Stumpf da.«
»Wir werden ihr nichts sagen, Jeannot.«
»Die Versicherung muß eine Rente fürs Leben zahlen. Das stimmt doch, nicht wahr?«
»Ich glaube.«
Das käsige Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Die werden staunen. Ich bin dreizehn Jahre alt. Die werden lange zahlen müssen. Wissen Sie schon, welche Versicherung es ist?«
»Noch nicht. Aber wir haben die Nummer des Autos. Du hast sie dir ja gemerkt. Die Polizei war schon hier. Sie will dich vernehmen. Du schliefst noch heute morgen. Sie will heute abend wiederkommen.«
Jeannot dachte nach. »Zeugen«, sagte er dann. »Es ist wichtig, daß wir Zeugen haben. Haben wir welche?«
»Ich glaube, deine Mutter hat zwei Adressen. Sie hatte die Zettel in der Hand.«
Der Junge wurde unruhig. »Sie wird sie verlieren. Wenn sie sie nur nicht schon verloren hat. Sie wissen, wie alte Leute sind. Wo ist sie jetzt?«
»Deine Mutter hat die Nacht über bis heute mittag an deinem Bett gesessen. Dann haben wir sie wegschicken können. Sie wird bald wiederkommen.«
»Hoffentlich hat sie sie noch. Die Polizei...« Er machte eine schwache Geste mit der abgezehrten Hand. »Gauner«, murmelte er. »Alles Gauner. Stecken mit den Versicherungen zusammen. Aber wenn man gute Zeugen hat... wann kommt sie zurück?«
»Bald. Reg dich nicht auf deswegen. Es wird schon in Ordnung sein.«
Jeannot bewegte den Mund, als kaue er an etwas. »Manchmal zahlen sie das Geld auch auf einen Schlag aus. Als Abfindung. Statt einer Rente. Wir könnten ein Geschäft damit anfangen, Mutter und ich.«
»Ruh dich jetzt aus«, sagte Ravic. »Du kannst darüber noch immer nachdenken.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Doch«, sagte Ravic. »Du mußt frisch sein, wenn die Polizei kommt.«
»Ja, richtig. Was soll ich denn machen?«
»Schlafen.« — »Aber dann...«
»Man wird dich schon wecken.«
»Rotes Licht. Es war bestimmt rotes Licht.«
»Bestimmt. Und nun versuche, etwas zu schlafen. Da ist eine Klingel, wenn du etwas brauchst.«
»Doktor...«
Ravic drehte sich um.
»Wenn alles klappt...« Jeannot lag in seinen Kissen, und etwas wie ein Lächeln ging über sein altkluges, verkrampftes Gesicht... »Manchmal hat man doch Glück, was?«
Der Abend war feucht und warm. Zerrissene Wolken zogen niedrig über die Stadt. Vor dem Restaurant Fouquet’s waren runde Koksöfen aufgestellt. Ein paar Tische und Stühle standen darum herum. An einem Morosow. Er winkte Ravic zu. »Komm, trink was mit mir.«
Ravic setzte sich zu ihm. »Wir sitzen zuviel in Zimmern«, erklärte Morosow. »Ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Du nicht. Du stehst ja dauernd auf der Straße vor der Scheherazade.«
»Knabe, laß deine armselige Logik. Ich bin abends eine Art zweibeiniger Tür zur Scheherazade, aber kein Mensch im Freien. Wir sitzen zuviel in Zimmern, sage ich. Wir denken zuviel in Zimmern. Wir leben zuviel in Zimmern. Wir verzweifeln zuviel in Zimmern. Kann man im Freien verzweifeln?«
»Und wie!« sagte Ravic.
»Nur weil man zuviel in Zimmern lebt. Nicht, wenn man es gewohnt ist. Man verzweifelt anständiger in einer Landschaft als in einem Zimmer-Appartement mit Küche. Auch komfortabler. Widersprich nicht! Widerspruch zeigt abendländische Enge des Geistes. Wer will schon recht haben? Ich habe heute meinen freien Abend und will das Leben spüren. Wir trinken übrigens auch zuviel in Zimmern.«
»Wir pissen auch zuviel in Zimmern.«
»Bleib mir mit deiner Ironie vom Leibe. Die Fakten des Daseins sind simpel und trivial. Erst unsere Phantasie gibt ihnen Leben. Sie macht aus den Wäschepfählen der Tatsachen Flaggenmaste der Träume. Habe ich recht?«
»Nein.«
»Selbstverständlich nicht. Will ich auch gar nicht.«
»Natürlich hast du recht.«
»Gut, Bruder. Wir schlafen auch zuviel in Zimmern. Wir werden Möbelstücke. Die Steinhäuser haben unser Rückgrat gebrochen. Wir sind wandelnde Sofas, Toilettentische, Kassenschränke, Mietkontrakte, Gehaltsempfänger, Kochtöpfe und Wasserklosetts geworden.«
»Richtig. Wandelnde Parteiprogramme, Munitionsfabriken, Blindenanstalten und Irrenhäuser.«
»Unterbrich mich nicht dauernd. Trink, schweige und lebe, du Mörder mit dem Skalpell. Sieh, was aus uns geworden ist! Soviel ich weiß, hatten nur die alten Griechen Götter für das Trinken und die Lebenslust: Bacchus und Dionysos. Wir haben dafür Freud, Minderwertigkeitskomplexe und die Psychoanalyse — Angst vor zu großen Worten in der Liebe und viel zu große Worte in der Politik. Ein trauriges Geschlecht?« Morosow blinzelte.
Ravic blinzelte. »Alter, braver Zyniker mit Träumen«, sagte er.
Morosow grinste. »Elender Romantiker ohne Illusion — für eine kurze Zeit auf Erden Ravic genannt.«
»Für eine sehr kurze Zeit. Was Namen anbelangt, ist dieses bereits mein drittes Leben. Ist das polnischer Wodka?«
»Estnischer. Von Riga. Der beste. Schenk dir ein — und dann laß uns ruhig hier sitzen und auf die schönste Straße der Welt starren und diesen milden Abend loben und gelassen der Verzweiflung in die Schnauze spucken.«
Die Feuer in den Koksöfen knackten. Ein Mann mit einer Violine stellte sich am Rand des Bürgersteiges auf und begann »Auprès de ma blonde« zu spielen. Die Vorübergehenden stießen ihn an. Der Bogen kratzte, aber der Mann spielte weiter, als wäre er allein. Es klang dürr und leer. Die Violine schien zu frieren. Zwei Marokkaner gingen zwischen den Tischen umher und boten Teppiche aus greller Kunstseide an.