»Richtig.« Ravic lächelte flüchtig. »Der Abend der Eleganz, des alten Rußlands und der großen Gläser.«
»Willst du mit?« »Nein. Heute nicht. Ich bin müde. Habe ein paar Nächte kaum geschlafen. Nicht sehr ruhig, jedenfalls. Laß uns noch eine Stunde ’rausgehen und irgendwo herumsitzen. Habe das lange nicht getan.«
»Vouvray?« fragte Morosow. Sie saßen vor dem Café Colisée.
»Warum? Es ist früher Abend, Alter. Die Stunde des Wodkas.«
»Ja. Trotzdem Vouvray. Das ist genug für mich.«
»Was ist los? Keinen Fine wenigstens?«
Ravic schüttelte den Kopf. »Wenn man irgendwo ankommt, soll man sich am ersten Abend blau saufen, Bruder«, erklärte Morosow. »Unnötiger Heroismus, den Schatten der Vergangenheit nüchtern in die traurigen Gesichter zu starren.«
»Ich starre nicht, Boris. Ich freue mich behutsam meines Lebens.«
Ravic sah, daß Morosow ihm nicht glaubte. Er machte keinen Versuch, ihn zu überzeugen. Er saß ruhig am Tisch, in der ersten Reihe zur Straße hin, trank seinen Wein und blickte in das abendliche Gedränge der Spaziergänger. Solange er von Paris fortgewesen war, war alles klar und scharf in ihm gewesen. Jetzt war es wolkig, fahl und farbig, angenehm gleitend, aber so, wie bei jemand, der von einem Berg zu rasch abgestiegen ist und der den Lärm unten im Tal nur wie durch Watte hört.
»Warst du irgendwo, bevor du ins Hotel kamst?«
»Nein.«
»Veber hat ein paarmal nach dir gefragt.«
»Ich werde ihn anrufen.«
»Du gefällst mir nicht. Erzähle, was los war.«
»Nichts Besonderes. Die Grenze in Genf war zu gut bewacht. Versuchte es da zuerst, dann in Basel. Auch schwierig. Kam schließlich doch hinüber. Erkältete mich. Regen und Schnee nachts auf den Feldern. Konnte wenig machen. Es wurde eine Lungenentzündung. Ein Arzt in Belfort brachte mich in ein Krankenhaus. Schmuggelte mich ’rein und ’raus. Hielt mich noch zehn Tage in seinem Haus. Muß ihm das Geld zurückschicken.«
»Bist du wieder in Ordnung?«
»Ziemlich.«
»Trinkst du deshalb keinen Schnaps?«
Ravic lächelte. »Wozu reden wir herum? Ich bin etwas müde und will mich erst gewöhnen. Das ist wahr. Merkwürdig, wieviel man denkt, wenn man unterwegs ist. Und wiewenig, wenn man ankommt.«
Morosow winkte ab. »Ravic«, sagte er väterlich. »Du sprichst mit deinem Vater Boris, den Kenner des menschlichen Herzens. Mach keine Umwege und frage schon, damit wir es hinter uns kriegen.«
»Schön. Wo ist Joan?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß seit einigen Wochen nichts mehr von ihr. Habe sie auch nicht mehr gesehen.«
»Und vorher?«
»Vorher hat sie eine Zeitlang nach dir gefragt. Dann nicht mehr.«
»Ist sie nicht mehr in der Scheherazade?«
»Nein. Sie hat aufgehört vor ungefähr fünf Wochen. Dann war sie noch zwei-, dreimal da. Später nicht mehr.«
»Ist sie nicht mehr in Paris?«
»Ich glaube nicht. Scheint wenigstens nicht so. Sonst hätte ich sie ja weiter ab und zu in der Scheherazade gesehen?«
»Weißt du, was sie macht?«
»Irgendwas mit Film, glaube ich. Das hat sie wenigstens der Garderobenfrau gesagt. Du weißt ja, wie so etwas ist. Irgendein verdammter Vorwand.«
»Vorwand?«
»Ja, Vorwand«, sagte Morosow grimmig. »Was sonst, Ravic? Hast du etwas anderes erwartet?«
»Ja.«
Morosow schwieg. »Erwarten und wissen ist zweierlei«, sagte Ravic.
»Nur für gottverdammte Romantiker. Trink was Vernünftiges — nicht die Limonade da. Einen anständigen Calvados...«
»Calvados nicht gerade. Kognak, wenn es dich beruhigt. Oder meinetwegen auch Calvados.«
»Endlich«, sagte Morosow.
Die Fenster. Die blaue Silhouette der Dächer. Das verschossene rote Sofa. Das Bett. Ravic wußte, daß er es durchzustehen hatte. Er saß auf dem Sofa und rauchte. Morosow hatte ihm seine Sachen herübergebracht und ihm gesagt, wo er ihn finden könne, wenn er wolle.
Er hatte den alten Anzug weggeworfen. Er hatte gebadet, heiß und lange, mit viel Seife. Er hatte drei Monate weggeschwemmt und von seiner Haut geschrubbt. Er hatte reine Wäsche angezogen, einen anderen Anzug, sich rasiert; und er wäre am liebsten noch in ein türkisches Bad gegangen, wenn es nicht zu spät gewesen wäre. Er hatte alles das getan und sich gut dabei gefühlt. Er hätte gern noch mehr getan, denn jetzt plötzlich, während er am Fenster saß, begann die Leere aus den Winkeln an ihn heranzukriechen.
Er schenkte sich ein Glas Calvados ein. Unter seinen Sachen war noch eine Flasche mit einem kleinen Rest darin gewesen. Er erinnerte sich an die Nacht, als er sie mit Joan getrunken hatte, aber er empfand wenig dabei. Es war zu lange her. Er merkte nur, daß es guter, alter Calvados war.
Der Mond stieg langsam über die Dächer. Der dreckige Hof gegenüber wurde ein Palast aus Schatten und Silber. Alles konnte aus Dreck zu Silber werden mit einem bißchen Phantasie. Ein Geruch von Blumen kam durch das Fenster. Der herbe Geruch von Nelken in der Nacht. Ravic lehnte sich über die Brüstung und sah hinunter. Auf dem Fensterbrett unter ihm stand ein Holzkasten mit Blumen. Sie gehörten dem Emigranten Wiesenhoff, wenn er noch da wohnte. Ravic hatte ihm einmal den Magen ausgepumpt. Weihnachten vor einem Jahr.
Die Flasche war leer. Er warf sie auf das Bett. Da lag sie wie ein schwarzer Embryo. Er stand auf. Wozu starrte er auf das Bett? Wenn man keine Frau hatte, mußte man sich eine holen. Das war einfach in Paris.
Er ging durch die schmalen Straßen dem Etoile zu. Das warme Leben der nächtigen Stadt schlug ihm von den Champs-Elysées entgegen. Er ging zurück, rasch, dann immer langsamer, bis er zum Hotel Milan kam.
»Wie geht’s?« fragte er den Portier.
»Ah, Monsieur!« Der Portier stand auf. »Monsieur war lange nicht hier.«
»Ja, eine Zeitlang nicht. Ich war nicht in Paris.«
Der Portier musterte ihn mit flinken, kleinen Augen. »Madame ist nicht mehr hier.«
»Ich weiß. Schon längst nicht mehr.«
Der Portier war ein guter Portier. Er wußte, was man von ihm wollte, ohne gefragt zu werden. »Vier Wochen jetzt«, sagte er. »Vor vier Wochen ist sie ausgezogen.«
Ravic nahm eine Zigarette aus dem Päckchen. »Ist Madame nicht mehr in Paris?« fragte der Portier.
»Sie ist in Cannes.«
»Cannes!« Der Portier fuhr sich mit der großen Hand über das Gesicht. »Sie würden nicht glauben, mein Herr, daß ich vor achtzehn Jahren Portier im Hotel Ruhl in Nizza war, wie?«
»Doch.«
»Die Zeiten! Das Trinkgeld! Die herrliche Zeit nach dem Krieg! Heute...«
Ravic war ein guter Gast. Er verstand das Hotelpersonal, ohne daß es allzu deutlich zu werden brauchte. Er holte einen Fünffrankschein hervor und legte ihn auf den Tisch.
»Danke, mein Herr. Viel Vergnügen noch! Sie sehen jünger aus, mein Herr!«
»Fühle mich auch so. Guten Abend.«
Ravic stand auf der Straße. Wozu war er in das Hotel gegangen? Jetzt fehlte nur noch, daß er in die Scheherazade ging und sich da besoff .
Er starrte in den Himmel, der voller Sterne hing. Er sollte froh sein, daß es so gekommen war. Er sparte eine Menge unnötiger Auseinandersetzungen. Er hatte es gewußt, und Joan hatte es auch gewußt. Zum Schluß wenigstens. Sie hatte getan, was das einzig Richtige war. Keine Erklärungen. Erklärungen waren zweitklassig. Im Gefühl gab es keine Erklärungen. Nur Handlungen. Gottlob, daß Joan davon nichts wußte. Sie hatte gehandelt. Fertig. Aus. Kein Hin- und Hergezerre. Er hatte auch gehandelt. Was stand er also jetzt noch hier? Es mußte die Luft sein. Dieses weiche Gewebe aus Mai und Abend in Paris. Und die Nacht natürlich. Nachts war man immer anders als am Tage.
Er ging zurück in das Hotel. »Kann ich bitte einmal telefonieren?«
»Gewiß, mein Herr. Wir haben aber keine Telefonzelle. Nur den Apparat hier.«
»Das genügt.«
Ravic sah auf seine Uhr. Es konnte sein, daß Veber in der Klinik war. Es war die Stunde der letzten Nachtvisite. »Ist Doktor Veber da?« fragte er die Schwester. Er kannte ihre Stimme nicht. Sie mußte neu sein.