2. Puschkin, der russische Patriot
Damit ist eine zweite Facette im Kaukasus-Bild Puschkins berührt, die ihn als politisch engagierten Zeitgenossen zeigt. Mit Begeisterung preist er die militärischen Eroberungen der russischen Zaren im Kaukasus und rühmt Heldentaten der sie betreibenden russischen Feldherren. Der Epilog des «Gefangenen im Kaukasus» — er entstand erst ein Jahr nach Beendigung seiner Kaukasus-Reise — ist dafür ein immer wieder zitierter Beleg. Puschkin besingt darin «jene ruhmreiche Stunde, als sich… auf dem unwirschen Kaukasus unser doppelköpfiger Adler erhob»[120]. Es folgt ein Defilee russischer Heerführer mit der Beschworung des Generals Ermolov als Apotheose.
Die Vers-Erzählung über den gefangenen Russen wird so in einen konkreten zeitgeschichtlichen Rahmen gestellt. In seiner Epoche hatte Puschkin wegen dieser patriotischen Verbrämung wenig Kritik zu gewärtigen; seine Auffassung wurde ganz überwiegend geteilt. Zurechtgewiesen wurde er lediglich von seinem Schriftsteller-Freund Furst Vjazemskij mit Worten, die bis heute wenig an Aktualitat eingebüßt haben:
Was sind Ermolov und Kotljarevskij schon für Helden?… Von solchem Ruhm erstarrt einem das Blut in den Adern, und die Haare stehen einem zu Berge. Wenn wir den Völkern Bildung beschert hätten, dann gäbe es etwas zu besingen. Die Dichtung ist keine Bundesgenossin von Henkern[121].
Heutige westliche Kommentatoren haben für den Vorgang das Wort vom «russischen literarischen Imperialismus» geprägt[122] — ein Phänomen, das keinesfalls auf Puschkin beschränkt ist. Elogen auf die Waffentaten Ermolovs im Kaukasus findet man auch bei anderen russischen Schriftstellem der Zeit, so bei Puschkins Freund Küchelbecker, bei Gribojedow, Lermontov, Bestuzhev-Marlinskij oder Denis Davydov[123]. Auch die Dekabristen fanden wenig an seinen kaukasischen Eroberer-Feldzügen auszusetzen; einer ihrer Führer, Pavel Pestel, verfocht ein Konzept, nach dem man den Kaukasus in der Art Ermolovs rücksichtslos befrieden müsse, notfalls auch durch Aussiedlung aufsässiger Bevölkerungsteile.
Puschkin blieb von der Gestalt Ermolovs fasziniert und plante einen Roman über den Kaukasus-Feldherm. Bei Lermontov, der ein ähnliches Erzähl-Projekt verfolgte, trägt die Begeisterung für Ermolov bereits Zuge einer Emiichterung: er plante eine Trilogie «aus dem kaukasischen Le-ben, mit dem Tiflis unter Ermolov, seiner Diktaturund seiner grausamen Unterwerfung des Kaukasus…»[124]. Als Puschkin sich 1829 auf die Reise nach Arzrum begab, stattete er dem inzwischen üngnadig aus dem Dienst entlassenen Feldherm in Orel einen Besuch ab, der im Einführungsteil der «Reise» beschrieben wird. Nach wie vor empfmdet Puschkin darin Hochachtung für die Leistung des Generals.
Puschkins imperiale Phantasie läßt ihn in eine künftige Epoche schweifen, in der er Rußland über den Kaukasus hinaus bis nach Indien vordringen sieht, wie dies in seinem Brief an den Bruder Lew vom 24.9.1820 anklingt. Er mag hier auch unter dem Einfluß von Ideen stehen, die sein Freund Gribojedow ihm vermittelt haben könnte. Dieser war seit einer ersten Reise in die Region im Jahre 1818 für den Kaukasus engagiert. Als Verfasser einer Denkschrift über die Einrichtung einer transkaukasischen Kompagnie hat Gribojedow die russische Kolonisierung auch in eine ganz konkrete Richtung voranzutreiben versucht. Wie er ist Puschkin von der zivilisatorischen Mission Rußlands zutiefst überzeugt. Schon der «Gefangene im Kaukasus» enthielt die Aussage, daß die Tscherkessen, ein Topos für die Kaukasus-Völker insgesamt, reif für die militärische und kulturelle Bezwingung durch Rußland seien. In der «Reise nach Arzrum» bringt er dies auf einen simplen Nenner: Samovar und Orthodoxie. «Es gibt noch ein Mittel, das stärker und sittlicher ist und mehr unserem aufgeklärten Jahrhundert entspricht: Die Verkündigung des Evangeliums»[125].
Daß Puschkin in der Eroberung des Kaukasus durch Rußland den Triumph einer überlegenen europäisch-christlichen Zivilisation sieht, kommt auch in dem unvollendet gebliebenen Poem «Tazit» aus den Jahren 1829/30 zum Ausdruck. Seine Hauptgestalt, der Tschetschene Tazit, sollte gemäß Puschkins Planskizze zum Christentum konvertieren und dann auf russischer Seite für die Eroberung des Kaukasus ins Feld ziehen.
Lermontov, der als poetischer Herold des Kaukasus nur wenig später in Puschkins Fußstapfen tritt, entdeckt bereits fragwürdige Aspekte in einer Missionierung des Kaukasus durch Rußland. Der Kaukasus ist ihm Zufluchtsort vor dem «ungewaschenen Rußland», wie er dies in einem berühmten Gedicht von 1841 ausdrückt. Zugleich durchschaut er, der an Feldzügen vor Ort teilnimmt, die ganze Brutalität des Kriegsgeschehens. Die «Asiaten», wie er die Gegner nennt, finden zwar wenig Mitgefühl vor seinen Augen, aber von einem Aufruf zur Mission ist nicht mehr die Rede.
3. Die Nachwirkung
Vor allem zwischen 1820 und 1840 nimmt das Kaukasus-Paradigma in der russischen Literatur einen auffälligen Platz ein. Spektakuläre Populärity erreichte in den 1830er Jahren Alexander Bestuzhev-Marlinskij mit seinen farbigen Romanen aus dem Kaukasus-Milieu. Lermontovs «Held unserer Zeit» variiert das gleiche Thema. Der einflußreiche Kritiker Belinskij, der 1837 in nordkaukasischen Bädern kurte, kommentierte die durch Puschkin geschaffene literarische Modewelle zu Kaukasus-Motiven; er zeigt sich beeindruckt von ihrer Frische und Originalität.
Den Akzent für die literarische Behandlung des Sujets setzte Puschkin durch seinen «Gefangenen im Kaukasus». Die erzählerische Seite ist darin eng verwoben mit Aspekten eines imperial motivierten russischen Patriotismus. Daß Puschkin — im Gegensatz zu dem ihn kritisierenden Vjazemskij — nie die Gelegenheit hatte, nach Westeuropa zu reisen, und in seinem Erlebnishorizont auf das «unermessliche Rußland» beschränkt blieb, mag dabei seine Optik wesentlich mit bestimmt haben. Schon während seiner Verbannung im moldauischen Kischinjov hatte er dem militärischen Einsatz zum Ruhme der russischen Orthodoxie gegen den muslimischen Feind entgegengefiebert. Wenige Jahre später zeigte er offene Sympathien für die Niederschlagung des polnischen Aufstandes 1830/31, bei dem der von ihm wegen seiner Taten im Kaukasus bewunderte General Paskevitsch eine Schlüsselrolle spielte. Ausdruck dieser Sympathie ist das Gedicht «An die Verleumder Rußlands» von 1830, bemerkenswerterweise das meistübersetzte Gedicht Puschkins ins Deutsche über das gesamte 19. Jahrhundert. In dem 1831 entstandenen Gedicht «Jahrestag von Borodino» besingt Puschkin in patriotischem Geist die Einnahme Warschaus durch Paskevitsch und erinnert sich dabei lebhaft vorausgegangener Eroberungstaten des Generals im Kaukasus.
Man wird Puschkin kaum einen Gefallen tun, wenn man diesen zeitbedingten Aspekt seines Kaukasus-Bildes übertüncht, wie dies gelegentlich auch heutige russische Autoren noch versuchen[126]. Es tut seinem Genie keinen Abbruch. Gerade bezüglich des Kaukasus war er von einer imperialen Sendung Rußlands tief überzeugt und hat sie in seinem Werk offen zum Ausdruck gebracht. Damit begründete er eine Tradition der kulturellen Aneignung des Kaukasus durch Rußland, die der militärischen auf dem Fuße folgte. Als die militärische im Jahre 1859 durch den Sieg über Shamil, den Imam von Dagestan, endlich zu einem Abschluß gelangte, empfand Rußland dies als Gelegenheit, einen «russischen, einen Pushkin-Toast» an Lord Palmerston und Napoleon III zu senden, gegen die man soeben im Krim-Krieg bitter unterlegen war[127].