»Hier in Paris. Kommen Sie, steigen Sie ein. Ich wußte nicht, daß Sie schon zurück waren.«
»Ich habe Sie ein paarmal angerufen. Haben Sie Ihr Hotel gewechselt?«
»Nein. Immer noch im ›Prince de Galles‹.« Ravic öffnete den Schlag des Wagens. »Kommen Sie. Ich nehme Sie mit. Ein Taxi kriegen Sie nicht leicht um diese Zeit.«
Haake setzte einen Fuß auf das Trittbrett. Ravic spürte seinen Atem. Er sah das erhitzte, rote Gesicht. »Prince de Galles«, sagte Haake. »Verdammt, ja, das war es! Prince de Galles! Ich habe dauernd im George V angerufen.« Er lachte laut. »Kannte Sie keiner da. Nun verstehe ich! Prince de Galles, natürlich! Habe das verwechselt. Mein altes Notizbuch nicht mitgenommen. Dachte, ich hätte es im Kopf.
Ravic hatte den Eingang im Auge. Es würde noch eine Zeitlang dauern, ehe jemand herauskam. Die Mädchen mußten sich erst umziehen. Trotzdem mußte er Haake so rasch wie möglich in den Wagen kriegen. »Wollten Sie hier hinein?« fragte Haake gemütlich.
»Ich dachte daran. Wird aber schon zu spät sein.« Haake blies den Atem geräuschvoll durch die Nase. »Sie sagen es, mein Lieber. Ich war der letzte. Schluß hier in der Bude.«
»Macht nichts. Ist sowieso langweilig. Gehen wir anderswohin! Kommen Sie.«
»Gibt’s noch was?«
»Natürlich. Die richtigen Buden fangen erst an. Dies hier ist nur für Touristen.«
»Wirklich? Ich dachte... dies hier ist doch schon allerhand.«
»Gar nichts. Es gibt viel Besseres. Dies hier ist nur ein Puff .«
Ravic tippte ein paarmal auf das Gaspedal. Der Motor brauste auf und verebbte. Er hatte richtig gerechnet; Haake kletterte umständlich auf den Sitz neben ihm. »Nett, Sie wiederzusehen«, sagte er. »Wirklich nett.«
Ravic griff über ihn weg und zog die Tür zu. »Ich freue mich auch sehr.«
»Interessante Bude da! Haufen nackter Mädchen. Daß die Polizei das erlaubt! Sind doch wahrscheinlich meistens krank, wie?«
»Möglich. Man geht in diesen Plätzen natürlich nie sicher.«
Ravic fuhr an. »Gibt’s Plätze, die absolut sicher sind?«
Haake biß eine Zigarre ab. »Möchte nicht gern mit einem Tripper nach Hause kommen. Anderseits: man lebt nur einmal.«
»Ja«, sagte Ravic und gab Haake den elektrischen Anzünder hinüber.
»Wohin fahren wir?«
»Wie wäre es mit einem Maison de Rendezvous für den Anfang?«
»Ein Haus, in dem Frauen der Gesellschaft Abenteuer suchen.«
»Was? Wirkliche Frauen der Gesellschaft ?«
»Ja. Frauen, die zu alte Männer haben. Frauen, die zu langweilige Männer haben. Frauen, deren Männer nicht genug Geld verdienen.«
»Aber wie... die können doch nicht einfach ..., wie geht das denn vor sich?«
»Die Frauen kommen dahin auf eine Stunde oder ein paar Stunden. So wie zu einem Cocktail oder zu einem Nightcup. Manche lassen sich auch anrufen und kommen dann. Es ist natürlich keine Bude wie die hier in Montmartre. Ich kenne da ein sehr schönes Haus, mitten im Bois. Die Besitzerin sieht aus, wie eine Herzogin aussehen sollte. Alles äußerst vornehm und diskret und elegant.«
Ravic sprach langsam und ruhig, mit langsamem Atem. Er hörte sich reden wie einen Touristenführer, aber er zwang sich, weiterzusprechen, um ruhiger zu werden. In seinen Armen zitterten die Adern. Er griff das Steuerrad fest mit beiden Händen, um es zu unterdrücken. »Sie werden erstaunt sein, wenn Sie die Räume sehen«, sagte er. »Die Möbel sind alle echt, die Teppiche und die Gobelins alt, der Wein ist ausgesucht, das Service ist exquisit, und mit den Frauen sind Sie natürlich absolut sicher.«
Haake blies den Rauch seiner Zigarre aus. Er wandte sich Ravic zu. »Hören Sie, das klingt alles wunderbar, mein lieber Herr von Horn. Nur eins ist da die Frage: Das ist sicher nicht billig?«
»Es ist absolut nicht teuer.«
Haake lachte kollernd und etwas verlegen. »Kommt darauf an, was man darunter versteht! Wir Deutschen mit unsern paar Devisen...«
Ravic schüttelte den Kopf. »Ich kenne die Besitzerin sehr gut. Sie ist mir verpflichtet. Sie betrachtet uns als Spezialgäste. Wenn Sie kommen, kommen Sie als Freund von mir und dürfen wahrscheinlich nicht einmal zahlen. Ein paar Trinkgelder höchstens — weniger, als Sie für eine Flasche in der ›Osiris‹ zahlen.«
»Wirklich?« — »Sie werden es sehen.«
Haake rückte sich zurecht. »Donnerwetter, das ist ja allerhand.«
Er schmunzelte breit zu Ravic hinüber. »Sie scheinen glänzend Bescheid zu wissen! Muß schon ein guter Dienst gewesen sein, den Sie der Frau geleistet haben.«
Ravic sah ihn an. Er sah ihm gerade in die Augen. »Häuser dieser Art haben manchmal Schwierigkeiten mit Behörden. Leichte Erpressungsversuche. Sie wissen doch, was ich meine?«
»Und ob!« Haake war einen Augenblick nachdenklich. »Haben Sie so viel Einfluß hier?«
»Nicht viel. Ein paar Freunde in einflußreichen Stellen.«
»Das ist schon etwas! Wir können das gut brauchen. Können wir nicht einmal darüber reden?«
»Gewiß. Wie lange bleiben Sie noch in Paris?«
Haake lachte. »Ich scheine Sie immer zu treffen, wenn ich gerade abreise. Ich fahre um sieben Uhr dreißig früh.« Er sah auf die Uhr im Wagen. »In zweieinhalb Stunden. Wollte es Ihnen schon sagen. Ich muß dann am Gare du Nord sein. Können wir das schaffen?«
»Leicht. Müssen Sie vorher noch ins Hotel?«
»Nein. Mein Handgepäck ist schon am Bahnhof. Habe das Hotel nachmittags aufgegeben. Spare so einen Tag Miete. Mit unseren Devisen...« Er lachte wieder.
Ravic merkte plötzlich, daß er auch lachte. Er preßte die Hände fest um das Steuerrad. Unmöglich, dachte er, das ist unmöglich!
Irgend etwas wird geschehen und noch dazwischenkommen. So viel Zufall ist unmöglich.
Die frische Luft brachte den Alkohol in Haake heraus. Seine Stimme wurde langsamer und schwerer. Er rückte sich in seiner Ecke zurecht und begann zu dösen. Sein Unterkiefer klappte herunter, und seine Augen schlossen sich. Der Wagen bog in das lautlose Dunkel des Bois ein.
Die Scheinwerfer flogen wie lautlose Gespenster dem Wagen voraus und rissen Geisterbäume aus der Finsternis. Der Geruch von Akazien stürzte durch die offenen Fenster. Das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt, sanft, ständig, als wolle es nie enden. Der Motor, summend, vertraut, tief und leise in der feuchten Nachtluft. Der Schimmer eines kleinen Teiches, die Silhouette der Weiden, heller vor den dunklen Buchen. Wiesen, übertaut, perlmuttern, fahl. Die Route de Madrid, die Route de la Porte St.-James, die Route de Deuilly. Ein verschlafenes Haus. Der Geruch von Wasser. Die Seine.
Ravic fuhr den Boulevard de la Seine entlang. Auf dem mondbeschienenen Wasser trieben, in Abständen, schwarz, zwei Schifferbarken. Von der entfernteren bellte ein Hund. Über das Wasser kamen Stimmen. Auf dem Vorderteil der ersten Barke brannte ein Licht. Ravic hielt den Wagen nicht an. Er hielt ihn in gleichmäßigem Tempo, um Haake nicht zu wecken, und fuhr die Seine entlang. Er hatte hier halten wollen. Es war unmöglich. Die Barken waren zu dicht am Ufer. Er bog in die Route de la Femme ein, weg vom Fluß, zurück zur Allee de Longchamps. Er folgte ihr über die Allee de la Reine Marguerite und bog dann in die schmaleren Alleen ein.
Als er zu Haake hinüberblickte, sah er, daß dessen Augen offen waren. Haake blickte ihn an. Seine Augen glänzten wie blaue Glasbälle im schwachen Licht des Instrumentenbrettes. Es war wie ein elektrischer Schlag. »Aufgewacht?« fragte Ravic.
Haake antwortete nicht. Er sah Ravic an. Er bewegte sich nicht. Selbst seine Augen bewegten sich nicht.
»Wo sind wir?« fragte er endlich.
»Im Bois de Boulogne. Dicht beim ›Restaurant des Cascades‹.«
»Wie lange fahren wir schon?«
»Zehn Minuten.«
»Wir fahren länger.«
»Kaum.«
»Bevor ich einschlief, habe ich auf die Uhr gesehen.Wir fahren über eine halbe Stunde.«
»Wirklich?« sagte Ravic. »Ich dachte, es wäre kürzer. Wir sind bald da.«
Haake hatte seine Augen nicht von Ravic gelassen. »Wo?«