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Er setzte sich an den Tisch neben der Tür. Ein Kellner brachte eine Karaffe Wodka. Das Orchester schien zu schleppen. Der süßliche Melodiennebel kroch und kroch, schneckenhaft langsam. J’attendrai — j’attendrai.

Die Sängerin verneigte sich. Applaus flatterte auf. Ravic beugte sich vor. Er wartete auf das Erlöschen des Scheinwerfers. Die Sängerin wandte sich zum Orchester. Der Zigeuner nickte und setzte die Geige an. Das Cymbal warf ein paar gedämpfte Läufe hoch. Das zweite Lied. La chapelle au clair de la lune. Ravic schloß die Augen. Das Warten war fast unerträglich.

Er saß wieder aufrecht, lange, bevor das Lied zu Ende war. Der Scheinwerfer erlosch. Die Lichter an den Tischen glühten auf. Er konnte im ersten Moment nichts anderes sehen als undeutliche Umrisse. Er hatte zu lange in den Scheinwerfer gestarrt. Er schloß noch einmal die Augen und sah auf. Er fand den Tisch sofort.

Langsam lehnte er sich zurück. Keiner der Männer war Haake. Er blieb lange so sitzen. Er war plötzlich entsetzlich müde. Müde hinter den Augen. Es trieb in stoßweisen, ungleichen Wellen heran. Die Musik, das Auf und Ab der Stimmen, der gedämpfte Lärm benebelten ihn nach der Stille des Hotelzimmers und der neuen Enttäuschung. Es war wie ein Schlafkaleidoskop, eine sachte Hypnose, die die roh gedachten, verwarteten Gehirnzellen einhüllte.

Irgendwann, in dem matten Lichtpunkt, in dem die Tanzenden trieben, sah er Joan. Das geöffnete, durstige Gesicht war zurückgebeugt, der Kopf nahe der Schulter eines Mannes. Er empfand nichts dabei. Niemand konnte ihm fremder werden als ein Mensch, den man einmal geliebt hatte, dachte er müde. Wenn die rätselhafte Nabelschnur zwischen Phantasie und Objekt gerissen war, konnte es vielleicht noch wetterleuchten von einem zum andern, fluoreszieren, wie von geisterhaften Sternen; aber es war ein totes Licht. Es erregte, aber es zündete nicht mehr — nichts floß mehr herüber und hinüber. Er legte den Kopf zurück gegen die Rücklehne der Banquette. Das bißchen Vertrautheit über Abgründen. Die Dunkelheit der Geschlechter mit all ihren süßen Namen. Sternblumen über einem Meer, in dem man versank, wenn man sie pflücken wollte.

Er richtete sich auf. Er mußte hier heraus, bevor er einschlief. Er winkte dem Kellner. »Zahlen.«

»Da ist nichts zu zahlen«, sagte der Kellner.

»Wieso?«

»Sie haben nichts getrunken.«

»Ach so, richtig.«

Er gab dem Mann ein Trinkgeld und ging.

»Nein?« fragte Morosow draußen.

»Nein«, erwiderte Ravic.

Morosow sah ihn an. »Ich gebe auf«, sagte Ravic. »Es ist ein verdammtes, lächerliches Indianerspiel. Fünf Tage warte ich jetzt schon. Haake hat mir gesagt, daß er immer nur zwei, drei Tage in Paris bleibt. Danach muß er jetzt schon wieder weg sein. Wenn er überhaupt hier war.«

»Geh schlafen«, sagte Morosow.

»Ich kann nicht schlafen. Ich fahre jetzt zurück zum ›Prince de Galles‹, hole meine Koffer und gebe die Bude auf.«

»Gut«, sagte Morosow. »Ich treffe dich dann morgen mittag da.« »Wo?« »Im ›Prince de Galles‹.« Ravic sah ihn an. »Ja, natürlich. Ich rede Unsinn. Oder nicht. Vielleicht auch nicht.« »Warte noch bis morgen abend.« »Gut. Ich will sehen. Gute Nacht, Boris.« »Gute Nacht, Ravic.«

Ravic fuhr an der »Osiris« vorbei. Er parkte den Wagen um die Ecke. Ihm graute davor, in sein Zimmer im »International« zu gehen. Vielleicht konnte er hier ein paar Stunden schlafen. Es war Montag. Ein ruhiger Tag für Bordelle. Der Portier war nicht draußen. Wahrscheinlich kaum jemand da.

Rolande stand in der Nähe der Tür und überblickte den großen Raum. Die Musikorgel lärmte durch den fast leeren Raum. »Nicht viel los heute, wie?« fragte Ravic.

»Nichts. Nur noch dieser Langweiler da. Geil wie ein Affe, will aber nicht ’raufgehen. Kennst ja den Typ. Möchte, aber hat Angst. Wieder mal ein Deutscher. Na, er hat gezahlt; lange kann es nicht mehr dauern.«

Ravic sah gleichgültig zu dem Tisch hinüber. Der Mann saß mit dem Rücken zu ihm. Er hatte zwei Mädchen bei sich. Als er sich zu einer hinüberbeugte und ihre beiden Brüste in seine Hände nahm, sah Ravic sein Gesicht. Es war Haake.

Er hörte Rolande durch einen Wirbel sprechen. Er verstand nicht, was sie sagte. Er merkte nur, daß er zurückgetreten war und jetzt in der Tür stand, so, daß er gerade noch den Rand des Tisches sehen und selbst nicht gesehen werden konnte.

»Einen Kognak?« kam Rolandes Stimme endlich durch den Wirbel.

Das Kreischen der Orgel. Das Schwanken immer noch, der Krampf im Zwerchfell. Ravic grub die Nägel in seine Fäuste.

Haake durfte ihn hier nicht sehen. Und Rolande durfte nicht sehen, daß er ihn kannte.

»Nein«, hörte er sich sagen. »Habe schon genug gehabt. Deutscher, sagst du? Kennst du ihn?«

»Keine Ahnung.« Rolande zuckte die Schultern.

»Einer sieht aus wie der andere. Glaube, dieser war noch nie hier. Willst du nicht noch etwas trinken?«

»Nein. Habe nur mal rasch hineingesehen...«

Er fühlte, daß Rolande ihn ansah, und zwang sich zur Ruhe. »Ich wollte eigentlich nur hören, wann dein Abend ist«, sagte er. »War es Donnerstag oder Freitag?«

»Donnerstag, Ravic. Du kommst doch?«

»Selbstverständlich. Ich wollte nur ganz sicher sein.«

»Donnerstag um sechs Uhr.«

»Gut. Ich werde pünktlich sein. Das war alles, was ich wollte. Ich muß jetzt fort. Gute Nacht, Rolande.«

»Gute Nacht, Ravic.«

Die weiße Nacht, brausend plötzlich. Keine Häuser mehr — Steindickicht, Fensterdschungel. Krieg plötzlich wieder, schleichende Patrouille, die leere Straße entlang. Der Unterstand des Wagens, hineingeduckt, der Motor summend, lauern auf den Gegner.

Niederschießen, wenn er herauskam? Ravic sah die Straße hinauf. Ein paar Wagen. Gelbe Lichter. Ein paar Katzen. Unter einer Laterne, fern, etwas, das wie ein Polizist aussah. Die eigene Wagennummer, der Lärm des Schusses, Rolande, die ihn kurz vorher gesehen hatte — er hörte Morosow: »Riskier nichts, nichts, das ist so was nicht wert.«

Kein Portier. Kein Taxi! Gut! Montags gab es um diese Zeit wenig Fuhren. Im Augenblick, als er es dachte, ratterte ein Citroën heran und hielt vor der Tür. Der Chauffeur zündete sich eine Zigarette an und gähnte laut. Ravic fühlte, wie seine Haut sich zusammenzog.

Er wartete.

Er überlegte, ob er aussteigen und dem Chauffeur sagen sollte, niemand sei mehr da. Unmöglich. Ihn wegschicken, bezahlen, mit irgendeinem Auftrag Zu Morosow. Er riß einen Zettel heraus, schrieb ein paar Zeilen, zerriß sie, schrieb sie neu. Morosow möchte nicht auf ihn warten in der Scheherazade, unterschrieb irgendeinen Namen...

Das Taxi startete und fuhr an. Er starrte hinaus, konnte aber nichts sehen. Er wußte nicht, ob Haake eingestiegen war, während er schrieb. Er schaltete rasch den ersten Gang ein. Der Talbot schoß um die Ecke, dem Taxi nach.

Er sah niemand durch die rückwärtige Scheibe. Aber Haake konnte an der Seite sitzen. Er überholte langsam das Taxi. In der Dunkelheit des Fonds war nichts zu erkennen. Er fiel zurück und kam wieder vor, so dicht wie möglich neben dem andern Wagen. Der Chauffeur drehte sich um und begann zu schimpfen. »He, Idiot! Willst du mich einklemmen?«

»Da ist ein Freund von mir in deinem Wagen.« »Besoffener Hohlkopf«, brüllte der Chauffeur. »Siehst du nicht, daß der Wagen leer ist?«

Ravic hatte im gleichen Moment selbst gesehen, daß die Taxiuhr nicht eingeschaltet war. Er drehte scharf um und jagte zurück. Haake stand am Rande der Straße. Er winkte. »Hallo, Taxi!« Ravic fuhr heran und bremste. »Taxi?« sagte Haake. »Nein«, Ravic beugte sich aus dem Fenster. »Hallo«, sagte er. Haake sah ihn an. Seine Augen verengten sich. »Was?« »Ich glaube, wir kennen uns«, sagte Ravic auf deutsch. Haake beugte sich vor. Das Mißtrauen verschwand aus seinem Gesicht. »Mein Gott — Herr von... von...«

»Horn.«

»Richtig! Richtig! Herr von Horn! Natürlich! So ein Zufall! Mann, wo haben Sie denn all die Zeit gesteckt?«

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