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Der Geruch des Regens, die tote, heiße Schwüle, die sich mit dem Geruch des Parfüms, der Haut und der feuchten Haare vermischten. Die Gesichter, abgewaschen vom Regen, waren nackter unter den Perücken als je vorher ohne Kostüm. Ravic blickte umher; er sah viel Schönheit um sich herum; er sah auch Geist und skeptische Klugheit — aber sein Auge war ebenso trainiert auf die leichten Zeichen von Krankheit, und er wurde nicht leicht getäuscht durch eine perfekte Oberfläche. Er wußte, daß eine bestimmte Gesellschaft in allen Jahrhunderten, großen und kleinen, dieselbe war — aber er wußte auch, was Fieber und Zerfall waren, und er kannte ihre Symptome. Laue Promiskuität, die Toleranz der Schwäche; der Sport ohne Stärke; Geist ohne Diskretion; Witz des Witzes wegen; Blut, das müde war, zerfunkelt in Ironie, in kleinen Abenteuern, in schaler Gier, in geschliffenem Fatalismus, in matter Zwecklosigkeit. Von hier würde die Welt nicht gerettet werden, dachte er. Aber von wo?

Er blickte zu Kate Hegström hinüber. »Sie bekommen nichts zu trinken«, sagte sie. »Die Diener kommen nicht durch.«

»Das macht nichts.«

Sie wurden langsam in das nächste Zimmer gedrängt. Tische mit Champagner standen an der Wand, sie wurden hereingeholt und rasch aufgebaut.

Irgendwo brannten ein paar Leuchter. Durch ihr weiches Licht zuckten die Blitze von draußen und rissen für Augenblicke die Gesichter in einen fahlen, gespenstischen Sekundentod. Dann rollte der Donner und übertönte die Stimmen und herrschte und drohte — bis das weiche Licht wiederkam und mit ihm das Leben und die Schwüle.

Ravic zeigte zu den Champagnertischen hinüber. »Soll ich Ihnen davon etwas holen?«

»Nein. Es ist zu heiß.« Kate Hegström sah ihn an. »Das ist nun mein Fest.«

»Vielleicht hört es bald auf zu regnen.«

»Nein. Und wenn auch — es ist verdorben. Wissen Sie, was ich möchte? Fort...«

»Gut. Ich auch. Dies hier ist wie kurz vor der Französischen Revolution. Man erwartet jeden Moment die Sansculottes.«

Es dauerte lange, bis sie den Ausgang erreichten. Kate Hegströms Kostüm sah hinterher aus, als hätte sie einige Stunden darin geschlafen. Der Regen fiel draußen schwer und gerade hernieder. Die Häuser gegenüber wirkten, als lägen sie hinter der wasserüberflossenen Scheibe eines Blumengeschäftes.

Der Wagen summte heran. »Wohin wollen Sie?« fragte Ravic. »Ins Hotel zurück?«

»Noch nicht. Aber wir können sonst nirgendwohin in diesen Kostümen gehen. Lassen Sie uns noch etwas herumfahren.«

»Gut.«

Der Wagen glitt langsam durch das abendliche Paris. Der Regen klopfte auf das Dach und übertönte fast alle anderen Geräusche. Der Arc de Triomphe hob sich grau aus dem silbernen Fließen und verschwand. Die Champs-Elysées mit ihren erleuchteten Fenstern glitten vorüber.

Das Rond Point duftete nach Blumen und Frische, eine bunte Woge in all dem Rauch. Weit, wie ein Meer, mit seinen Tritonen und Meerungeheuern, dämmerte der Place de la Concorde. Die Rue de Rivoli schwamm heran mit ihren hellen Bogengängen, ein flüchtiger Glanz von Venedig, bevor der Louvre grau und ewig sich erhob mit dem endlosen Hof, funkelnd in allen Fenstern. Die Kais dann, die Brücken, schwingend, unwirklich in dem sachten Strömen. Lastkähne, ein Schlepper mit einem warmen Licht, tröstlich, als berge es tausend Heimaten. Die Seine. Die Boulevards, mit Omnibussen, Lärm, Menschen und Läden. Die eisernen Gitter des Luxembourg, der Park dahinter wie ein Rilkegedicht. Der Cimetière Montparnasse, schweigend, verlassen. Die schmalen, alten Straßen, eng zusammengeschoben, Häuser, stille Plätze, überraschend sich öffnend, mit Bäumen, windschiefen Fassaden, Kirchen, verwitterten Denkmälern, Laternen, im Regen flatternd, Pissoirs, wie kleine Forts aus der Erde ragend, die Gassen der Stundenhotels und dazwischen die Straßen der Vergangenheit, im reinen Rokoko und Barock ihrer Häuserfronten herniederlächelnd, verdämmerte Tore wie aus Romanen von Proust....

Kate Hegström saß in ihrer Ecke und schwieg. Ravic rauchte. Er sah das Licht der Zigarette, aber er spürte den Rauch nicht. Es war, als rauche er im Dunkel des Wagens eine stofflose Zigarette, und langsam erschien ihm, als wäre alles unreal — diese Fahrt, dieser lautlose Wagen im Regen, die Straßen, die vorüberglitten, die stille Frau in der Ecke in ihrem Kostüm, über daß die Reflexe der Lichter huschten, die Hände, die der Tod schon gezeichnet hatte und die bewegungslos auf dem Brokat lagen, als würden sie sich nie mehr regen — es war eine geisterhafte Fahrt durch ein geisterhaftes Paris, sonderbar durchweht von einem unausgedachten Wissen und einem unausgesprochenen Abschied ohne Grund.

Er dachte an Haake. Er versuchte zu überlegen, was er tun wolle. Er konnte es nicht; es zerrann in Regen. Er dachte an die Frau mit dem rotgoldenen Haar, die er operiert hatte. Er dachte an einen regnerischen Abend in Rothenburg ob der Tauber mit einer Frau, die er vergessen hatte; an das Hotel Eisenhut und eine Geige aus einem unbekannten Fenster. Romberg fiel ihm ein, der 1917 im Gewitter auf einem flandrischen Mohnfeld gefallen war, einem Gewitter, das gespenstisch in das Trommelfeuer gedröhnt hatte, als sei Gott der Menschen müde geworden und hätte begonnen, die Erde zu beschießen. Er dachte an eine Ziehharmonika, jammernd und schlecht und voll unerträglicher Sehnsucht in Houthoulst gespielt von einem Soldaten des Marine-Bataillons — Rom im Regen glitt durch seine Gedanken, eine nasse Landstraße in Rouen — der ewige Novemberregen auf den Dächern der Barakken im Konzentrationslager; tote spanische Bauern, in deren offenen Mündern das Wasser sich gesammelt hatte — das feuchte, helle Gesicht Claires, der Weg mit schwer riechendem Flieder zur Universität in Heidelberg — eine Laterna magica des Gewesenen — die endlose Prozession vergangener Bilder, vorübergleitend wie die Straßen draußen, Gift und Trost...

Er drückte seine Zigarette aus und richtete sich auf. Genug. Wer viel zurückschaute, konnte leicht gegen irgend etwas rennen oder abstürzen.

Der Wagen klomm jetzt die Gassen des Montmartre hinauf. Es hörte auf zu regnen. Wolken strichen über den Himmel, versilbert, schwer und eilig, trächtige Mütter, die rasch etwas Mond gebären wollten. Kate Hegström ließ den Wagen halten. Sie stiegen aus und gingen ein paar Gassen hinauf, um eine Ecke.

Unten lag plötzlich Paris. Weitgestreckt, flimmernd, naß, Paris. Mit Straßen, Plätzen, Nacht, Wolken und Mond, Paris. Der Kranz der Boulevards, der bleiche Schimmer der Abhänge, Türme, Dächer, Dunkelheit gegen Licht geworfen. Paris. Wind von den Horizonten, Funkeln der Ebene, Brücken aus Schwarz und Helle, Schauerregen fern über der Seine verfliegend, die zahllosen Lichter der Wagen, Paris. Abgetrotzt der Nacht, gigantischer Bienenkorb summenden Lebens, aufgebaut über Millionen von Dreckkanälen, Lichtblüte über seinem Gestank unter der Erde, Krebs und Mona Lisa, Paris.

»Einen Augenblick, Kate«, sagte Ravic. »Ich will uns etwas holen.« Er ging in die Kneipe nebenan. Ein warmer Geruch von frischer Blut- und Leberwurst schlug ihm entgegen. Niemand kümmerte sich um sein Kostüm. Er bekam eine Flasche Kognak und zwei Gläser. Der Wirt öffnete die Flasche und steckte den Korken leicht wieder in den Hals.

Kate Hegström stand draußen, genau wie er sie verlassen hatte. Sie stand da in ihrem Kostüm, schmal gegen den bewegten Himmel — als wäre sie vergessen worden aus einem andern Jahrhundert und nicht eine Amerikanerin schwedischer Herkunft aus Boston.

»Hier, Kate. Das Beste gegen Kühle, Regen und den Aufruhr allzu großer Stille. Trinken wir das hier auf die Stadt da unten.«

»Ja.« Sie nahm das Glas. »Gut, daß wir hier heraufgefahren sind, Ravic. Besser als alle Feste der Welt.«

Sie trank das Glas aus. Der Mond fiel über ihre Schultern und ihr Kleid und ihr Gesicht.

»Kognak«, sagte sie. »Guter sogar.«

»Richtig. Solange Sie das erkennen, ist alles in Ordnung.«

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