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»Sagen die Schlächter. Nicht die Ochsen. Sagen die Wissenschaftler. Nie die Meerschweinchen. Sagen die Ärzte. Nie die weißen Mäuse.«

»Richtig. — Es lebe das Gesetz vom zureichenden Grund. Komm, Boris, laß uns ein Glas trinken auf die Schönheit — die holde Ewigkeit der Sekunde. Weißt du, was der Mensch auch als einziger kann? Lachen und weinen.«

»Und sich betrinken. Mit Schnaps, Wein, Philosophie und Weibern und Hoffnung und Verzweiflung. Weißt du, was er auch als einziger weiß? Daß er sterben muß. Als Gegengift bekam er die Phantasie. Der Stein ist real. Die Pflanze auch. Das Tier ebenfalls. Sie sind zweckmäßig. Sie wissen nicht, daß sie sterben müssen. Der Mensch weiß es. Hebe dich, Seele! Fliege! Schluchze nicht, du legaler Mörder! Haben wir nicht soeben das Hohelied der Menschheit gesungen?«

Morosow schüttelte die graue Palme, daß der Staub flog. »Braves Symbol rührend südlicher Hoffnung, Traumpflanze einer französischen Hotelwirtin, lebe wohl! Und du auch, Mann ohne Heimat, Schlinggewächs ohne Erde, Taschendieb des Todes, lebe wohl! Sei stolz, daß du ein Romantiker bist!«

Er grinste Ravic an.

Ravic grinste nicht zurück. Er sah zur Tür. Sie hatte sich geöffnet. Der Nachtportier kam herein. Er kam auf den Tisch zu. Telefon, dachte Ravic. Endlich! Doch!

Er stand nicht auf.

Er wartete. Er fühlte, wie seine Arme sich spannten.

»Ihre Zigaretten, Herr Morosow«, sagte der Portier. »Der Junge hat sie gerade gebracht.«

»Danke.« Morosow steckte die Schachtel mit den russischen Zigaretten ein. »Servus, Ravic. Sehe ich dich später?«

»Vielleicht. Servus, Boris.«

Der Mann ohne Magen starrte Ravic an. Ihm war schlecht, aber er konnte nicht erbrechen. Er hatte nichts mehr, womit er erbrechen konnte. Ihm war wie einem Mann ohne Beine, dem die Füße schmerzten.

Er war sehr unruhig. Ravic gab ihm eine Spritze. Der Mann hatte nicht viel Chance, am Leben zu bleiben. Das Herz war nicht besonders, und eine der Lungen war voll von verkapselten Kavernen. Für fünfunddreißig Jahre hatte er nicht viel Gesundheit in seinem Leben gehabt. Magenulcus seit Jahren, eine verheilte Tuberkulose und jetzt Krebs. Die Krankengeschichte zeigte, daß er vier Jahre verheiratet gewesen war; die Frau war im Kindbett gestorben; das Kind drei Jahre später an Tuberkulose. Keine andern Angehörigen. Da lag das nun und starrte ihn an und wollte nicht sterben und war geduldig und mutig und wußte nicht, daß er durch den Darm ernährt werden mußte und nicht mehr eine der wenigen Freuden seines Daseins, Senfgurken und gekochtes Rindfleisch, essen durfte. Er lag da und roch und war zerschnitten und hatte irgend etwas, das seine Augen bewegte und das man Seele nannte. Sei stolz, daß du ein Romantiker bist! Das Hohelied der Menschheit.

Ravic hängte die Tafel mit der Fieberziffer und der Pulsangabe zurück. Die Schwester stand auf und wartete. Sie hatte einen angefangenen Sweater neben sich auf dem Stuhl liegen. Die Stricknadel steckte darin, und ein Knäuel Wolle lag auf dem Boden.

Der dünne Faden Wolle, der herunterhing, war wie ein dünner Faden Blut; als blute der Sweater herunter.

Der liegt da, dachte Ravic, und selbst mit der Spritze wird er eine scheußliche Nacht haben mit Schmerzen, Unbeweglichkeit, Atemnot und Schreckensträumen, und ich warte auf eine Frau und glaube, daß es eine schwierige Nacht für mich werden wird, wenn sie nicht kommt. Ich weiß, wie lächerlich das ist, verglichen mit diesem Sterbenden hier, verglichen mit Gaston Perrier nebenan, dessen Arm zerschmettert ist, verglichen mit tausend andern, verglichen mit all dem, was in der Welt heute nacht passiert, und es nützt mir trotzdem nichts. Es nützt nichts, es hilft nichts, es ändert nichts, es bleibt dasselbe. Was hatte Morosow gesagt? Warum hast du keine Magenschmerzen? Ja, warum nicht?

»Rufen Sie mich an, wenn irgend etwas passiert«, sagte er zu der Schwester. Es war dieselbe, die von Kate Hegström das Grammophon geschenkt bekommen hatte.

»Der Herr ist sehr ergeben«, sagte sie.

»Was ist er?« fragte Ravic erstaunt.

»Sehr ergeben. Ein guter Patient.«

Ravic sah umher. Da war nichts, was die Nurse als Geschenk erwarten konnte. Sehr ergeben — was für Ausdrükke die Krankenschwestern manchmal hatten! Der arme Teufel da kämpfte mit allen Armeen seiner Blutkörper und seiner Nervenzellen gegen den Tod — er war nicht die Spur ergeben.

Er ging zum Hotel zurück.Vor der Tür traf er Goldberg. Ein alter Mann mit einem grauen Bart und einer dicken goldenen Uhrkette auf der Weste.

»Schöner Abend«, sagte Goldberg.

»Ja.« Ravic dachte an die Frau in Wiesenhoffs Zimmer. »Wollen Sie nicht noch etwas Spazierengehen?« fragte er.

»Ich war schon. Bis zum Concorde und zurück.«

Bis zum Concorde. Da lag die Amerikanische Botschaft. Weiß unter den Sternen, still und leer, eine Arche Noah, in der es Stempel für Visa gab, unerreichbar. Goldberg hatte davor gestanden, draußen, neben dem Crillon, und auf den Eingang und die dunklen Fenster gestarrt wie auf einen Rembrandt oder den Koh-i-noor-Diamanten.«

»Wollen wir nicht noch etwas gehen? Zum Arc zurück?« fragte Ravic und dachte: Wenn ich die zwei da oben rette, wird Joan in meinem Zimmer sein oder, sie wird inzwischen kommen.

Goldberg schüttelte den Kopf.

»Ich muß ’rauf. Meine Frau wartet sicher schon. Ich war über zwei Stunden fort.«

Ravic sah auf die Uhr. Es ging auf halb eins. Da war nichts zu retten. Die Frau war längst wieder zurück in ihrem Zimmer. Er sah Goldberg nach, der langsam die Treppe hinaufstieg. Dann ging er zum Portier. »Hat jemand für mich angerufen?«

»Nein.«

Das Zimmer war hell erleuchtet. Er erinnerte sich, es so verlassen zu haben. Das Blatt schimmerte, als hätte es überraschend geschneit. Er nahm den Zettel, den er auf den Tisch gelegt hatte, bevor er ging und auf dem stand, daß er in einer halben Stunde zurück sein werde, und zerriß ihn. Er suchte nach etwas zu trinken. Es war nichts da. Er ging wieder nach unten. Der Portier hatte keinen Calvados. Er hatte nur Kognak. Er nahm eine Flasche Hennessy und eine Flasche Vouvray mit. Er redete eine Zeitlang mit dem Portier, der ihm bewies, daß Loulu II. die besten Chancen beim nächsten Rennen der Zweijährigen in St. Cloud habe. Der Spanier Alvarez kam vorbei. Ravic sah, daß er eine Spur hinkte. Er kaufte eine Zeitung und ging auf sein Zimmer zurück.Wie lang so ein Abend sein konnte.Wer in der Liebe nicht an Wunder glaubt, ist verloren, hatte Rechtsanwalt Arensen 1933 in Berlin gesagt. Drei Wochen später hatte man ihn in ein Konzentrationslager gesteckt, weil seine Geliebte ihn denunziert hatte. Ravic öffnete eine Flasche Vouvray und holte einen Band Plato vom Tisch. Er legte ihn ein paar Minuten später weg und setzte sich ans Fenster.

Er starrte auf das Telefon. Dieser verdammte schwarze Apparat. Er konnte Joan nicht anrufen. Er wußte ihre neue Nummer nicht. Er wußte nicht einmal, wo sie wohnte. Er hatte nicht gefragt, und sie hatte es ihm nicht gesagt. Wahrscheinlich hatte sie absichtlich nichts gesagt. Sie hatte dann immer noch eine Entschuldigung.

Er trank ein Glas von dem leichten Wein. Albern, dachte er. Ich warte auf eine Frau, die noch heute morgen hier war. Ich habe sie dreieinhalb Monate nicht gesehen und sie nicht so entbehrt wie jetzt, wo sie einen Tag nicht dagewesen war. Es wäre einfacher gewesen, wenn ich sie nie wiedergesehen hätte. Ich war darauf eingestellt. Jetzt...

Er stand auf. Das war es auch nicht. Es war die Unsicherheit, die in ihm fraß. Es war das Mißtrauen, das sich Stunde um Stunde in ihn eingeschlichen hatte.

Er ging zur Tür. Er wußte, daß sie nicht abgeschlossen war; aber er sah noch einmal nach. Er begann, die Zeitung zu lesen; aber er las sie wie durch einen Schleier. Zwischenfälle in Polen. Die unvermeidlichen Zusammenstöße. Der Anspruch auf den Korridor. Das Bündnis Englands und Frankreichs mit Polen. Der Krieg, der näher kam. Er ließ die Zeitung auf den Boden gleiten und löschte das Licht. Er lag im Dunkeln und wartete. Er konnte nicht schlafen. Er knipste das Licht wieder an. Die Flasche Hennessy stand auf dem Tisch. Er öffnete sie nicht. Er stand auf und setzte sich ans Fenster. Die Nacht war kühl und hoch und voller Sterne. Ein paar Katzen schrien von den Höfen her. Ein Mann in Unterhosen stand auf dem Balkon gegenüber und kratzte sich. Er gähnte laut und ging in sein erleuchtetes Zimmer zurück. Ravic sah auf das Bett. Er wußte, er würde nicht schlafen können. Lesen hatte auch keinen Zweck. Er erinnerte sich kaum, was er vorher gelesen hatte. Weggehen — das wäre das beste. Aber wohin? Es war alles gleich. Er wollte auch nicht weggehen. Er wollte etwas wissen. Verdammt — er hielt die Flasche Kognak in der Hand und stellte sie zurück. Dann ging er zu seiner Tasche und holte ein paar Schlaftabletten heraus. Die gleichen Tabletten, die er dem rothaarigen Finkenstein gegeben hatte. Der schlief jetzt. Ravic schluckte sie. Zweifelhaft, ob er selber schlafen würde. Er nahm noch eine. Wenn Joan käme, würde er schon aufwachen.

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