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Er stellte die Bücher beiseite. Durch das offene Fenster unter ihm kamen Stimmen. Er erkannte sie — es waren Wiesenhoff und Frau Goldberg. »Jetzt nicht«, sagte Ruth Goldberg. »Er kommt bald zurück. In einer Stunde.«

»Eine Stunde ist eine Stunde.«

»Vielleicht kommt er auch früher.«

»Wo ist er hingegangen?«

»Zur Amerikanischen Botschaft. Er macht das jeden Abend. Steht draußen und sieht sie an. Weiter nichts. Dann kommt er zurück.«

Wiesenhoff sagte etwas, das Ravic nicht verstand. »Natürlich«, erwiderte Ruth Goldberg zänkisch. »Wer ist nicht verrückt? Daß er alt ist, weiß ich auch.«

»Laß das«, sagte sie nach einer Weile. »Ich habe keine Lust jetzt. Bin nicht in Stimmung.«

Wiesenhoff erwiderte etwas.

»Du hast gut reden«, sagte sie. »Er hat doch das Geld. Ich habe keinen Centime. Und du...«

Ravic stand auf. Er blickte auf das Telefon und zögerte. Es war beinahe zehn Uhr. Er hatte von Joan nichts mehr gehört, seit sie morgens gegangen war. Er hatte sie nicht gefragt, ob sie abends kommen würde. Er war sicher gewesen, daß sie kommen würde. Jetzt war er es nicht mehr.

»Für dich ist das einfach! Du willst nur dein Vergnügen haben, sonst nichts«, sagte Frau Goldberg.

Ravic ging zu Morosow. Sein Zimmer war verschlossen. Er stieg die Treppen hinunter zur Katakombe. »Wenn jemand anruft, ich bin da unten«, sagte er zu dem Concierge.

Morosow war da. Er spielte Schach mit einem rothaarigen Mann. Ein paar Frauen saßen in den Ecken herum. Sie strickten oder lasen mit sorgenvollen Gesichtern.

Ravic sah eine Zeitlang dem Schachspiel zu. Der rothaarige Mann war gut. Er spielte rasch und völlig unbeteiligt, und Morosow war am Verlieren. »Allerhand, was mir hier passiert, was?« fragte er.

Ravic zuckte die Achseln. Der rothaarige Mann sah auf. »Das ist Herr Finkenstein«, sagte Morosow. »Frisch aus Deutschland.«

Ravic nickte. »Wie ist es da jetzt?« fragte er ohne Interesse, nur um etwas zu sagen.

Der rothaarige Mann hob die Schultern und sagte nichts. Ravic hatte es auch nicht erwartet. Das hatte es nur in den ersten Jahren gegeben: das eilige Fragen, die Erwartung, das fieberhafte Horchen auf einen Zusammenbruch. Jetzt wußte jeder längst, daß nur ein Krieg das bringen konnte. Und jeder Mensch mit etwas Verstand wußte ebenso, daß eine Regierung, die ihr Arbeitslosenproblem durch die Rüstungsindustrie löste, nur zwei Möglichkeiten hatte: Krieg oder eine interne Katastrophe. Also Krieg.

»Matt«, sagte Finkenstein ohne Enthusiasmus und stand auf. Er sah Ravic an. »Was macht man nur, damit man schläft? Ich kann hier nicht schlafen. Ich schlafe ein und wache sofort wieder auf.«

»Trinken«, sagte Morosow. »Burgunder, viel Burgunder oder Bier.«

»Ich trinke nicht. Ich bin schon stundenlang durch die Straßen gegangen, bis ich dachte, ich wäre todmüde. Es nützt nichts. Ich kann nicht schlafen.«

»Ich werde Ihnen ein paar Tabletten geben«, sagte Ravic. »Kommen Sie mit mir herauf.«

»Komm zurück, Ravic«, rief Morosow ihm nach. »Laß mich nicht hier allein, Bruder!«

Ein paar Frauen blickten auf. Dann strickten oder lasen sie weiter, als hinge ihr Leben davon ab. Ravic ging mit Finkenstein zu seinem Zimmer. Als er die Tür öffnete, kam ihm die Nachtluft durch das Fenster entgegen wie eine dunkle, kühle Welle. Er atmete tief, drehte das Licht an und blickte rasch durch den Raum. Niemand war da. Er gab Finkenstein einige Tabletten.

»Danke«, sagte Finkenstein, ohne sein Gesicht zu bewegen, und ging wie ein Schatten hinaus.

Ravic wußte plötzlich, daß Joan nicht kommen würde. Er wußte auch, daß er es schon morgens getan hatte. Er hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Er blickte sich um, als hätte jemand hinter ihm etwas gesagt. Es war auf einmal alles ganz klar und einfach. Sie hatte erreicht mit ihm, was sie wollte, und jetzt ließ sie sich Zeit.Was hatte er denn erwartet? Daß sie alles hinwerfen würde seinetwegen? Daß sie zurückkommen würde wie früher? Welch eine Narrheit! Natürlich war da ein anderer, und nicht nur ein anderer, sondern auch ein anderes Leben, das sie nicht aufgeben wollte!

Er ging wieder hinunter. Er fühlte sich ziemlich elend. »Jemand angerufen?« fragte er.

Der Nachtconcierge, der gerade gekommen war, schüttelte den Kopf, den Mund voll Knoblauchwurst.

»Ich warte auf einen Anruf. Bin einstweilen unten.«

Er ging zu Morosow zurück.

Sie spielten eine Partie Schach. Morosow gewann und sah sich zufrieden um. Die Frauen waren inzwischen lautlos verschwunden. Er läutete mit der Ministrantenglocke. »Clarisse! Eine Karaffe Rosé.«

»Dieser Finkenstein spielt wie eine Nähmaschine«, erklärte er. »Zum Speien! Ein Mathematiker. Ich hasse Perfektion. Es ist nicht menschlich.« Er sah Ravic an. »Wozu bist du hier an einem solchen Abend?«

»Ich warte auf einen Anruf.«

»Bist du wieder einmal dabei, jemand auf eine wissenschaftliche Weise umzubringen?«

»Ich habe gestern jemand den Magen herausgeschnitten.«

Morosow schenkte die Gläser voll. »Da sitzt du und trinkst«, sagte er. »Und drüben liegt dein Opfer und deliriert. Auch darin ist etwas Unmenschliches. Du solltest zum wenigsten Magenschmerzen haben.«

»Richtig«, erwiderte Ravic. »Darin liegt das Elend der Welt, Boris, wir spüren nie, was wir anrichten. Aber warum willst du gerade bei den Ärzten mit deiner Reform beginnen? Politiker und Generäle wären besser dafür.Wir würden dann Weltfrieden haben.«

Morosow lehnte sich zurück und betrachtete Ravic. »Ärzte soll man nie persönlich kennen«, erklärte er. »Es nimmt etwas vom Vertrauen. Ich bin mit dir betrunken gewesen — wie kann ich mich da von dir operieren lassen? Ich könnte wissen, daß du ein besserer Operateur bist als ein anderer, den ich nicht kenne — ich würde trotzdem den anderen nehmen. Vertrauen zum Unbekannten — eine tiefe, menschliche Eigenschaft, alter Knabe! Ärzte sollten in Hospitälern wohnen und nie ’rausgelassen werden ins Profane. Eure Vorgänger, die Hexen und Zauberdoktoren, wußten das. Wenn ich operiert werde, will ich an Übermenschliches glauben.«

»Ich würde dich auch nicht operieren, Boris.«

»Warum nicht?«

»Kein Arzt operiert gern seinen Bruder.«

»Ich werde dir den Gefallen ohnehin nicht tun. Ich sterbe an Herzschlag im Schlaf. Arbeite munter darauf hin.«

Morosow starrte Ravic an wie ein fröhliches Kind. Dann stand er auf.

»Ich muß los. Türen öffnen im Kulturzentrum Montmartre. Wozu lebt der Mensch eigentlich?«

»Um darüber nachzudenken. Sonst vielleicht noch irgendwelche Fragen?«

»Ja. Wozu, wenn er das getan hat und etwas Vernünftiges geworden ist, stirbt er dann gerade?«

»Manche Menschen sterben auch, ohne vernünftiger geworden zu sein.«

»Weiche mir nicht aus. Und komm mir nicht mit Seelenwanderung.«

»Ich will dich vorher etwas anderes fragen. Löwen töten Antilopen; Spinnen Fliegen; Füchse Hühner — welches ist die einzige Rasse der Welt, die sich immerfort selbst bekriegt, bekämpft und tötet?«

»Das sind Fragen für Kinder. Die Krone der Schöpfung natürlich, der Mensch, der die Worte Liebe, Güte und Barmherzigkeit erfunden hat.«

»Gut. Wer ist das einzige Wesen in der Natur, das Selbstmord begehen kann und begeht?«

»Der Mensch wiederum — der die Ewigkeit, Gott und die Auferstehung erfunden hat.«

»Vortrefflich«, sagte Ravic. »Du siehst, aus wie vielen Widersprüchen wir bestehen. Und du willst wissen, warum wir sterben?«

Morosow blickte überrascht auf. Dann nahm er einen großen Schluck. »Du Sophist«, erklärte er. »Du Drückeberger.«

Ravic sah ihn an. Joan, dachte etwas in ihm. Wenn sie jetzt hereinkäme durch die schmutzige Glastür drüben. »Der Fehler war, Boris«, sagte er, »daß wir zu denken anfingen. Wären wir bei der Seligkeit der Brunst und des Fressens geblieben, wäre alles nicht passiert. Irgend jemand experimentiert mit uns — aber er scheint die Lösung noch nicht gefunden zu haben. Wir wollen uns nicht beklagen. Auch Versuchstiere sollten professionellen Stolz haben.«

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