»Gut, was?« fragte jemand hinter Ravic. Es war der Kellner.
Ravic nickte. »Was war los?«
»Eifersucht. Diese Perversen sind eine aufgeregte Bande.«
»Wo kamen eigentlich die andern alle so rasch her? Das war ja die reine Telepathie.«
»Die riechen das, mein Herr«, sagte der Kellner.
»Wahrscheinlich hat eine telefoniert. Aber es ging prompt.«
»Die riechen es. Und sie halten zusammen wie Tod und Teufel. Zeigen sich nicht gegenseitig an. Nur keine Polizei — das ist alles, was sie wollen. Erledigen das schon untereinander.« Der Kellner nahm Ravics Glas vom Tisch. »Doch einen? Was war es?«
»Calvados.«
»Gut. Noch einen Calvados.«
Er schuffelte davon. Ravic sah auf und sah Joan ein paar Tische entfernt sitzen. Sie war hereingekommen, während er mit dem Kellner sprach. Er hatte sie nicht kommen sehen. Sie saß mit zwei Männern zusammen. Im Augenblick, als er sie sah, sah sie ihn auch. Sie erblaßte unter ihrer sonnenbraunen Haut. Eine Sekunde saß sie still, ohne die Augen von ihm zu lassen. Dann schob sie mit einer brüsken Bewegung den Tisch zur Seite, stand auf und kam zu ihm herüber. Während sie ging, veränderte sich ihr Gesicht. Es zerschmolz und wurde verwischt; nur die Augen blieben starr und durchsichtig wie Kristalle. Sie erschienen Ravic heller als jemals zuvor. Sie waren von einer beinahe zornigen Kraft .
»Du bist zurück«, sagte sie leise, fast atemlos.
Sie stand dicht vor ihm. Einen Augenblick machte sie eine Bewegung, als wolle sie ihn umarmen. Aber sie tat es nicht. Sie gab ihm auch nicht die Hand.
»Du bist zurück«, wiederholte sie.
Ravic antwortete nicht.
»Seit wann bist du zurück?« fragte sie dann ebenso leise wie vorher.
»Seit zwei Wochen.«
»Seit zwei... und ich habe es nicht... du hast nicht einmal...«
»Niemand wußte, wo du warst. Dein Hotel nicht — und die Scheherazade auch nicht.«
»Die Scheherazade... ich war doch...« Sie brach ab. »Warum hast du mir nie geschrieben?«
»Ich konnte nicht.«
»Du lügst.«
»Gut. Ich wollte nicht. Ich wußte nicht, ob ich wiederkommen würde.«
»Du lügst wieder. Das ist kein Grund.«
»Doch. Ich konnte wiederkommen oder nicht.Verstehst du das nicht?«
»Nein, aber ich verstehe, daß du zwei Wochen hier bist und nicht das geringste getan hast, um mich...«
»Joan«, sagte Ravic ruhig. »Du hast diese braunen Schultern nicht in Paris bekommen.«
Der Kellner strich schnuppernd vorbei. Er warf einen Blick auf Joan und Ravic. Die Szene von vorher saß ihm wohl noch in den Knochen. Er nahm wie zufällig mit einem Teller zwei Messer und zwei Gabeln von der rotweiß gewürfelten Tischdecke fort. Ravic bemerkte es. »Alles in Ordnung«, sagte er.
»Was ist in Ordnung?« fragte Joan.
»Nichts. Da war irgend etwas vorher.«
Sie starrte ihn an. »Wartest du hier auf eine Frau?«
»Mein Gott, nein. Irgendwelche Leute hatten eine Szene. Jemand blutete. Ich habe mich diesmal nicht eingemischt.«
»Eingemischt?« Sie verstand plötzlich. Ihr Ausdruck veränderte sich. »Was machst du hier? Sie werden dich wieder verhaften. Ich weiß jetzt alles. Ein halbes Jahr Gefängnis ist das nächste. Du mußt fort! Ich wußte nicht, daß du in Paris bist! Ich dachte, du kämest nie wieder.«
Ravic antwortete nicht.
»Ich dachte, du kämest nie wieder«, wiederholte sie.
Ravic sah sie an. »Joan...«
»Nein! Es ist alles nicht wahr! Nichts ist wahr! Nichts!«
»Joan«, sagte Ravic behutsam. »Geh zu deinem Tisch zurück.«
Ihre Augen waren plötzlich feucht. »Geh zu deinem Tisch zurück«, sagte er.
»Du bist schuld!« stieß sie hervor. »Du! Du allein!«
Sie drehte sich abrupt um und ging zurück. Ravic schob seinen Tisch beiseite und setzte sich. Er sah das Glas Calvados und machte eine Bewegung, es zu trinken. Er tat es nicht. Er war ruhig gewesen, während er mit Joan sprach. Jetzt plötzlich fühlte er die Erregung. Sonderbar, dachte er. Die Brustmuskeln unter der Haut vibrierten. Warum gerade die? Er nahm das Glas und betrachtete seine Hand. Sie war ruhig. Er trank nicht zu ihr hinüber. Der Kellner kam vorbei. »Zigaretten«, sagte Ravic. »Caporal.«
Er zündete eine an und trank die zweite Hälfte seines Glases. Wieder spürte er Joans Blick. Was erwartete sie? dachte er. Daß ich mich vor ihren Augen aus Unglück betrinke? Er winkte dem Kellner und zahlte. Im Augenblick, als er aufstand, begann Joan lebhaft zu einem ihrer Begleiter zu sprechen. Sie blickte nicht auf, als er an ihrem Tisch vorbeiging. Ihr Gesicht war hart und kalt und ohne Ausdruck, während sie angestrengt lächelte.
Ravic ging durch die Straßen und fand sich, ohne es überlegt zu haben, wieder vor der Scheherazade. Morosows Gesicht lächelte auf. »Gute Haltung, Soldat! Gab dich schon fast verloren. Freut einen immer, wenn eine Prophezeiung eintrifft.«
»Freu dich nicht zu früh.«
»Du dich auch nicht. Du kommst zu spät.«
»Das weiß ich. Ich habe sie schon getroffen.«
»Was?«
»In der Cloche d’Or.«
»Da soll doch...«, sagte Morosow verblüfft. »Mutter Leben hat immer neue Drehs auf Lager.« »Wann bist du hier fertig, Boris?« »In ein paar Minuten. Niemand mehr da. Muß mich umziehen. Komm solange ’rein. Trink einen Wodka auf Kosten des Hauses.« »Nein. Ich warte hier.« Morosow sah ihn an. »Wie fühlst du dich?«
»Zum Kotzen.«
»Hast du etwas anderes erwartet?«
»Ja. Man erwartet immer was anderes. Geh und zieh dich um.«
Ravic lehnte sich an die Wand. Neben ihm packte die alte Blumenverkäuferin ihre Blumen zusammen. Sie bot ihm nicht an, welche zu kaufen. Er kam sich albern vor, aber er hätte gern gehabt, wenn sie ihn gefragt hätte. So war es, als erwarte sie nicht, daß er welche brauchen könne. Er blickte die Häuserreihe entlang. Ein paar Fenster waren noch hell. Taxis streiften langsam vorbei. Was hatte er erwartet? Er wußte es genau. Was er nicht erwartet hatte, war, daß Joan die Initiative ergreifen würde. Aber warum eigentlich nicht? Wie recht jemand schon hatte, wenn er nur attackierte!
Die Kellner kamen heraus. Sie waren die Nacht über Kaukasier und Tscherkessen gewesen in roten Röcken und hohen Stiefeln. Jetzt waren sie müde Zivilisten. In sonderbar auf ihnen wirkenden Alltagsanzügen schlichen sie nach Hause. Der letzte war Morosow. »Wohin?« fragte er.
»Ich war heute schon überall.«
»Dann laß uns ins Hotel gehen und Schach spielen.«
»Was?«
»Schach. Ein Spiel mit Holzfiguren, das gleichzeitig ablenkt und konzentriert.«
»Gut«, sagte Ravic. »Warum nicht?«
Er erwachte und wußte sofort, daß Joan im Zimmer war. Es war noch dunkel, und er konnte sie nicht sehen, aber er wußte, daß sie da war. Das Zimmer war anders, das Fenster war anders, die Luft war anders, und er selbst war anders. »Laß den Unsinn!« sagte er. »Mach das Licht an und komm her.«
Sie rührte sich nicht. Er hörte sie nicht einmal atmen. »Joan«, sagte er, »wir wollen nicht Versteck spielen.«
»Nein«, sagte sie leise.
»Dann komm her.«
»Wußtest du, daß ich kommen würde?«
»Nein«.
»Deine Tür war offen.«
»Meine Tür ist fast immer off en.«
Sie schwieg einen Augenblick. »Ich dachte, du wärest noch nicht hier«, sagte sie dann. »Ich wollte nur... ich dachte... du würdest noch irgendwo sitzen und trinken.«
»Das dachte ich auch. Ich habe statt dessen Schach gespielt.«
»Was?«
»Schach. Morosow. Unten in der Bude, die aussieht wie ein Aquarium ohne Wasser.«
»Schach!« Sie kam aus ihrer Ecke hervor. »Schach! Das ist doch... Jemand, der Schach spielen kann, wenn...«
»Ich hätte es auch nicht geglaubt, aber es ging. Gut sogar. Ich konnte eine Partie gewinnen.«
»Du bist das kälteste, herzloseste...«
»Joan«, sagte Ravic. »Kein Szenen. Ich bin für gute Szenen. Nur nicht heute.«
»Ich mache keine Szenen. Ich bin todunglücklich.«
»Schön. Dann wollen wir das alles lassen. Szenen sind richtig, wenn man mittelmäßig unglücklich ist. Ich habe einen Mann gekannt, der vom Augenblick, als seine Frau starb, bis zu ihrem Begräbnis sich in sein Zimmer einschloß und Schachprobleme löste. Man hielt ihn für herzlos, aber ich weiß, daß er seine Frau geliebt hatte wie nichts auf der Welt. Er wußte einfach nichts anderes. Er löste Tag und Nacht Schachaufgaben, um nicht daran zu denken.«