Er vergaß Joan. Er vergaß sich selbst. Er öffnete sich einfach dem klaren Tag, diesem Dreiklang aus Sonne, Meer und Land, der eine Küste blühen machte, während die Bergwege darüber noch voll Schnee lagen. Über Frankreich hing der Regen, über Europa brauste der Sturm — aber diese schmale Küste schien von all dem nichts zu wissen. Sie schien vergessen zu sein; das Leben hatte noch einen anderen Puls hier; und während das Land hinter ihr schon grau vom Nebel der Not, der Vorahnung und der Gefahr, schien hier die Sonne, und sie war heiter, und in ihrem Leuchten sammelte sich der letzte Schaum einer sterbenden Welt.
Ein bißchen Motten- und Mückentanz um das letzte Licht — belanglos wie jeder Mückentanz; töricht wie die leichte Musik von den Cafés her — eine überflüssig gewordene Welt, wie Schmetterlinge im Oktober, den Frost schon in den kleinen Sommerherzen, so tanzte, schwätzte, flirtete, liebte, betrog und gaukelte das noch ein wenig, bevor die Sensen und die großen Winde kamen.
Ravic wendete den Wagen in St. Raphael. Der kleine, viereckige Hafen war voll von Segeln und Motorbooten. Die Cafés am Kai hatten bunte Sonnenschirme herausgestellt. Braungebrannte Frauen hockten an den Tischen. Wie man das wieder kannte, dachte Ravic. Das leichte zärtliche Bild des Lebens. Die heitere Versuchung, das Loslassen, das Spiel — wie man das wieder kannte, mochte es auch noch so lange her sein. Man hatte es auch einmal gelebt, das Falterdasein, und geglaubt, es sei genug. Der Wagen schoß aus der Kehre heraus über die Straße, in den glühenden Sonnenuntergang hinein.
Er kam zum Hotel und fand eine Nachricht von Joan. Sie hatte angerufen und hinterlassen, sie käme nicht zum Essen zurück. Er ging zum Eden Roc hinunter. Es waren wenige Leute zum Diner da. Die meisten waren in Juan les Pins und Cannes. Er setzte sich an die Brüstung der Terrasse, die wie ein Schiffsdeck auf die Felsen gebaut war. Unten schäumte die Brandung. Die Wogen kamen dunkel-rot und grünblau aus dem Sonnenuntergang, wechselten zu hellerem Goldrot und Orange und nahmen dann die Dämmerung auf ihren schlanken Rücken und zerschellten sie zu farbigem Zwielichtschaum an den Felsen.
Ravic saß lange auf der Terrasse. Er fühlte sich kühl und tief allein. Er war klar und sah ohne jede Emotion, was kommen würde. Er wußte, daß er es noch für eine Weile verhindern konnte; es gab Tricks und Schachzüge. Er kannte sie, und er wußte, daß er sie nicht gebrauchen würde. Es war schon zu weit dafür. Tricks waren etwas für kleine Affären; hier gab es nur eines: es zu bestehen, es ehrlich zu bestehen, ohne sich zu belügen und ohne sich zu drücken.
Ravic schob das Glas mit dem klaren, leichten Wein der Provence gegen das Licht. Eine kühle Nacht, eine meerumrauschte Terrasse, der Himmel voll von dem Gelächter des Sonnenabschieds und den Glocken der fernen Sterne — und kühl in mir ein Scheinwerfer, dachte er, der hineingreift in die stummen Monate der Zukunft und über sie gleitet und sie wieder im Dunkel läßt, und ich weiß es, schmerzlos noch, aber ich weiß auch, es wird nicht schmerzlos bleiben, und mein Leben ist wieder einmal wie ein Glas in meiner Hand, durchsichtig, voll vom fremden Wein, der nicht darin bleiben kann, weil er abgestanden werden würde, abgestandener Essig verdorbener Lust.
Es würde nicht bleiben. Es war viel zuviel Anfang in diesem anderen Leben, als daß es schon bleiben konnte.
Unschuldig und ohne Rücksicht, wie eine Pflanze zum Licht, wandte es sich der Versuchung und der bunten Vielfalt eines leichteren Daseins zu. Es wollte Zukunft — und alles, was er ihm geben konnte, war etwas schäbige Gegenwart. Noch war nichts geschehen. Das war auch nicht nötig. Alles entschied sich immer lange vorher. Man wußte es nur nicht und hielt nur das spektakulöse Ende für die Entscheidung, die längst, Monate vorher, lautlos gefallen war.
Ravic trank sein Glas aus. Der leichte Wein schien ihm anders zu schmecken als vorher. Er füllte das Glas noch einmal und trank wieder. Der Wein hatte wieder den alten, flockig hellen Geschmack.
Er stand auf und fuhr nach Cannes zum Casino.
Er spielte ruhig und mit kleinen Einsätzen. Er spürte immer noch die Kühle in sich und wußte, daß er gewinnen konnte, solange sie anhielt. Er spielte die letzten Zwölf, das Quadrat der Siebenundzwanzig und die Siebenundzwanzig. Nach einer Stunde hatte er dreitausend Frank gewonnen. Er verdoppelte die Einsätze auf das Quadrat und spielte die Vier dazu.
Er sah Joan, als sie hereinkam. Sie war umgezogen und mußte gleich, nachdem er das Hotel verlassen hatte, zurückgekommen sein. Sie war mit den beiden Männern, die sie im Motorboot abgeholt hatten. Er kannte sie als Le Clerq, einen Belgier, und Nugent, einen Amerikaner. Joan sah sehr schön aus. Sie trug ein weißes Abendkleid mit großen grauen Blumen. Er hatte es für sie am Tage vor der Abreise gekauft. Sie hatte einen Schrei ausgestoßen und sich darauf gestürzt. »Woher weißt du so viel von Abendkleidern?« hatte sie gefragt. »Es ist viel besser als meines.« Und mit einem zweiten Blick: »Auch teurer.« Vogel, dachte er, noch auf meinen Ästen, aber die Flügel schon bereit zum Fliegen.
Der Croupier schob ihm eine Anzahl Chips zu. Das Quadrat hatte gewonnen. Er zog den Gewinn ein und ließ den Einsatz stehen. Joan ging zu den Bakkarat-Tischen. Er wußte nicht, ob sie ihn gesehen hatte. Einige Leute, die nicht spielten, sahen ihr nach. Sie ging immer, als ginge sie gegen einen leichten Wind und als wäre nichts da, wohin sie wollte. Sie wandte den Kopf und sagte etwas zu Nugent — und Ravic fühlte plötzlich in seinen Händen den Drang, die Chips wegzustoßen, sich selbst wegzustoßen von dem grünen Tisch, aufzustehen, Joan mitzunehmen, rasch durch die Leute, Türen, fort auf eine Insel, diese Insel am Horizont von Antibes vielleicht, fort von allem, um sie abzuschließen und zu behalten.
Er setzte neu. Die Sieben war herausgekommen. Inseln isolieren nicht. Und die Unruhe des Herzens war nicht zu begrenzen; man verlor am leichtesten, was man im Arme hielt — nie, was man verließ. Die Kugel rollte langsam. Die Zwölf.
Er setzte wieder.
Als er aufblickte, blickte er gerade in Joans Augen. Sie stand an der anderen Seite des Tisches und sah ihn an. Er nickte ihr zu und lächelte. Sie starrte ihn an. Er deutete auf das Roulette und zuckte die Achseln. Die Neunzehn kam heraus.
Er machte seine Einsätze und sah wieder auf. Joan war nicht mehr da. Er bezwang sich und blieb sitzen. Er nahm eine Zigarette aus dem Pack, das neben ihm lag. Einer der Diener gab ihm Feuer. Es war ein kahlköpfiger Mann mit einem Bauch, in Uniform. »Andere Zeiten heute«, sagte er.
»Ja«, sagte Ravic. Er kannte den Mann nicht.
»War anders neunundzwanzig...«
»Ja...«
Ravic wußte nicht mehr, ob er 1929 in Cannes gewesen war oder ob der Mann nur so daherredete. Er sah, daß die Vier herausgekommen war; ohne daß er es gesehen hatte, und versuchte, sich mehr zu konzentrieren. Aber es erschien ihm plötzlich albern, daß er spielte mit ein paar Frank, um einige Tage länger bleiben zu können. Wozu das schon? Wozu war er überhaupt hierhergekommen? Es war eine verdammte Schwäche, weiter nichts. Das fraß langsam, lautlos sich ein, und man merkte es erst, wenn man sich anspannen wollte und zerbrach. Morosow hatte recht gehabt. Der beste Weg, eine Frau zu verlieren, war, ihr ein Leben zu zeigen, das man ihr nur ein paar Tage bieten konnte. Sie würde versuchen, es wiederzubekommen — aber mit jemand anderem, der dazu fähig war, es ihr dauernd zu verschaffen. Ich werde ihr sagen, daß es aufhören muß, dachte er. Ich werde mich in Paris von ihr trennen, bevor es zu spät ist.
Er überlegte, ob er an einem anderen Tisch weiterspielen sollte. Aber er hatte plötzlich keine Lust mehr. Man sollte nicht etwas im Kleinen tun, was man einmal im Großen getan hatte. Er sah sich um. Joan war nicht zu sehen. Er ging in die Bar und trank einen Kognak. Dann ging er zum Parkplatz, um den Wagen zu holen und eine Stunde herumzufahren.