Der Mond stand silbern über dem Arc de Triomphe. Die Laternen die Champs-Elysées hinauf wehten im Wind. Das mächtige Licht spiegelte sich in den Gläsern auf dem Tisch. Unwirklich, diese Gläser, dieser Mond, diese Straße, diese Nacht und diese Stunde, die mich anweht, fremd und vertraut, als wäre sie schon einmal dagewesen, in einem anderen Leben, auf einem anderen Stern — unwirklich diese Erinnerungen an Jahre, die vergangen sind, versunken, lebendig und tot zugleich, die nur noch in meinem Gehirn phosphoreszieren und sich zu Worten versteint haben — und unwirklich dieses, das durch das Dunkel meiner Adern rollt, ohne Ruhe, 37,6 Grad warm, etwas salzig schmeckend, vier Liter Geheimnis und Weitertreiben, Blut, Spiegelung in Ganglienzellen, unsichtbarer Storeraum im Nichts, Gedächtnis genannt, Stern um Stern, Jahr um Jahr hochwerfend, das eine hell, das andere blutig wie der Mars über der Rue de Berry und manches düster schimmernd und voll Flecken — der Himmel der Erinnerung, unter der die Gegenwart unruhig ihr konfuses Wesen trieb.
Das grüne Licht der Rache. Die Stadt, leise schwimmend im späten Mondlicht und dem Sausen der Automobilmotoren.
Häuserreihen, lang, endlos sich dehnend, Fensterreihen, und hinter sie gepackt Bündel von Schicksalen, straßenweit. Herzklopfen von Millionen Menschen, unaufhörliches Herzklopfen, wie von einem millionenfältigen Motor, langsam, langsam die Straße des Lebens entlang, mit jedem Klopfen einen geringen Millimeter näher dem Tode zu.
Er stand auf. Die Champs-Elysées waren fast leer. Ein paar Huren lungerten an den Ecken herum. Er ging die Straße herunter, an der Rue Pierre Charron, der Rue Marbeuf, der Rue de Marignan vorüber, bis zum Rond Point und zurück bis zum Arc de Triomphe. Er stieg über die Ketten und stand vor dem Grab des Unbekannten Soldaten. Die kleine, blaue Lampe flackerte im Schatten. Ein verwelkender Kranz lag davor. Er überquerte den Etoile und ging zu dem Bistro, vor dem er Haake zuerst gesehen zu haben glaubte. Ein paar Chauffeure saßen darin. Er setzte sich an das Fenster, wo er damals gesessen hatte, und trank einen Kaffee. Die Straße draußen war leer. Die Chauffeure unterhielten sich über Hitler. Sie fanden ihn lächerlich und prophezeiten ihm ein rasches Ende, wenn er sich an die Maginotlinie wagen sollte. Ravic starrte auf die Straße. Wozu sitze ich hier noch, dachte er. Ich könnte überall in Paris sitzen: die Chance ist gleich. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Zu spät. Haake — wenn er es war — würde um diese Zeit nicht mehr auf der Straße herumlaufen.
Er sah draußen eine Hure herumschlendern. Sie blickte durch das Fenster hinein und ging weiter. Wenn sie zurückkommt, gehe ich, dachte er. Die Hure kam zurück. Er ging nicht. Wenn sie noch einmal wiederkommt, gehe ich bestimmt, beschloß er. Haake ist dann nicht in Paris. Die Hure kam zurück. Sie winkte ihm mit dem Kopf und ging vorüber. Er blieb sitzen. Sie kam noch einmal zurück. Er ging nicht.
Der Kellner stellte die Stühle auf den Tisch. Die Chauffeure zahlten und verließen das Bistro. Der Kellner drehte das Licht über der Theke aus. Der Raum sank in schmutzige Dämmerung. Ravic sah sich um. »Zahlen«, sagte er.
Draußen war es windiger und kälter geworden. Die Wolken zogen höher und rascher. Er kam an Joans Hotel vorbei und blieb stehen. Alle Fenster waren dunkel, bis auf eines, in dem eine Lampe hinter den Vorhängen schimmerte. Es war Joans Zimmer. Er wußte, daß sie es haßte, in ein dunkles Zimmer zu kommen. Sie hatte das Licht brennen lassen, weil sie heute nicht zu ihm kam. Er blickte auf und begriff sich plötzlich nicht mehr. Wozu hatte er sie nicht sehen wollen? Die Erinnerung an jene Frau war längst verschollen; nur die Erinnerung an ihren Tod war geblieben.
Und das andere? Was hatte das mit ihr zu tun? Was hatte es sogar mit ihm selbst noch zu tun? War er nicht ein Narr, daß er einer Täuschung nachjagte, dem Reflex einer verknäuelten, schwarzen Erinnerung, einer finsteren Reaktion — daß er wieder zu wühlen begann in den Schlacken toter Jahre, aufgerührt durch einen Zufall, eine verfluchte Ähnlichkeit — daß er ein Stück verfaulter Vergangenheit, eine Schwäche kaum verheilter Neurose wieder aufbrechen ließ und alles dadurch in Gefahr brachte, was er in sich aufgebaut hatte, und den einzigen Menschen, in all dem Gleiten, der ihm verbunden war? Was hatte das eine mit dem andern zu tun? Hatte er sich das nicht selbst immer wieder gelehrt? Wie wäre er sonst entkommen? Und wo wäre er sonst geblieben?
Er spürte, wie das Blei in seinen Gliedern schmolz. Er atmete tief. Der Wind kam mit raschen Stößen die Straßen entlang. Er blickte wieder auf das erleuchtete Fenster. Da war jemand, dem er etwas bedeutete, jemand, für den er wichtig war, jemand, dessen Gesicht sich veränderte, wenn es ihn sah — und er hatte es einer verzerrten Illusion, dem ungeduldig abweisenden Hochmut einer blassen Rachehoffnung opfern wollen...
Was wollte er denn? Wozu wehrte er sich? Wozu hob er sich auf? Das Leben hielt sich ihm hin, und er machte Einwendungen. Nicht, weil es zuwenig — weil es zuviel war. Mußte erst das blutige Gewitter der Vergangenheit über ihn hinweggehen, damit er das erkennen konnte? Er bewegte die Schultern. Herz, dachte er. Herz! Wie es sich öffnete! Wie es sich bewegte! Fenster, dachte er, einsames, leuchtendes Fenster in der Nacht, Widerschein eines anderen Lebens, das sich ungestüm ihm entgegengeworfen hatte, offen, bereit, bis auch er sich öffnete. Die Flamme der Lust, das Elmsfeuer der Zärtlichkeit, das helle, rasche Wetterleuchten des Blutes — man kannte das, man kannte alles, man kannte so viel, daß man glaubte, nie wieder würde die weiche, goldene Verwirrung das Gehirn überschwemmen können —, und dann stand man plötzlich in einer Nacht vor einem drittklassigen Hotel, und es stieg wie Rauch aus dem Asphalt, und man spürte es, als käme von der andern Seite der Erde, von blauen Kokosinseln, die Wärme eines tropischen Frühlings, filtere sich durch Ozeane, Korallengründe, Lava und Dunkelheit und stiege jäh auf in Paris, in der schäbigen Rue de Poncelet, mit dem Duft von Hibiskus und Mimosen, in einer Nacht voll Rache und Vergangenheit, unwiderstehlich, unwidersprechlich, rätselhafte Erlösung des Gefühls...
Die Scheherazade war voller Menschen. Joan saß an einem Tisch mit einigen Leuten. Sie sah Ravic sofort. Er blieb an der Tür stehen. Das Lokal schwamm in Rauch und Musik. Sie sagte etwas zu den Leuten am Tisch und kam rasch auf ihn zu. »Ravic...«
»Hast du hier noch zu tun?«
»Warum?«
»Ich will dich mitnehmen.«
»Aber du sagtest doch...«
»Das ist vorbei. Hast du hier noch etwas zu tun?«
»Nein. Ich muß nur denen drüben sagen, daß ich gehe.« »Tu es schnell — ich warte draußen im Taxi auf dich.« »Ja.« Sie blieb stehen. »Ravic...« Er sah sie an. »Bist du meinetwegen zurückgekommen?« fragte sie.
Er zögerte eine Sekunde. »Ja«, sagte er dann leise in das atmende Gesicht hinein, das sich ihm hinhielt. »Ja. Joan. Deinetwegen. Nur deinetwegen!«
Sie machte eine rasche Bewegung. »Komm«, sagte sie dann. »Laß uns gehen! Was kümmern uns diese Leute hier noch.«
Das Taxi fuhr die Rue de Liège entlang. »Was war, Ravic?« »Nichts.« »Ich hatte Angst.« »Vergiß es. Es war nichts.« Joan sah ihn an. »Ich dachte, du kämest nie wieder.« Er beugte sich über sie. Er fühlte, wie sie zitterte. »Joan«, sagte er. »Denk an nichts und frage nichts. Siehst du die Laternenlichter und die tausend bunten Schilder da draußen? Wir leben in einer sterbenden Zeit, und diese Stadt bebt von Leben. Wir sind losgerissen von allem und haben nur noch unsere Herzen. Ich war auf einer Mondlandschaft, und ich bin wiedergekommen, und du bist da und bist das Leben. Frage nichts mehr. Es gibt mehr Geheimnisse in deinem Haar als in tausend Fragen. Da, vor uns ist die Nacht, ein paar Stunden und eine Ewigkeit, bis der Morgen an das Fenster dröhnt. Daß Menschen sich lieben, ist alles; ein Wunder und das Selbstverständlichste, was es gibt, das habe ich heute gefühlt, als die Nacht in einen Blütenbusch zerschmolz und der Wind nach Erdbeeren roch, und ohne Liebe ist man nur ein Toter auf Urlaub, nichts als ein paar Daten und ein zufälliger Name, und man kann ebensogut sterben...«