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»Das hat nichts zu tun. Ich kann mit dir hier sitzen, solange wir wollen. Aber ich will nicht, daß du dich verrückt machst. Es ist sinnlos, daß du hier noch stundenlang wartest. Die Wahrscheinlichkeit, ihn zu treffen, ist jetzt überall gleich. Im Gegenteil: Sie ist jetzt sogar größer in jedem Restaurant, in jedem Nachtklub, in jedem Bordell.«

»Ich weiß, Boris.«

Morosow legte seine große, behaarte Hand auf Ravics Arm. »Ravic«, sagte er. »Hör mich an. Wenn du den Mann treffen sollst, wirst du ihn treffen — und wenn nicht, dann kannst du Jahre auf ihn warten. Du weißt, was ich meine. Halte deine Augen offen — überall. Und sei auf alles vorbereitet. Aber sonst lebe so, als hättest du dich geirrrt. Wahrscheinlich hast du das auch. Das ist das einzige, was du tun kannst. Du machst dich sonst kaputt. Ich habe das auch schon gehabt. Vor ungefähr zwanzig Jahren. Glaubte alle Augenblicke, einen der Henker meines Vaters zu sehen; Halluzinationen.« Er trank sein Glas aus. »Verdammte Halluzinationen. Und jetzt komm mit mir. Wir wollen irgendwo essen gehen.«

»Geh du essen, Boris. Ich komme später.«

»Willst du hier sitzen bleiben?«

»Nur noch einen Augenblick. Ich gehe dann zum Hotel. Habe da noch etwas zu tun.«

Morosow sah ihn an. Er wußte, was Ravic im Hotel wollte. Aber er wußte auch, daß er nichts mehr tun konnte. Dies ging Ravic allein an. »Gut«, sagte er. »Ich bin bei der ›Mère Marie‹. Später im ›Bubilshki‹. Ruf mich an oder komm.« Er hob seine buschigen Augenbrauen. »Und riskiere nichts. Sei kein unnötiger Held! Und kein verdammter Idiot. Schieße nur, wenn du bestimmt entkommen kannst. Dies ist kein Kinderspiel und kein Gangsterfilm.«

»Das weiß ich, Boris, sei unbesorgt.«

Ravic ging zum Hotel International und von da gleich zurück. Unterwegs kam er am Hotel Milan vorbei. Er sah auf die Uhr. Es war halb neun.

Er konnte Joan noch zu Hause treffen.

Sie kam ihm entgegen. »Ravic«, sagte sie überrascht. »Du kommst hierher?«

»Ja...«

»Du bist noch nie hiergewesen, weißt du das? Seit damals, als du mich abgeholt hast.«

Er lächelte abwesend. »Es ist wahr, Joan, wir führen ein sonderbares Leben.«

»Ja. Wie die Maulwürfe oder Fledermäuse. Oder Eulen. Wir sehen uns nur, wenn es dunkel ist.«

Sie ging mit langen, weichen Schritten im Zimmer hin und her. Sie trug einen dunkelblauen Dressinggown, der wie der eines Mannes geschnitten und mit einem Gürtel fest um die Hüften gezogen war. Auf dem Bett lag das schwarze Abendkleid, das sie in der Scheherazade brauchte. Sie war sehr schön und unendlich weit weg.

»Mußt du nicht gehen, Joan?«

»Noch nicht. Erst in einer halben Stunde. Dies ist meine beste Zeit. Die Stunde, bevor ich fort muß. Du siehst, was ich dann habe. Kaffee und alle Zeit der Welt. Und nun bist du sogar da. Ich habe auch Calvados.«

Sie brachte die Flasche. Er nahm sie und stellte sie ungeöffnet auf den Tisch. Dann nahm er behutsam ihre Hände.

»Joan«, sagte er.

Das Licht in ihren Augen erlosch. Sie stand dicht vor ihm. »Sag mir nur gleich, was es ist...«

»Warum? Was soll es sein?«

»Irgend etwas. Wenn du so bist, ist es immer irgend etwas. Bist du deshalb gekommen?«

Er fühlte, daß ihre Hände von ihm wegstrebten. Sie bewegte sich nicht. Auch ihre Hände bewegten sich nicht. Es war nur, als ob in ihnen sich etwas fortzöge von ihm. »Du kannst heute abend nicht kommen, Joan. Heute nicht und vielleicht morgen und einige Tage nicht.«

»Mußt du in der Klinik bleiben?«

»Nein. Es ist etwas anderes. Ich kann nicht darüber sprechen. Aber es ist etwas, das nichts mit dir und mir zu tun hat.«

Sie stand eine Weile regungslos. »Gut«, sagte sie dann.

»Du verstehst es?«

»Nein. Aber wenn du es sagst, wird es richtig sein.«

»Du bist nicht böse?«

Sie sah ihn an. »Mein Gott, Ravic«, sagte sie. »Wie könnte ich dir jemals für etwas böse sein?«

Er blickte auf. Ihm war, als hätte eine Hand sich fest auf sein Herz gelegt. Joan hatte ohne Absicht gesagt, was sie gesagt hatte, aber sie hätte nicht mehr tun können, um ihn zu treffen. Er gab nur wenig auf das, was sie in den Nächten stammelte und flüsterte; es war vergessen, wenn der Morgen grau vor dem Fenster rauchte. Er wußte, daß die Hingerissenheit in den Stunden, wenn sie neben ihm hockte oder lag, ebensoviel Hingerissenheit über sie selbst war, und er nahm es als Rausch und leuchtende Konfession der Stunde, aber nie mehr als das. Jetzt zum erstenmal, wie ein Flieger, der durch einen Riß glänzender Wolken, auf denen das Licht Verstecken spielt, unten plötzlich die Erde grün und braun und glänzend erblickt, sah er mehr. Er sah unter Hingerissenheit Hingabe, unter Rausch Gefühl, unter dem Geklirr der Worte einfaches Vertrauen. Er hatte Mißtrauen, Fragen und Verständnislosigkeit erwartet — aber nicht dieses. Es waren immer die kleinen Dinge, die Aufschluß gaben, nie die großen. Die großen lagen zu nahe der dramatischen Geste und der Verführung zur Lüge.

Ein Raum. Ein Hotelraum. Ein paar Koffer, ein Bett, Licht, vor dem Fenster die schwarze Öde der Nacht und der Vergangenheit — und ein helles Gesicht hier mit grauen Augen und hohen Brauen und dem kühnen Schwung des Haares — Leben, biegsames Leben, ihm offen zugewandt, wie ein Oleanderbusch dem Licht — da war es, da stand es, wartend, schweigend, ihm zurufend: Nimm mich! Halte mich! Hatte er nicht einmal, vor langer Zeit, gesagt: Ich werde dich schon halten?

Er stand auf. »Gute Nacht, Joan.«

»Gute Nacht, Ravic.«

Er saß vor dem Café Fouquet’s. Er saß an demselben Tisch wie vorher. Er saß Stunde um Stunde da, vergraben in der Finsternis der Vergangenheit, in der nur ein einziges schwaches Licht brannte: die Hoffnung auf Rache.

Man hatte ihn im August 1933 verhaftet. Er hatte zwei Freunde, die von der Gestapo gesucht wurden, vierzehn Tage bei sich verborgen gehalten und ihnen dann geholfen, zu fliehen. Einer davon hatte ihm 1917, vor Bixschoote in Flandern, das Leben gerettet und ihn, als er langsam verblutend im Niemandsland lag, unter gedecktem Maschinengewehrfeuer zurückgeholt. Der zweite war ein jüdischer Schriftsteller, den er seit Jahren kannte. Man brachte ihn zum Verhör; man wollte wissen, in welcher Richtung beide geflohen wären, was für Papiere sie hätten und wer ihnen unterwegs behilflich sein würde. Haake hatte ihn verhört. Nach der ersten Ohnmacht hatte er versucht, Haake mit seinem Revolver zu erschießen oder ihn zu erschlagen. Er sprang in eine krachende, rote Dunkelheit hinein. Es war ein sinnloser Versuch gegen vier bewaffnete, kräftige Leute gewesen. Drei Tage lang tauchte dann aus Ohnmacht, langsamem Erwachen, rasenden Schmerzen immer wieder das kühle, lächelnde Gesicht Haakes auf. Drei Tage dieselben Fragen — drei Tage derselbe Körper, zerschlagen, fast unfähig, mehr zu leiden. Und dann, am Nachmittag des dritten Tages, brachte man die Frau. Sie wußte von nichts. Man zeigte ihn ihr, damit sie aussagen solle. Sie war ein luxuriöses, schönes Geschöpf, das ein spielerisches, belangloses Leben geführt hatte. Er erwartete, daß sie schreien und zusammenbrechen würde. Sie war nicht zusammengebrochen. Sie war auf die Henker losgefahren. Sie hatte tödliche Worte gesagt.

Tödlich für sie, und sie wußte es. Haake hatte nicht mehr gelächelt. Er hatte das Verhör abgebrochen. Am nächsten Tage hatte er Ravic erklärt, was mit ihr geschehen würde im Konzentrationslager für Frauen, wenn er nicht gestehen würde. Ravic hatte nicht geantwortet. Haake hatte ihm dann erklärt, was vorher mit ihr geschehen würde. Ravic hatte nichts gestanden, weil nichts zu gestehen war. Er hatte Haake zu überzeugen versucht, daß die Frau nichts wissen konnte. Er hatte ihm gesagt, daß er sie oberflächlich kannte. Daß sie wenig mehr in seinem Dasein bedeutete als ein schönes Bild. Daß er sie nie zu irgend etwas ins Vertrauen hätte ziehen können. Alles war wahr gewesen. Haake hatte nur gelächelt. Drei Tage später war die Frau tot. Sie hatte sich im Konzentrationslager für Frauen erhängt. Einen Tag darauf brachte man einen der Flüchtlinge wieder. Es war der jüdische Schriftsteller. Als Ravic ihn sah, kannte er ihn nicht wieder, selbst an der Stimme nicht. Es dauerte noch eine Woche unter Haakes Verhör, bis er ganz tot war. Dann kam für ihn selbst das Konzentrationslager. Das Hospital. Die Flucht aus dem Hospital.

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