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»Wozu?«

»Ich muß sie noch einmal sehen.« Der Mann preßte beide Hände gegen seine Brust. In den Händen hielt er einen hellbraunen Homburghut mit Seidenkante. »Verstehen Sie doch! Ich muß...«

Er hatte Tränen in den Augen. »Hören Sie«, sagte Ravic ungeduldig. »Es ist besser, Sie verschwinden. Die Frau ist tot, und nichts ändert mehr daran. Machen Sie Ihre Sache mit sich selbst ab. Scheren Sie sich zum Teufel! Kein Mensch ist interessiert daran, ob Sie ein Jahr Gefängnis bekommen oder dramatisch freigesprochen werden. In ein paar Jahren werden Sie ohnehin damit herumprotzen und sich vor anderen Frauen damit wichtig machen, um sie zu bekommen. Raus — Sie Idiot!«

Er gab ihm einen Stoß zur Tür hin. Der Mann zögerte einen Moment. An der Tür drehte er sich um. »Sie gefühlloses Biest! Sale boche!«

Die Straßen waren voll mit Menschen. Zu Trauben gedrängt standen sie vor den großen, laufenden Leuchtanzeigen der Zeitungen. Ravic fuhr zum Jardin du Luxembourg. Er wollte ein paar Stunden allein sein, bevor man ihn verhaftete. — Der Garten war leer. Er lag im warmen Licht des vollen Spätsommernachmittags. Die Bäume hatten eine erste Ahnung vom Herbst — nicht vom Herbst des Welkens, sondern vom Herbst des Reifens. Das Licht war Gold und das Blau eine letzte, seidene Fahne des Sommers.

Ravic saß lange da. Er sah das Licht wechseln und die Schatten länger werden. Er wußte, es waren die letzten Stunden, die er frei sein würde. Die Wirtin des »International« konnte niemand mehr decken, wenn Krieg erklärt würde. Er dachte an Rolande. Auch Rolande nicht. Niemand. Zu versuchen, jetzt weiter zu fliehen, hieße als Spion verhaftet zu werden.

Er saß bis zum Abend. Er war nicht traurig. Gesichter zogen an ihm vorbei, Gesichter und Jahre. Und dann das letzte, erstarrte Gesicht.

Um sieben Uhr ging er. Er verließ den letzten Rest Frieden, den eindunkelnden Park, und wußte es. Wenige Schritte die Straße aufwärts sah er die Extrablätter.

Der Krieg war erklärt.

Er saß in einem Bistro, das kein Radio hatte. Dann ging er zur Klinik zurück. Veber kam ihm entgegen. »Können Sie noch einen Kaiserschnitt machen? Wir haben jemand eingeliefert bekommen.«

»Natürlich.«

Er ging, sich umzuziehen. Eugenie begegnete ihm. Sie stutzte, als sie ihn sah. »Sie haben mich wohl nicht mehr erwartet?« sagte er.

»Nein«, sagte sie und sah ihn sonderbar an. Dann ging sie rasch an ihm vorbei.

Der Kaiserschnitt war eine einfache Sache. Ravic machte ihn fast gedankenlos. Einige Male fühlte er den Blick Eugenies auf sich. Er wunderte sich, was sie hatte.

Das Kind quäkte. Es wurde gewaschen. Ravic blickte auf das rote, schreiende Gesicht und die winzigen Finger.Wir kommen nicht mit einem Lächeln auf die Welt, dachte er. Er gab es weiter an die Hilfsschwester. Es war ein Knabe. »Wer weiß, für was für einen Krieg er zurechtkommt!« sagte er.

Er wusch sich. Veber wusch sich neben ihm. »Wenn es wahr sein sollte, daß Sie verhaftet werden, Ravic, wollen Sie es mich sofort wissen lassen, wo Sie sind?«

»Warum wollen Sie in Schwierigkeiten kommen,Veber? Es ist besser jetzt, Leute meiner Art nicht zu kennen.«

»Warum? Weil Sie Deutscher waren? Sie sind ein Refugié.«

Ravic lächelte trübe. »Wissen Sie nicht, daß Refugiés immer der Stein zwischen Steinen sind? Für ihr Geburtsland sind sie Verräter und für das Ausland immer noch Angehörige ihres Geburtslandes.«

»Das ist mir gleichgültig. Ich will, daß Sie so schnell herauskommen wie möglich.Wollen Sie mich als Referenz angeben?«

»Wenn Sie wollen.«

Ravic wußte, daß er es nicht tun werde.

»Für einen Arzt ist überall etwas zu tun.« Ravic trocknete sich ab. »Wollen Sie mir einen Gefallen tun? Für das Begräbnis von Joan Madou zu sorgen? Ich werde keine Zeit mehr dafür haben.«

»Natürlich. Ist sonst noch etwas zu ordnen? Hinterlassenschaft oder so etwas?«

»Das kann man der Polizei überlassen. Ich weiß nicht, ob sie Verwandte irgendwo hat. Das ist auch gleichgültig.«

Er zog sich an.

»Adieu, Veber. Es war eine gute Zeit mit Ihnen.«

»Adieu, Ravic. Wir müssen noch den Kaiserschnitt verrechnen.«

»Verrechnen wir auf das Begräbnis. Es wird ohnehin mehr kosten. Ich möchte Ihnen das Geld dafür hierlassen.«

»Ausgeschlossen. Ausgeschlossen, Ravic.Wo wollen Sie, daß sie begraben wird?«

»Ich weiß nicht. Auf irgendeinem Friedhof. Ich lasse Ihnen ihren Namen und ihre Adresse hier.« Ravic schrieb ihn auf einen Rechnungsblock der Klinik.

Veber legte den Zettel unter einen Briefbeschwerer aus Kristall, in den ein silbernes Schaf eingegossen war.

»Gut, Ravic. Ich denke, ich werde in ein paar Tagen auch fort sein. Viel operieren hätten wir doch kaum können, wenn Sie nicht mehr da sind.«

Er ging mit Ravic hinaus.

»Adieu, Eugenie«, sagte Ravic.

»Adieu, Herr Ravic.« Sie sah ihn an. »Gehen Sie zum Hotel?«

»Ja. Warum?«

»Oh, nichts, ich dachte nur...«

Es war dunkel. Vor dem Hotel stand ein Lastwagen. »Ravic«, sagte Morosow aus einem Hauseingang heraus.

»Boris?« Ravic blieb stehen.

»Die Polizei ist in der Bude.«

»Das dachte ich mir.«

»Ich habe die Carte d’Identité von Ivan Kluge hier. Du weißt, von dem toten Russen. Noch anderthalb Jahre gültig. Geh mit mir zur Scheherazade. Wir wechseln die Fotos aus. Du suchst dir dann ein anderes Hotel und bist ein russischer Emigrant.«

Ravic schüttelte den Kopf.

»Zu riskant, Boris. Im Krieg soll man keine falschen Papiere haben. Besser gar keine.«

»Was willst du dann machen?«

»Ich gehe zum Hotel.«

»Hast du dir das genau überlegt, Ravic?« fragte Mo rosow. »Ja, genau.« »Verdammt! Wer weiß, wo sie dich da hinstecken!« »Auf jeden Fall werden sie mich nicht ausliefern nach Deutschland. Das ist vorbei. Auch nicht ausweisen nach der Schweiz.« Ravic lächelte. »Es wird das erstemal in sieben Jahren sein, daß die Polizei uns behalten will, Boris. Es hat einen Krieg gebraucht, um es so weit zu bringen.«

»Es heißt, daß in Longchamps ein Konzentrationslager eingerichtet wird.« Morosow zerrte an seinem Bart. »Dazu mußtest du aus einem deutschen Konzentrationslager fliehen... um jetzt in ein französisches zu kommen.«

»Vielleicht lassen sie uns bald wieder heraus.« Morosow antwortete nicht. »Boris«, sagte Ravic. »Mach dir keine Sorge um mich. Ärzte braucht man im Krieg.« »Unter was für einem Namen wirst du dich festnehmen lassen?«

»Unter meinem eigenen. Den habe ich hier nur einmal vor fünf Jahren gebraucht.« Ravic schwieg eine Weile. »Boris«, sagte er dann, »Joan ist tot. Erschossen von einem Mann. Sie liegt in Vebers Klinik. Sie muß begraben werden.Veber hat es mir versprochen, aber ich weiß nicht, ob er nicht vorher einrücken muß. Willst du dich um sie kümmern? Frag mich nichts, sag ja und fertig.«

»Ja«, sagte Morosow.

»Gut. Servus, Boris. Nimm von meinen Sachen, was du brauchen kannst. Zieh in meine Bude. Du wolltest ja immer mein Badezimmer haben. Ich gehe jetzt. Servus.«

»Scheiße«, sagte Morosow.

»Gut. Ich treffe dich nach dem Krieg bei Fouquet’s.«

»Welche Seite? Champs-Elysées oder George V.?«

»George V. Wir sind Idioten. Heroische Rotzidioten.

»Servus, Boris.«

»Scheiße«, sagte Morosow. »Nicht einmal anständig verabschieden trauen wir uns. Komm her, du Idiot.«

Er küßte Ravic rechts und links auf die Backen. Ravic spürte den Bart und den Geruch nach Pfeifentabak. Es war nicht angenehm. Er ging zum Hotel.

Die Emigranten standen in den Katakomben. Wie die ersten Christen, dachte Ravic. Die ersten Europäer. Ein Mann in Zivil saß vor einem Schreibtisch unter der künstlichen Palme und nahm die Personalien auf.

Zwei Polizisten bewachten die Türen, aus denen niemand entfliehen wollte. »Paß?« fragte der Polizist Ravic. »Nein.« »Andere Papiere?« »Nein.« »Illegal hier?« »Ja.« »Warum?«

»Geflohen aus Deutschland. Keine Möglichkeit, Papiere zu haben.«

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