»Wenn es zu stark wird, mußt du mir genug geben. Genug für immer. Du mußt es tun — auch wenn ich nicht will oder nichts mehr weiß. — Was ich jetzt sage, gilt. Nachher... versprich es mir.«
»Ich verspreche es dir. Es wird nicht nötig sein.«
Der ängstliche Ausdruck verschwand. Sie lag auf einmal friedlich da. »Du kannst es tun, Ravic«, flüsterte sie. »Ohne dich... wäre ich ja nicht mehr am Leben.«
»Unsinn. Natürlich wärest du...«
»Nein. Ich wollte damals... als du mich zuerst... ich wußte nicht mehr, wohin... du hast mir dieses Jahr gegeben. Es war... geschenkte Zeit.« Sie wendete den Kopf langsam zu ihm. »Warum bin ich nicht bei dir geblieben?«
»Das war meine Schuld, Joan.«
»Nein. Es war... ich weiß es nicht...«
Der Mittag stand golden vor dem Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, aber das Licht drang an den Seiten durch. Joan lag im Halbschlaf der Drogen. Es war noch wenig von ihr da. Die paar Stunden hatten wie Wölfe an ihr gefressen. Der Körper schien flacher unter der Decke zu werden. Sein Widerstand schmolz. Sie trieb zwischen Schlafen und Wachen, manchmal war sie fast bewußtlos, manchmal ganz klar. Die Schmerzen wurden stärker. Sie begann zu stöhnen. Ravic gab ihr eine Spritze. »Der Kopf«, murmelte sie. »Es wird schlimmer.«
Nach einiger Zeit begann sie wieder zu sprechen. »Das Licht... zu viel Licht... es brennt...«
Ravic ging zum Fenster. Er fand einen Rolladen und ließ ihn herunter. Darüber zog er die Vorhänge fest. Das Zimmer war jetzt fast dunkel. Er ging und setzte sich neben das Bett.
Joan bewegte die Lippen. »Es dauert... so lange... es hilft nicht mehr, Ravic...«
»In ein paar Minuten.«
Sie lag still. Die Hände lagen tot auf der Decke. »Ich muß dir... vieles... sagen...«
»Später, Joan...«
»Nein. Jetzt... ist keine Zeit mehr. Vieles... erklären...«
»Ich glaube, ich weiß das meiste, Joan...«
»Du weißt es?«
»Ich glaube.«
Die Wellen. Ravic konnte sehen, wie die Wellen der Krämpfe durch sie gingen. Beide Beine waren jetzt paralysiert. Die Arme auch schon. Die Brust hob sich noch.
»Du weißt... daß ich immer nur mit dir...«
»Ja, Joan...«
»Das andere war nur... Unruhe...«
»Ja, ich weiß es...«
Sie lag eine Weile. Sie atmete mühsam. »Sonderbar...«, sagte sie dann sehr leise. »Sonderbar..., daß man sterben kann... wenn man liebt...«
Ravic beugte sich über sie. Da war nur noch Dunkelheit und das Gesicht. »Ich war nicht gut... für dich«, flüsterte sie.
»Du warst mein Leben...«
»Ich kann... ich will... meine Hände... kann nie mehr... dich umarmen...«
Er sah, wie sie sich anstrengte, ihre Arme zu heben. »Du bist in meinen Armen«, sagte er. »Und ich in deinen.«
Sie hörte einen Augenblick auf zu atmen. Ihre Augen waren ganz im Schatten. Sie öffnete sie. Die Pupillen waren sehr groß. Ravic wußte nicht, ob sie ihn sah. »Ti amo«, sagte sie.
Sie sprach die Sprache ihrer Kindheit. Sie war zu müde für das andere. Ravic nahm ihre leblosen Hände. Etwas zerriß in ihm. »Du hast mich leben gemacht, Joan«, sagte er in das Gesicht mit den starren Augen hinein. »Du hast mich leben gemacht. Ich war nichts als ein Stein. Du hast gemacht, daß ich lebe...«
»Mi ami?«
Es war die Frage eines Kindes, das sich schlafen legen will. Es war die letzte Müdigkeit hinter allen andern.
»Joan«, sagte Ravic. »Liebe ist kein Wort dafür. Es ist nicht genug. Es ist nur ein geringer Teil, es ist nur ein Tropfen in einem Fluß, ein Blatt an einem Baum. Es ist so viel mehr...«
»Sono stata... sempre con te...«
Ravic hielt ihre Hände, die seine Hände nicht mehr fühlten. »Du warst immer mit mir«, sagte er und merkte nicht, daß er plötzlich deutsch sprach. »Du warst immer mit mir, ob ich dich liebte, ob ich dich haßte oder gleichgültig schien — es änderte nie etwas, du warst immer mit mir und immer in mir...«
Sie hatten immer nur in einer geborgten Sprache miteinander gesprochen. Jetzt, zum erstenmal, sprach jeder, ohne es zu wissen, in seiner. Die Barrieren der Worte fielen, und sie verstanden sich mehr als je.
»Baciami...«
Er küßte die heißen, trockenen Lippen. »Du bist immer mit mir gewesen, Joan... immer...«
»Sono stata... perduta... senza di te...«
»Ich war verlassener ohne dich. Du warst alle Helligkeit und das Süße und das Bittere — du hast mich geschüttelt, und du hast mir dich und mich gegeben. Du hast mich leben gemacht.«
Joan lag ein paar Minuten ganz still. Ravic beobachtete sie.
Die Glieder waren tot, alles war tot, nur noch die Augen lebten und der Mund und der Atem, und er wußte, daß die Hilfsmuskeln der Atmung jetzt langsam von der Lähmung erfaßt würden; sie konnte kaum noch sprechen, sie keuchte bereits, ihre Zähne knirschten, ihr Gesicht verzerrte sich, sie kämpfte. Ihr Hals war gekrampft, sie versuchte noch zu sprechen, die Lippen zitterten. Röcheln, tiefes, grauenvolles Röcheln; endlich brach der Schrei durch. »Ravic«, stammelte sie. »Hilf... Hilf... Jetzt!«
Er hatte die Spritze vorbereitet gehabt. Rasch nahm er sie und stach sie unter die Haut. Sie sollte nicht langsam, qualvoll lange und mit immer weniger und weniger Luft ersticken. Sie sollte nicht sinnlos leiden. Da war nur noch Schmerz vor ihr. Nichts als Schmerz. Vielleicht für Stunden...
Die Augenlider zitterten. Dann wurde sie ruhig. Die Lippen gaben nach. Der Atem wurde still.
Er zog die Vorhänge zurück und rollte die Jalousie auf. Dann ging er zum Bett zurück. Joans Gesicht war erstarrt und fremd.
Er schloß die Tür und ging zum Büro. Eugenie saß an einem Tisch mit Krankenblättern. »Der Patient in zwölf ist tot«, sagte er.
Eugenie nickte, ohne aufzusehen.
»Ist Doktor Veber in seinem Zimmer?«
»Ich glaube.«
Ravic ging den Korridor entlang. Einige Türen standen offen. Er ging weiter zu Vebers Zimmer.
»Nummer zwölf ist tot, Veber. Sie können die Polizei anrufen.«
Veber sah nicht auf. »Die Polizei hat mehr zu tun jetzt.«
»Was?«
Veber wies auf eine Extraausgabe des »Matin«. Deutsche Truppen waren in Polen eingebrochen. »Ich habe Nachrichten vom Ministerium. Der Krieg wird noch heute erklärt werden.«
Ravic legte das Blatt zurück.
»Das ist es, Veber.«
»Ja. Das ist das Ende. Armes Frankreich.«
Ravic saß eine Weile. Alles war leer. »Es ist mehr als Frankreich, Veber«, sagte er dann.
Veber starrte ihn an. »Für mich ist es Frankreich. Das ist genug.«
Ravic antwortete nicht. »Was werden Sie machen?« fragte er nach einer Weile.
»Ich weiß nicht. Ich werde wohl zu meinem Regiment gehen. Das hier...«, er machte eine vage Geste. »Jemand wird es übernehmen müssen.«
»Sie werden es behalten. Im Krieg braucht man Hospitäler. Man wird Sie hierlassen.«
»Ich will nicht hierbleiben.«
Ravic sah sich um. »Dies wird mein letzter Tag hier sein. Ich glaube, es ist alles in Ordnung. Der Gebärmutterfall heilt; die Gallenblase ist in Ordnung; der Krebs ist aussichtslos; weitere Operation zwecklos. Das ist das.«
»Warum?« fragte Veber müde. »Warum ist das Ihr letzter Tag?«
»Man wird uns festnehmen, sobald der Krieg erklärt ist.« Ravic sah, daß Veber etwas sagen wollte. »Wir wollen nicht argumentieren darüber. Es ist notwendig. Man wird es tun.«
Veber setzte sich in seinen Stuhl. »Ich weiß nichts mehr. Vielleicht. Vielleicht wird man auch nicht kämpfen. Das Land so übergeben. Man weiß nichts mehr.«
Ravic stand auf. »Ich komme abends wieder, wenn ich noch da bin. Um acht.«
»Ja.«
Ravic ging. Im Vorzimmer fand er den Schauspieler. Er hatte ihn völlig vergessen gehabt. Der Mann sprang auf. »Was ist mit ihr?«
»Sie ist tot.«
Der Mann starrte ihn an. »Tot?« Er griff mit einer tragischen Bewegung nach seinem Herzen und taumelte. Verdammter Komödiant, dachte Ravic. Er hatte wohl so etwas Ähnliches gespielt, daß er in eine Rolle zurückfiel, als es ihm selbst passierte. Aber vielleicht war er auch ehrlich, und die Gesten seines Berufes umflatterten nur albern seinen wirklichen Schmerz. »Kann ich sie sehen?«