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»Wie ich sehe, bereiten Ihre Pfadfinder sich darauf vor, ihre Leistungsprüfung im Scharfschießen abzulegen. Was denkst du, Joe?«

»Ich interessiere mich viel mehr für die Pfadfinderin«, erwiderte Zavala. Er ging hinüber und begann mit der jungen Russin eine Unterhaltung.

Austin warf Petrow einen fragenden Blick zu.

»Ich weiß, dass Sie meinten, ein möglichst unauffälliges Auftreten sei notwendig«, erklärte Petrow. »Das ist auch meine Meinung. Diese Leute sind nur eine Art Rückversicherung. Sehen Sie, es sind nur sechs an der Zahl. Keine Armee.«

»Sie haben aber mehr Feuerkraft, als beide Seiten während der Schlacht von Gettysburg zusammen«, stellte Austin fest.

»Möglicherweise brauchen wir sie«, sagte Petrow. »Kommen Sie in meine Kabine, damit ich Sie auf den neuesten Stand bringen kann.«

Petrow ging voraus zu einer kleinen Kabine und nahm dort einen dicken Umschlag von der Schlafkoje. Er holte einige Fotografien aus dem Umschlag und reichte sie Austin, der sie ins Licht hielt, das durch das Bullauge hereindrang. Die Fotos zeigten verschiedene Ansichten von einer langen, grauen Insel mit einem donutförmigen Berg in der Mitte.

»Ivory Island?«, fragte er.

»Die Fotos wurden während der letzten Tage von Satelliten geschossen.« Petrow angelte ein kleines Vergrößerungsglas aus der Tasche. Er deutete auf eine Einbuchtung an der Südseite der Insel. »Das ist der natürliche Hafen, den der Eisbrecher benutzt, der den Nachschub bringt und die Expedition transportiert. Das Schiff hat Karla Janos hier vor zwei Tagen abgesetzt, um sie zu einer Expeditionsgruppe zu bringen, die bereits seit einiger Zeit auf der Insel arbeitet.«

»Und was ist die Aufgabe dieser Expedition?«

»Reinste Science-Fiction. Ein paar verrückte Russen und Japaner hoffen, DNS eines Wollhaarmammuts zu finden, mit dem sie ein lebendiges Exemplar klonen können. Sehen Sie, auf der anderen Seite der Insel, wo der Permafrost abgetragen wurde, befinden sich natürliche Buchten.«

Austin entdeckte in einer dieser Buchten eine längliche Form. »Ein Boot?«

»Wer immer es sein mag, wollte nicht gesehen werden, sonst hätte er den natürlichen Hafen benutzt. Ich glaube, dass die Mörder eingetroffen sind.«

»Wie schnell können wir dort sein?«

»In zehn Stunden. Das Boot schafft vierzig Knoten, aber die Entfernungen hier sind riesig, und wir könnten durch Treibeis aufgehalten werden.«

»So viel Zeit haben wir nicht.«

»Das ist richtig. Deshalb haben wir einen Ersatzplan vorbereitet.« Er schaute auf seine Uhr. »In einer Dreiviertelstunde kommt ein Wasserflugzeug vom Festland. Nach dem Auftanken fliegt es Sie und Zavala zum Eisbrecher Kotelny, der zwischen der Wrangelinsel und dem Polareis liegt. Ein Flug von etwa drei Stunden. Der Eisbrecher bringt Sie dann nach Ivory Island.«

»Was ist mit Ihnen und Ihren Freunden?«

»Wir starten zum gleichen Zeitpunkt wie Sie und hoffen, irgendwann morgen einzutreffen.«

Austin streckte Petrow eine Hand entgegen. »Ich kann Ihnen nicht genug danken, Iwan.«

»Eigentlich sollte ich mich bei Ihnen bedanken. Gestern war ich noch im Begriff, in meinem Moskauer Büro zu versauern. Und heute bin ich schon unterwegs, um eine schöne Frau aus großer Not zu retten.«

»Ich könnte Probleme haben, Zavala von hier wegzulocken«, sagte Austin.

Wie sich herausstellte, waren seine Befürchtungen unbegründet. Als er in die Hauptkabine zurückkehrte, unterhielt Zavala sich mit einem der Männer über seine Waffe. Veronika und Dimitri saßen ein wenig abseits und waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft.

»Tut mir leid, die junge Liebe zu stören«, sagte Austin.

»Das braucht es nicht. Petrow hat versäumt, mich darauf aufmerksam zu machen, dass Veronika und Dimitri verheiratet sind. Und zwar miteinander. Wohin geht’s?«

Austin erläuterte Petrows Plan, und sie gingen hinaus auf den Pier, um zu warten. Das Wasserflugzeug erschien eine Viertelstunde früher als erwartet. Es begab sich auf eine Position am Tankanschluss am Ende des Piers. Austin überwachte das Verladen seines Gepäcks, während das Flugzeug aufgetankt wurde, dann stiegen er und Zavala in die Maschine. Kurz darauf jagte es über die Bucht, hob die Nase und stieg in scharfem Winkel über die zerklüfteten grauen Bergspitzen, die die Bucht umschlossen, dann ging es auf nördlichen Kurs ins Ungewisse.

25

Karlas Augenlider öffneten sich flatternd. Sie sah nur Schwärze, aber Sinne, die vorübergehend abgeschaltet worden waren, erwachten nach und nach zum Leben. Sie hatte einen Kupfergeschmack von altem Blut im Mund. Ihr Rücken fühlte sich an, als läge er auf einem Nagelbrett. Dann hörte sie in nächster Nähe ein Rascheln. Sie erinnerte sich an ihren Angreifer mit den gelben Zähnen. Immer noch nur halb bei Bewusstsein, hob sie ihre Arme und schlug in der Dunkelheit um sich, um ihren unsichtbaren Angreifer abzuwehren.

»Nein!«, schrie sie ängstlich und wütend zugleich.

Ihre wild rudernden Arme trafen auf Fleisch. Eine große Hand mit Fingern wie Stahl legte sich auf ihren Mund. Eine Lampe blitzte auf. Ihr Lichtstrahl beleuchtete ein körperloses Gesicht, das vor ihr in der Dunkelheit schwebte.

Sie brach ihren Kampf ab. Das markante Gesicht war dramatisch gealtert, seit sie es das letzte Mal gesehen hatte. Da waren mehr Falten und eine allgemeine Schlaffheit der Haut, die mal so glatt und straff wie ein Trommelfell gewesen war. Die aufmerksamen Augen waren von Krähenfüßen, Tränensäcken und weißen Brauen umrahmt, aber die Iris zeigte das gleiche durchdringende Blau wie in ihrer Erinnerung. Er nahm die Hand von ihrem Mund.

Sie lächelte. »Onkel Karl.«

Seine schmalen Lippen krümmten sich. »Rein technisch betrachtet, bin ich dein Pate. Aber ja, ich bin’s. Dein Onkel Karl. Wie fühlst du dich?«

»Ich bin okay.« Sie zwang sich, sich aufzurichten, obwohl ihr dabei gleich wieder schwarz vor Augen wurde. Während sie mit der Zungenspitze über ihre geschwollenen Lippen leckte, kam die Erinnerung an den Angriff zurück.

»Da waren vier andere Wissenschaftler. Sie haben sie mitgenommen, und dann habe ich Schüsse gehört.«

Ein gequälter Ausdruck trat in die blauen Augen. »Ich fürchte, sie alle wurden getötet.«

»Getötet! Aber warum?«

»Die Männer, die sie getötet haben, wollten keine Zeugen.«

»Zeugen wovon?«

»Von deiner Ermordung. Oder Entführung. Ich bin mir nicht sicher, was sie vorhatten, nur dass es nichts Gutes war.«

»Das ergibt keinen Sinn. Ich bin erst vor zwei Tagen hier angekommen. Ich bin völlig fremd in diesem Land. Ich bin wie die anderen nicht mehr als ein ordinärer Knochensammler. Welchen Grund sollte jemand haben, mich zu ermorden?«

Schroeder wandte den Kopf ein wenig zur Seite, als ob er auf etwas lauschte, dann knipste er die Lampe aus. Seine weiche Stimme klang kühl und tröstend durch die Dunkelheit. »Sie glauben, dass dein Großvater ein Geheimnis von höchster Bedeutung kannte. Sie glauben, dass er es an dich weitergegeben hat, und sie wollen dafür sorgen, dass niemand anderer jemals davon erfährt.«

»Großvater!« Karla lachte beinahe trotz ihrer Schmerzen. »Das ist lächerlich. Ich kenne kein Geheimnis.«

»Trotzdem glauben sie es, und das alleine ist wichtig.«

»Dann ist es meine Schuld, dass diese Wissenschaftler sterben mussten.«

»Ganz sicher nicht. Die Männer, die abgedrückt haben, sind die einzigen Schuldigen.«

Er drückte ihr die Taschenlampe in die Hand, um bei ihr wenigstens ein Minimum an Kontrolle über ihre angeschlagene Psyche wiederherzustellen. Sie knipste die Lampe wieder an und ließ den Lichtstrahl über schwarzen Fels wandern, der Decke und Wände ihrer Umgebung bildete.

»Wo sind wir?«, fragte sie.

»In einer Höhle. Ich habe dich hierher getragen. Es war reines Glück, dass ich eine niedrige Stelle gefunden habe, wo ich aus dem Graben herausklettern konnte und sofort auf eine natürliche Felswand stieß. Sie war von Rissen durchzogen, und ich dachte, wir könnten uns in einer der engen Felsspalten verstecken. Dann entdeckte ich eine Öffnung am Ende einer dieser Spalten. Ich habe ein paar Büsche abgeschnitten und um den Eingang zu dieser Höhle drapiert.«

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