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»Sibirien!«, wiederholte Zavala mit einem deutlichen Mangel an Begeisterung. »Ich bin Amerikaner mexikanischer Abstammung. Wir haben für Kälte nicht viel übrig.«

»Vergiss nur nicht, deine pelzgefütterten Unterhosen einzupacken, und dir geht es gut. Ich bringe meine Donnerbüchse mit«, sagte er und benutzte Zavalas Spitznamen für seinen großkalibrigen Bowen Revolver. »Vielleicht solltest du auch eine kleine Rückversicherung mitnehmen.«

Er verabredete sich mit Zavala am Flughafen und suchte dann einige Kleidungsstücke zusammen, die arktischen Bedingungen angemessen sein würden.

Tausende von Kilometern entfernt saß Schroeder in seiner engen Kabine und warf einen letzten Blick auf die topographische Karte, ehe er einen Fuß auf die Insel setzte.

Schroeder hatte schon vor langer Zeit erkannt, wie nötig es ist, den Schauplatz genau zu kennen, auf dem zu operieren von einem erwartet wird, sei es ein ländliches Gebiet von mehreren hundert Quadratkilometern oder eine Stadtlandschaft von wenigen Blocks mit allen Seitenstraßen und Gassen.

Er hatte die Landkarte mehrmals studiert und nun das Gefühl, dass er Ivory Island so gut kannte, als sei er schon einmal dort gewesen. Die Insel hatte eine längliche Form und war knapp zwanzig Kilometer breit und etwa vierzig Kilometer lang. Das Meer hatte den Permafrost aufgetaut und weggespült, so dass die Küste aussah wie die Kante einer Tonscherbe. An der Südküste bot eine halbmondförmige Einbuchtung der Uferlinie einen schützenden Hafen. In seiner Nähe mündete ein Fluss ins Meer.

Urzeitliche Wasserläufe, einige längst ausgetrocknet, andere noch Wasser führend, hatten ein labyrinthartiges Netz von gewundenen, natürlichen Korridoren durch die wellige Tundra geschaffen. Ein längst erkalteter Vulkan wölbte sich aus dem Permafrost auf wie ein riesiges schwarzes Furunkel.

Er legte die Landkarte beiseite und blätterte in einem zerlesenen russischen Reiseführer, den er in einem Antiquariat gekauft hatte, während er versuchte, eine Transportmöglichkeit auf die Insel zu arrangieren. Er war froh, feststellen zu können, dass er die russische Sprache immer noch recht gut beherrschte. Ivory Island wurde Ende des sechzehnten Jahrhunderts von russischen Pelztierjägern entdeckt. Sie fanden riesige Haufen von Tierknochen und Mammutstoßzähnen, die schließlich der Insel ihren Namen gaben. Die Knochen lagen überall herum, teilweise verstreut über die Landschaft oder in Hügeln, die durch den Frost zusammengehalten wurden.

Der Pelzhandel fand sein Ende in einer Orgie aus Mord und Blut, und die Elfenbeinjäger traten auf den Plan. Qualitativ hochwertiges Elfenbein fand bei den Schnitzmeistern Chinas und in anderen Teilen der Welt reißenden Absatz. Sich dieser profitablen weißen Goldader durchaus bewusst, verkaufte die russische Regierung Handelsrechte an private Unternehmer. Einer dieser Geschäftsleute engagierte einen Agenten namens Sannikoff, der sämtliche arktischen Inseln erkundete.

Auf Ivory Island befand sich der größte Vorrat, doch aufgrund ihrer Abgelegenheit blieb sie zugunsten besser zugänglicher Rohstoffquellen im Süden weitgehend unberührt. Einige unerschrockene Elfenbeinsammler gründeten eine Siedlung an der Mündung des Flusses, die sie Ivorytown nannten, stand in dem Buch, jedoch hatte die Insel ein weitgehend verlassenes Dasein geführt, da es erheblich gastlichere Orte gab.

Das Klopfen an seiner Kabinentür unterbrach seine Recherchen. Es war der Kapitän, ein Mann mit rundem Gesicht, der halb Russe, halb Eskimo war.

»Das Boot ist bereit, um Sie an Land zu bringen«, meldete er.

Schroeder ergriff seinen Seesack und folgte dem Kapitän zur Backbordreling des Trawlers, bevor er über eine Leiter hinunter in ein Ruderboot stieg. Während ein Matrose ruderte, benutzte Schroeder einen langstieligen Fischhaken, um Eisbrocken, die im stillen, kalten Wasser trieben, aus dem Weg zu schieben. Nur wenige Minuten später rutschte der Bootsrumpf knirschend auf den Kiesstrand. Schroeder warf seinen Seesack ans Ufer, stieg aus dem Boot und half dem Matrosen, es wieder ins Wasser zu schieben.

Er verfolgte, wie das Ruderboot von Nebelschwaden verschluckt wurde. Obgleich das Fischerboot nur wenige hundert Meter vom Ufer entfernt lag, war es hinter dem feuchten, dampfähnlichen Dunstvorhang kaum zu erkennen. Es war vereinbart worden, dass das Boot in dieser Position vierundzwanzig Stunden lang warten sollte. Schroeder würde innerhalb dieser Frist am Strand auftauchen und das Zeichen geben, abgeholt zu werden. Er hoffte, dass Karla sich dann in seiner Begleitung befand. Er hatte bisher noch nicht darüber nachgedacht, ob sein warnender Finger ausreichen würde, sie dazu zu bewegen, die Insel zu verlassen. Mit diesem Problem würde er sich zu gegebener Zeit beschäftigen. Er hoffte nur, dass er nicht zu spät käme. Er war für sein Alter gut in Form, aber sein Körper konnte nicht leugnen, dass er acht harte Jahrzehnte hinter sich hatte und dieser Tatsache allmählich Tribut zu zollen begann. Seine Muskeln und Gelenke schmerzten, und er humpelte mittlerweile auf einem Bein.

Schroeder hörte das dumpfe Dröhnen der Trawlermaschine. Der Kapitän musste entschieden haben, dass er lieber mit der Hälfte der vereinbarten Summe abdampfte, anstatt auf Schroeder zu warten, wie sie vereinbart hatten, und dann die zweite Hälfte seines Honorars zu kassieren. Schroeder zuckte gleichmütig die Achseln. Er hatte den Kapitän von Anfang an als Pirat eingeschätzt. Das Geschäft rückgängig zu machen, war jetzt nicht mehr möglich.

Er sah sich an, was er von der Insel erkennen konnte. Der Strand stieg leicht an bis zu einer niedrigen Böschung, die zu ersteigen keinerlei Schwierigkeiten machen würde. Er schwang sich den Seesack auf die Schulter und entdeckte dann Fußabdrücke im Sand. Das musste wohl der Weg nach Ivorytown sein.

Er marschierte für zehn Minuten am Fluss entlang und lachte schallend auf, als er die traurige Ansammlung armseliger Häuser erblickte, der man den Status einer Stadt verliehen hatte. Die großen, bunten Zelte, die dicht neben den alten Bauten aufgeschlagen worden waren, verrieten ihm, dass er das Expeditionscamp gefunden hatte.

Während er sich dem Lager näherte, erkannte er zu seiner Überraschung, dass die Konstruktionen, die er für Steinhäuser gehalten hatte, in Wirklichkeit aus großen Knochen erbaut waren. Er schaute in zwei dieser Bauwerke hinein und entdeckte einige Schlafsäcke. Ein drittes Gebäude war aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen verschlossen. Er inspizierte die Zelte und entdeckte, dass eins als Küche und Messe eingerichtet war. Schroeder umrundete das Lager und machte sich mehrmals durch laute Rufe bemerkbar, erhielt jedoch keine Antwort. Er schaute zu dem düsteren, alten Vulkan und über die Insel, bemerkte aber keine Bewegung. Das überraschte ihn nicht. In diesem Netz von tiefen Gräben, das die Insel überzog, hätte sich eine ganze Armee verstecken können.

Er kehrte zum Fluss zurück und sah an seinem Ufer Fußspuren, die landeinwärts führten. Mit erfahrenem Blick unterschied er fünf Arten von Abdrücken, darunter zwei kleinere, nicht so tiefe, die aussahen, als wären sie von Frauen hinterlassen worden. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Die Aussicht, sein Patenkind wiederzusehen, beflügelte ihn, und er beschleunigte seine Schritte. Einige Zeit später verwandelte Schroeders Hochgefühl sich in höchste Besorgnis.

Abdrücke von schweren Stiefeln überlagerten die anderen. Karla und ihre Gruppe wurden offenbar beobachtet und verfolgt.

23

Von der Kuppe des Hügels, den sie erstiegen hatte, konnte Karla erkennen, dass Ivory Island keinesfalls die arktische Wüste war, für die sie sie anfangs gehalten hatte. Die Tundra war baumlos, aber sie war dicht bewachsen mit Zwergsträuchern, Gräsern, Moosen und anderen Pflanzen, die einen dicken Teppich bildeten. Löwenzahn, Butterblumen und Feuerkraut gediehen als helle Farbinseln dazwischen. Die Morgensonne glitzerte auf fernen Seen und Flüssen. Aufgeregt schreiende Seevögel kreisten in der Luft.

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