Vor ihrem geistigen Auge erschien die raue Landschaft als üppiges Grasland. Auf den Steppen wimmelte es von riesigen Herden Wollhaarmammuts. Es gab auch Büffel und Wollhaarnashörner, mächtige Riesenfaultiere, die alle von Raubtieren wie Säbelzahntigern und anderen Urweltkatzen gejagt wurden. Sie konnte die nach Moschus riechenden Tierausdünstungen beinahe wahrnehmen und spüren, wie der Boden unter dem Gewicht Tausender dahinziehender Tiere erzitterte.
Irgendwie, so als ob ein böser Geist mit seinem Zauberstab gewedelt hätte, waren die Mammuts und die anderen Tiere ausgestorben. Die Frage nach dem Grund für das Aussterben beschäftigte sie schon, solange sie denken konnte. Wie viele Kinder war sie von Dinosauriern und den großen Säugetieren, die ihnen als neue Herrscher über die Erde folgten, fasziniert gewesen.
Ihr Großvater war der einzige Wissenschaftler gewesen, den sie kannte, daher war sie natürlich zu ihm gegangen und hatte ihn gefragt, was den Tod dieser wundervollen Lebewesen bewirkt habe. Sie lauschte mit großen Augen, während er erklärte, wie die ganze Welt sich regelrecht umgekehrt hatte, und wollte dann von ihm wissen, ob so etwas noch einmal passieren könne. Er hatte ja gesagt, und sie hatte daraufhin nicht einschlafen können. Als sie ihre Angst bemerkte, hatte ihr Kindermädchen ihr ein paar Tage später einen Kinderreim beigebracht, der die auf dem Kopf stehende Welt wieder in Ordnung bringen würde. Sie versuchte, sich an den Reim zu erinnern, als sie jemanden rufen hörte.
»Karla!«
Maria Arbatov winkte Karla zu. Die Expedition war bereit weiterzuziehen. Karla setzte sich in Bewegung, um zu den anderen zurückzukehren. Es wurde Zeit, sich wieder der aktuellen Aufgabe zu widmen. Sie wusste, dass es nicht einfach würde. Die Entdeckung des Kadavers des Mammutjungen war ein erstaunlicher Glücksfall gewesen. Aber Ivory Island war eine reiche Fundstätte der Urzeit. Wenn sie hier nicht finden sollte, was sie suchte, würde sie sämtliche Expeditionen für immer aufgeben und dabei bleiben, Museumsobjekte zu katalogisieren.
Gestärkt durch ein herzhaftes Frühstück, war die Expedition schon früh an diesem Morgen aufgebrochen. Ito und Sato waren vor allen anderen abmarschbereit gewesen. Sie trugen von ihren Schuhen bis zu ihren Hüten identische Warmwetterkleidung. Sergei war mürrischer als sonst, und nicht einmal Marias freundliches Lächeln konnte seine schlechte Laune vertreiben, daher ignorierte sie ihn.
Sie hatten ihre Rucksäcke geschultert und waren ins Innere der Insel aufgebrochen, wobei sie den Fluss als Wegweiser benutzten. Sie waren über die flache Tundra schnell vorangekommen. Am späten Vormittag, als sie unweit Karlas Hügel ihre erste Rast eingelegt hatten, lagen bereits einige Kilometer hinter ihnen.
Während sie sich ihren Rucksack auf den Rücken schwang, um weiterzumarschieren, sagte Karla: »Was ich mich schon die ganze Zeit frage … Wie haben Sie Ihren Fund den weiten Weg zurück zum Lager transportiert? Der Kadaver muss doch einige hundert Pfund wiegen.«
Ito lächelte und deutete auf die Packen, die er und Sato schleppten. »Aufblasbare Flöße. Wir haben den Kadaver zum Fluss geschafft und ihn bis zum Lager schwimmen lassen.«
Ito lächelte und verbeugte sich höflich, als Karla ihnen zu ihrem Einfall gratulierte.
Sergei übernahm die Führung, gefolgt von den beiden Frauen, während die Japaner die Nachhut bildeten. Sie verließen jetzt den Fluss und wanderten landeinwärts. Die Topographie veränderte sich, als die flache Tundra in eine Landschaft aus Hügeln und Tälern überging, und schließlich kamen sie am Rand der hügeligen Ausläufer am Fuß des Vulkans an. Während sie sich dem schwarzen, wie abgeschnitten aussehenden Berg näherten, den sie aus der Ferne ständig vor Augen gehabt hatten, begann er, vor ihnen aufzuragen wie ein Altar zu Ehren Vulkans, des Herrschers der Unterwelt.
Sie wanderten an mehreren kleinen Seen vorüber und umrundeten ausladende Büschel hohen Grases, die auf sumpfige Stellen hinwiesen, an denen es von Zugvögeln wimmelte. Die Temperatur stieg bis auf Minus ein Grad Celsius an, doch ein Wind, der vom Arktischen Ozean hereinwehte, sorgte für einen Abkühlungsfaktor, der diesen Wert erheblich senkte, und Karla war froh, dass sie sich für ihren Daunenparka entschieden hatte.
Sobald sie in einen etwa zehn Meter breiten Graben hinabgestiegen waren, stellte der kalte Wind kein Problem mehr dar. Rund sieben Meter hohe Böschungen hielten ihn von beiden Seiten ab. Ein schmaler Bach, nicht mal einen Meter breit, hatte sein Bett in der Mitte, so dass sie rechts und links davon genügend Platz zum Gehen hatten. Etwa zwei Stunden lang folgten sie dem gewundenen Verlauf des Einschnitts, wobei die Zusammensetzung der Böschung sich allmählich veränderte. Schon bald wurde deutlich, dass die Rinne ein urzeitlicher Friedhof war. Der Bach hatte diese Rinne geschaffen und sich durch mehrere Schichten von Knochen gegraben, die nun aus dem Sand unter ihren Füßen hervorschauten.
Karla blieb stehen und hob einen Büffelknochen auf, der genau in die Pfanne eines anderen Knochen passte, den sie ein paar Schritte weiter fand. Die anderen Wissenschaftler waren nicht sonderlich beeindruckt. Sie schenkten dem Fund kaum einen zweiten Blick, und sie musste die Knochen fallen lassen und sich beeilen, um die anderen wieder einzuholen.
Sie war verärgert und enttäuscht über ihre Gleichgültigkeit, aber der Grund für ihr mangelndes Interesse wurde schon bald offenbar. Während sie eine Biegung umrundeten, sah sie, dass die niedrigen Kliffs nahezu vollständig aus Knochen jeder Größe und Art bestanden, die durch den Permafrost zusammengefügt worden waren. Sie identifizierte schnell ein Zwergpferd und urzeitliche Rentierfossilien, Rippen und Oberschenkelknochen sowie mächtige Mammutknochen und Stoßzähne. Der Friedhof erstreckte sich über fast zweihundert Meter Länge.
Mit großem Trara verkündete Sergei, dass sie an ihrem Ziel angelangt seien. Er ließ seinen Rucksack neben der Asche eines früheren Feuers auf den Boden fallen. »Das ist unser Basislager«, erklärte er.
Die anderen nahmen ebenfalls ihre Rucksäcke ab und setzten den Weg durch den Graben fort, nur mit Kameras und ein paar kleinen Werkzeugen bewaffnet. Während sie weitergingen, dachte Karla an das Mammutjunge im Camp. Sie konnte es kaum erwarten, den Fund eingehend zu untersuchen. Aus seinem Gewebe und der Knorpelsubstanz könnten sie mithilfe der Radiokarbonmethode feststellen, wann das Tier gelebt hatte und gestorben war. Die Stoßzähne lieferten Wachstumsringe wie bei einem Baum, aus denen man die jahreszeitlich bedingten Wetterveränderungen sowie Daten über den Stoffwechsel und über das Wanderverhalten herauslesen konnte. Samenkörner und Pollenreste im Magen würden einiges über die biologische Welt berichten, die hier vor Tausenden von Jahren existiert hatte.
Nachdem sie etwa zehn Minuten gegangen waren, kamen sie zu einem Abschnitt, in dem sich in einer Wand der engen Schlucht eine kleine Höhle befand.
»Hier haben wir unser kleines Baby gefunden«, sagte Sergei.
Der zerklüftete Hohlraum war einige Meter lang und etwa dreißig Zentimeter tief.
»Wie sind Sie durch den Permafrost gelangt?«, wollte Karla wissen.
»Unglücklicherweise hatten wir keinen Wasserschlauch, um den Permafrost aufzutauen«, antwortete Maria. »Daher mussten wir uns auf Hammer und Meißel beschränken, um den Fund freizulegen.«
»Demnach war er schon zu sehen, ja?«
»Ja«, sagte Maria. »Wir mussten uns nur einmal mit dem Meißel um den Kadaver herumarbeiten, ehe wir ihn herausziehen konnten.« Sie beschrieb, wie sie aus Mammutstoßzähnen eine behelfsmäßige Bahre gebaut und den Kadaver zum Fluss geschleift hatten. Mit dem Floß war er dann ins Camp geschippert und im Schuppen deponiert worden, wo die Temperatur während des ganzen Tages nicht über den Gefrierpunkt stieg.
Karla untersuchte die Öffnung. »Irgendetwas ist hier merkwürdig«, sagte sie.