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Der Mann hustete plötzlich, und das Grinsen auf seinem Gesicht verwandelte sich in eine Fratze des Schocks. Ein Blutfaden sickerte aus seinem Mundwinkel. Er drehte sich langsam wie in Zeitlupe um, sein Schuh rutschte von Karlas Hals, und sie sah den Griff eines Jagdmesser zwischen seinen Schulterblättern aus seinem Rücken ragen. Dann gaben seine Beine nach, und er brach zusammen.

Karla rollte sich zur Seite, um von dem fallenden Körper nicht erdrückt zu werden. Ihre Erleichterung dauerte nur kurze Zeit. Ein anderer Mann kam auf sie zu.

Er war hochgewachsen und humpelte. Die Sonne, die in den Graben schien, stand in seinem Rücken, und sein Gesicht lag im Schatten und war nicht zu erkennen. Sie wollte aufstehen, aber sie war immer noch benommen und nach dem Sturz auf den Hinterkopf zu keiner gezielten Handlung fähig.

Der Mann rief sie bei ihrem Vornamen. Es war eine Stimme, die sie seit vielen Jahren nicht mehr gehört hatte.

Dann verlor sie das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, beugte der Mann sich über sie, hielt ihren Kopf in den Händen und benetzte ihre schmerzenden Lippen mit Wasser aus einer Feldflasche. Sie erkannte das energische Kinn und die blassblauen Augen, die sie voller Sorge musterten. Sie lächelte, obgleich ihre aufgesprungenen Lippen das mit einem heftigen Schmerz quittierten.

»Onkel Karl?«, fragte sie wie in einem Traum.

Schroeder legte seine Fuchspelzmütze als Kissen unter ihren Kopf, dann entfernte er sich, um sein Messer zurückzuholen, und wischte anschließend die Klinge am Mantel des Toten ab. Er hob seine Schrotflinte auf und hängte sie sich über die Schulter. Dann nahm er seine Mütze an sich, schob die Arme unter ihren Körper und hob sie hoch wie ein Feuerwehrmann, der sich um ein Brandopfer kümmert.

Stimmen näherten sich im Graben.

Ein Schmerz strahlte von seinem Fußknöchel in sein Bein, doch Schroeder achtete nicht darauf. Mit vorsichtigen Schritten trug er Karla in die entgegengesetzte Richtung und verschwand um eine Biegung, kurz bevor der Mongole und der Rest seiner Bande ihren Gefährten fanden. Sie brauchten nur Sekunden, um zu erkennen, dass er tot war. Geduckt schlichen sie sich an der Grabenwand entlang, die Waffen gespannt und schussbereit.

Schroeder rannte um sein Leben. Und um das Leben Karlas.

24

Weniger als zehn Stunden nach Verlassen Washingtons sank der türkisfarbene NUMA-Firmenjet vom Himmel über Alaska herab und landete auf dem Flughafen in Nome. Austin und Zavala tauschten den Jet gegen eine zweimotorige Propellermaschine der Bering Air und starteten bereits nach einer Stunde mit Ziel Providenya auf der russischen Seite der Beringstraße.

Der Flug über die Meerenge dauerte weniger als zwei Stunden. Der Flughafen von Providenya lag in einer malerischen Bucht, die von zerklüfteten grauen Bergen umgeben war. Die Stadt war während des Zweiten Weltkriegs eine Zwischenstation für Flugzeuge gewesen, die nach dem Lend-Lease Act von den Vereinigten Staaten nach Europa geflogen wurden, aber diese glorreichen Zeiten waren lange vorbei. Im Flughafen standen nur ein paar Charterflugzeuge und ein Militärhubschrauber, als das Flugzeug auf das kombinierte Flugkontroll- und Verwaltungsgebäude zurollte, ein müde dreinschauendes, zweistöckiges Bauwerk aus gewelltem Aluminiumblech, das aussah, als stamme es noch aus der Zeit Peters des Großen.

Als einzige ankommende Passagiere erwarteten Austin und Zavala, bei der Zoll- und Passkontrolle schnell abgefertigt zu werden. Aber die attraktive junge Beamtin, die für die Kontrolle der Einreisedokumente zuständig war, schien jedes Wort in Austins Reisepass auswendig lernen zu wollen. Dann bat sie auch noch um Zavalas Papiere. Sie legte die Pässe und die Visa nebeneinander.

»Zusammen?«, fragte sie und blickte von Gesicht zu Gesicht.

Austin nickte. Die Frau runzelte die Stirn, dann winkte sie einen bewaffneten Posten heran, der in der Nähe gestanden hatte. »Folgen Sie mir«, bellte sie wie ein Armeeausbilder. Nachdem sie die Papiere zusammengerafft hatte, marschierte sie ihnen voraus durch eine Tür auf der anderen Seite der Halle, während der Wachtposten dem Trio folgte.

»Ich dachte, du hättest so hochkarätige Freunde«, sagte Zavala.

»Sie wollen uns wahrscheinlich nur feierlich den Stadtschlüssel überreichen«, erwiderte Austin.

»Ich glaube eher, sie wollen uns einen Schuss verpassen«, sagte Zavala. »Lies mal das Schild über der Tür.«

Austin warf einen Blick auf die roten Lettern auf der weißen Tafel. Dort stand auf Englisch und Russisch das Wort QUARANTÄNE. Sie traten durch die Tür in einen kleinen grauen Raum. Das Innere war kahl bis auf drei Stahlrohrstühle und einen Tisch. Der Wächter folgte ihnen in den Raum und bezog Posten an der Tür.

Die Beamtin der Passkontrolle knallte die Papiere auf den Tisch. »Ausziehen«, befahl sie.

Austin hatte während des Fluges ein wenig schlafen können, aber er war immer noch leicht benommen und sich deshalb nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Die Frau wiederholte den Befehl.

Austin grinste. »Donnerwetter. Wir kennen uns doch kaum.«

»Ich habe schon gehört, dass die Russen freundlich sind. Aber dass sie so freundlich sind, wusste ich nicht«, sagte Zavala.

»Ziehen Sie sich aus, oder Sie werden ausgezogen«, sagte die Frau und schaute zu dem bewaffneten Wachtposten, um ihre Aufforderung zu unterstreichen.

»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Austin. »Aber in unserer Heimat lassen wir Damen stets den Vortritt.«

Zu seiner Verwunderung lächelte die Frau. »Ich wurde schon gewarnt, dass Sie ein harter Brocken sind, Mr. Austin.«

Austin begann, Lunte zu riechen. Er legte den Kopf leicht zur Seite. »Wer sollte Ihnen so etwas erzählt haben?«

Die Worte waren kaum über seine Lippen gekommen, als sich auch schon die Tür öffnete. Der Wachtposten trat beiseite, und Petrow betrat den Raum. Sein sympathisches Gesicht war zu einem breiten Grinsen verzogen, das allerdings wegen der gekrümmten Narbe auf seiner Wange ein wenig schief ausfiel.

»Willkommen in Sibirien«, sagte er. »Es freut mich, erleben zu dürfen, dass Sie bereits eine Kostprobe unserer Gastfreundschaft haben genießen können.«

»Iwan«, stöhnte Austin. »Ich hätte es mir denken können.«

Petrow hatte eine Flasche Wodka und drei Schnapsgläser mitgebracht, die er jetzt auf den Tisch stellte. Er kam herüber, schlang die Arme um Austin und tat das Gleiche dann bei Zavala. »Wie ich sehe, haben Sie Dimitri und Veronika schon kennen gelernt. Die beiden gehören zu meinen vertrauenswürdigsten Agenten.«

»Joe und ich hätten niemals ein so warmes Willkommen an einem kalten Ort wie Sibirien erwartet«, sagte Austin.

Petrow bedankte sich bei seinen Agenten und entließ sie. Er zog sich einen Stuhl heran und forderte die anderen auf, es ebenfalls zu tun. Er schraubte die Wodkaflasche auf, schenkte die Gläser voll und verteilte sie.

Mit erhobenem Glas sagte er: »Auf die alten Feinde.«

Sie stießen an und leerten die Gläser. Der Wodka schmeckte wie flüssiges Feuer, aber er hatte eine stärkere aufmunternde Wirkung als reines Koffein. Als Petrow sich anschickte, eine zweite Runde einzuschenken, deckte Austin eine Hand auf sein Glas. »Das wird wohl warten müssen. Wir haben eine ernste Angelegenheit zu erledigen.«

»Es gefällt mir, dass Sie wir sagen. Nach Ihrem Anruf kam ich mir regelrecht ausgeschlossen vor.« Er schenkte sich ein weiteres Glas ein. »Bitte erklären Sie mir, weshalb Sie es für notwendig hielten, ins nächste Flugzeug zu steigen und um die halbe Welt bis in dieses vielgeliebte Gartenparadies zu fliegen.«

»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Austin mit einem Ausdruck von Müdigkeit, die nicht von den vielen Stunden im Flugzeug herrührte. »Sie beginnt und endet mit einem hervorragenden ungarischen Wissenschaftler namens Kovacs.«

Er schilderte die Abläufe in chronologischer Reihenfolge, wobei er zurückging bis zu Kovacs’ Flucht aus Ostpreußen und seinen Bericht mit der jüngeren Vergangenheit, also ihren Riesenwellen, dem Strudel und seinem Gespräch mit Barrett abschloss.

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