Die anderen Wissenschaftler drängten sich um sie.
»Ich sehe nichts«, sagte Sergei.
»Doch, da vorne. Da sind andere Knochen, die viel tiefer im Permafrost stecken. Sie sind offensichtlich einige tausend Jahre alt.« Sie griff in das Loch und kratzte ein paar verfaulte Pflanzenreste heraus und zeigte sie ihren Kollegen.
»Dies hier ist nicht sehr alt. Ihr kleiner Elefant ist in viel jüngerer Zeit in dieses Loch gelangt.«
»Vielleicht liegt es an meinen beschränkten Englischkenntnissen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was Sie damit ausdrücken wollen«, sagte Sato höflich.
»Ja, was meinen Sie überhaupt?«, fragte Sergei und versuchte gar nicht erst, seine Ungehaltenheit zu verbergen.
»Dass das Mammut nicht in diese Umgebung gehört?«
»Ich weiß nicht, was ich meine. Ich habe nur festgestellt, dass das Fleisch nicht verfault ist.«
Sergei verschränkte die Arme und blickte die anderen mit einem triumphierenden Grinsen an.
»Ich verstehe«, sagte Maria. »Es wundert mich, dass wir es nicht vorher schon bemerkt haben. Diese kleine Schlucht füllt sich von Zeit zu Zeit immer noch mit Wasser. Es ist möglich, dass eine Überschwemmung das Baby weiter flussaufwärts aus der Grabenwand gewaschen und hierher mitgenommen hat, wo es in dem Loch hängen blieb und erneut einfror.«
Sergei erkannte, dass sein Nimbus als Expeditionsleiter zu verblassen drohte. »Wir sind nicht hergekommen, um uns irgendwelche Erdlöcher anzusehen«, sagte er barsch. Er ging etwa dreißig Meter weiter zu einer Stelle, wo der Graben sich gabelte. »Sie gehen mit Maria dort hinein«, sagte er und deutete auf die linke Abzweigung. »Wir untersuchen den anderen Graben.«
»Aber in diesem Teil waren wir doch schon«, protestierte Maria.
»Dann schaut euch noch einmal um. Vielleicht findet ihr noch mehr von euren schwimmenden Mammuts.«
Marias Augen blitzten. Sato erkannte, dass ein mittleres Donnerwetter drohte, und intervenierte. »Wir sollten lieber überprüfen, ob unsere Sprechfunkgeräte auf den gleichen Kanal eingestellt sind«, sagte er schnell.
Nachdem auf diese Art und Weise ein heftiger Streit vermieden worden war, kontrollierte jeder sein Walkie-Talkie und vergewisserte sich, dass die Batterien geladen waren. Dann teilten sie sich in zwei Gruppen auf, wobei die drei Männer nach rechts gingen und die Frauen in den linken Arm des Grabens vordrangen.
»Was ist heute mit Sergei los?«, erkundigte Karla sich.
»Wir hatten gestern Abend Streit wegen Ihrer Theorie. Er sagte, sie sei völlig falsch. Ich erwiderte, das meine er nur, weil Sie eine Frau sind. Er ist ein schrecklicher Macho, dieser Mann.«
»Vielleicht braucht er nur ein wenig Zeit, um sich zu beruhigen.«
»Der alte Bock wird heute Nacht mit einem Eisberg schlafen. Vielleicht bringt ihn das zur Ruhe.«
Sie brachen in schallendes Gelächter aus, das von den Wänden des Grabens widerhallte. Nachdem sie mehrere Minuten lang gegangen waren, sah Karla, weshalb Maria so wütend gewesen war, in den linken Seitenarm geschickt zu werden. Es gab hier nur wenige Knochen. Maria bestätigte, dass die Expedition den anderen Arm teilweise untersucht und festgestellt hatte, dass dort viel mehr Knochen zu finden waren als im linken Seitenarm.
Während sie die Wände der Rinne untersuchten, knisterte Marias Sprechfunkgerät. Itos Stimme erklang.
»Maria und Karla. Bitte kommt sofort zu der Stelle zurück, wo wir uns getrennt haben.«
Wenige Minuten später gelangten sie zu der Gabelung des Grabens. Ito wartete schon auf sie. Er sagte, er habe etwas gefunden, das er ihnen zeigen müsse, und führte sie durch den Graben dorthin, wo die beiden anderen Männer vor einem Teil der Böschung standen, der aussah, als sei er mit Dynamit aufgesprengt worden.
»Jemand hat hier gegraben«, sagte Sergei und stellte damit fest, was jeder mit eigenen Augen erkennen konnte.
»Wer könnte so etwas gemacht haben?«, fragte Sato.
»Hält sich noch jemand anderer auf der Insel auf?«, fragte Karla.
»Wir glauben nicht«, antwortete Ito. »Ich dachte, ich hätte vor ein paar Tagen abends irgendein Licht gesehen, aber ganz sicher war ich mir nicht.«
»Es scheint, als seien Ihre Augen bestens in Ordnung«, sagte Sato. »Wir sind nicht alleine auf der Insel.«
»Elfenbeinjäger«, folgerte Sergei. Er hob einen Knochensplitter vom Boden hoch, der mit Tausenden Bruchstücken übersät war. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie diese Stelle gefunden haben. Es ist eine Sünde. Das hier hat nichts Wissenschaftliches. So wie es aussieht, ist jemand den Schätzen mit Hammer und Meißel zu Leibe gerückt.«
»Wenn Sie es genau wissen wollen, wir benutzen dazu einen tragbaren Presslufthammer.«
Die Worte kamen aus dem Mund eines untersetzten Mannes, der auf einem Vorsprung der Grabenwand stand und auf sie herabschaute. Sein breites Gesicht, seine schmalen, verhangenen Augen und seine hohen Wangenknochen verrieten seine mongolische Herkunft. Ein dünner Schnurrbart verlief zu beiden Seiten des Mundes, der zu einem dünnlippigen Grinsen verzogen war, abwärts. Karla hatte während ihres Aufenthaltes in Fairbanks Russisch gelernt und verstand im Wesentlichen, was er sagte. Die Schrotflinte in seiner Armbeuge war allerdings um einiges lauter und eindeutiger als irgendwelche Worte.
Er stieß einen Pfiff aus, und eine Sekunde später erschienen vier Männer im Graben. Sie kamen von beiden Seiten und waren mit ähnlichen Waffen ausgerüstet. Sie hatten brutal aussehende unrasierte Gesichter mit grinsenden Mündern und harten Augen.
Sergei mochte überheblich und unerträglich sein, doch er demonstrierte unerwarteten Mut, geboren aus wissenschaftlichem Zorn. Er deutete auf die zerbrochenen Knochen. »Ist das Ihr Werk?«
Der Mann zuckte die Achseln.
»Wer sind Sie?«
Der Mongole ignorierte die Frage und blickte an Sergei vorbei.
»Wir suchen die Frau namens Karla Janos.«
Der Mann starrte Karla an, und sie erschrak, als sie ihren Namen aus dem Mund des Fremden hörte. Sergei blickte reflexartig zu ihr hinüber, besann sich aber dann.
»Hier ist niemand, der so heißt.«
Der Mongole zischte einen kurzen Befehl, und der Mann, der Karla am nächsten stand, packte mit seinen schmutzigen Fingern brutal ihren Arm und zerrte sie von ihren Kollegen weg.
Sie wehrte sich. Er drückte ihren Arm so kraftvoll, dass sich ein Bluterguss bildete. Er grinste, als sich ihre Miene vor Schmerz verzerrte, und drückte sie an sich, so dass ihre Gesichter sich beinahe berührten. Der Gestank seines ungewaschenen Körpers und sein fauliger Atem ließen sie würgen.
Sie blickte über die Schulter. Die anderen Wissenschaftler wurden durch den Graben getrieben. Der Mann auf dem Vorsprung war verschwunden. Während sie weggezerrt wurde, hörte sie Maria aufschreien und dann laute Rufe männlicher Stimmen.
Schüsse fielen, deren Lärm von den Grabenwänden widerhallte. Sie versuchte, zu ihren Kollegen zurückzurennen, doch der Mann packte sie bei den Haaren und riss sie zurück. Zuerst war da nur ein betäubender Schmerz, dann nackte Wut. Sie wirbelte herum und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Er zog den Kopf zur Seite, und ihre Fingernägel schabten harmlos über seinen verfilzten Bart.
Er holte mit der Hand aus und schlug zu. Karla wurde von dem Schlag betäubt und bot wenig Gegenwehr, als er einen Fuß hinter ihre Beine stemmte und sie niederstieß. Ihr Hinterkopf schlug auf dem Erdboden auf, und vor ihren Augen explodierten ganze Sternengalaxien. Dann klärte sich ihr Blick, und sie sah, wie der Mann amüsiert auf sie herabstarrte und lustvolle Gier in seinen Schweinsaugen funkelte.
Er hatte sich entschlossen, sich mit seinem reizenden Opfer noch ein wenig zu vergnügen. Er legte sein Gewehr außer Reichweite auf die Erde und begann, seine Hose aufzuknöpfen. Karla versuchte auf allen vieren, ihm zu entkommen. Er lachte und stellte einen Fuß auf ihren Hals. Sie schlug mit den Fäusten gegen seinen Fußknöchel und bäumte sich verzweifelt auf. Sie konnte kaum atmen.