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»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Karla. »Wie Sie wissen, gibt es drei Hypothesen über die Ursache des Aussterbens. Die erste besagt, dass die Clovis-Menschen durch extensive Jagd für das Aussterben verantwortlich waren.«

»Das wesentliche Manko dieser Hypothese ist, dass damit das Aussterben in der restlichen Welt nicht erklärt wird«, sagte Arbatov.

»Es gibt außerdem keinerlei fossile Beweise, die diese Hypothese stützen, daher wenden wir uns der zweiten Hypothese zu, dass nämlich ein tödliches Virus die Säugetierpopulationen der Welt heimgesucht hat.«

»Halten Sie die Virus-Hypothese für die plausibelste?«, fragte Dr. Sato.

»Ja und nein. Ich komme darauf zurück, nachdem wir uns die dritte Hypothese, einen drastischen Klimawechsel, angesehen haben. Gegen Ende der Periode veränderte das Wetter sich schlagartig. Aber in dieser Hypothese klafft ein großes Loch. Auf mehreren Inseln überlebten die Tiere. Wäre jedoch ein Klimawechsel die Ursache für das massenhafte Aussterben gewesen, hätten auch sie sterben müssen.«

»Wenn extensive Jagd oder ein Virus oder ein Klimawechsel nicht die Ursache waren, was war es dann?«, fragte Sergei.

»Im Grunde haben wir es mit zwei Denkmodellen zu tun. Da wäre zuerst einmal der Katastrophismus, der besagt, dass ein einzelnes Ereignis oder eine Kette von Ereignissen das Aussterben ausgelöst hat. Und dann ist da noch der Uniformismus, laut dem das Aussterben sich über einen längeren Zeitraum hingezogen hat und auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist.«

»Zu welchem Lager gehören Sie — zu den Katastrophisten oder den Uniformisten?«, wollte Arbatov wissen.

»Zu keinem. Keine Hypothese für sich wird allen Fakten gerecht. Ich denke, dass alles bisher Genannte daran beteiligt war, nämlich dass das Aussterben durch eine Katastrophe oder eine ganze Folge von Katastrophen in Gang gesetzt wurde. Tsunamis. Vulkanausbrüche, wodurch tödliche Wolken und Gase erzeugt wurden, die für eine grundlegende Veränderung der Vegetation sorgten.«

»Diese Hypothese hat allerdings auch ein großes Loch«, stellte Arbatov fest. »Alle Indizien weisen darauf hin, dass das Aussterben sich über Hunderte oder gar Tausende von Jahren erstreckte.«

»Das wäre kein Problem. Meine Hypothese berücksichtigt die Entdeckung von zahlreichen Mammuts, die man in Massengräbern gefunden hat, und sie erklärt gleichzeitig, weshalb einige Exemplare noch lange Zeit überlebt haben. Es gibt Beweise dafür, dass viele Tiere gewaltsam getötet wurden. Aber wir wissen auch, dass einige Mammutarten noch existierten, als die Ägypter ihre Pyramiden bauten. Die Katastrophe hat die Mammutherden derart geschwächt, dass sie durch Krankheiten und durch Jäger endgültig ausgelöscht werden konnten. Das Aussterben einer bestimmten Art setzte einen Dominoeffekt in Gang. Die Raubtiere, die Mammuts jagten, und andere Tiere verloren ihre Nahrungsquelle.«

»Ich denke, dass Sie auf der richtigen Spur sind, aber Sie meinen, dass diese weltweite Katastrophe plötzlich stattfand. Eben haben die Mammuts noch gemütlich Gras gefressen, und plötzlich waren sie zum Aussterben verurteilt. Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?«

»Überhaupt nicht. Aber ich wäre die Erste, die zugibt, dass die Hypothese vom Polsprung ziemlich umstritten ist.«

»Polsprung?«

»Ich meine damit eine Neuausrichtung der Erdpole.«

»Wir sind keine Geologen«, sagte Arbatov. »Erklären Sie bitte, was Sie damit meinen.«

»Gerne. Es gibt zwei Arten der Polverschiebung. Eine ›magnetische Polverschiebung‹ hat eine Umkehr der magnetischen Pole zur Folge, wodurch allerlei Unannehmlichkeiten ausgelöst werden, jedoch nichts geschieht, das wir nicht überleben könnten. Eine ›geologische Polverschiebung‹ wäre eine tatsächliche Bewegung der Erdkruste über ihrem flüssigen Kern. Eine solche Erscheinung könnte eine Katastrophe auslösen wie die, von der ich annehme, dass sie die Mammuts als Art ausgelöscht hat.«

Arbatov war nicht überzeugt. »Sie legen Ihrer Hypothese vom Aussterben die theoretische Verschiebung der Erdpole zugrunde? Sie werden zugeben müssen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, dass es zu einer derart großräumigen Störung kommen kann.«

»Im Gegenteil. Es ist geschehen, und es könnte jederzeit wieder geschehen.«

Arbatov ergriff mit einer übertriebenen Geste Karlas Glas. »Unser Gast hat wohl ein wenig zu sehr dem Wodka zugesprochen.«

»Sie können gerne meinen Aufsatz lesen, Dr. Arbatov, in dem ich meine Hypothese ausführlich begründe. Ich glaube, er wird Ihnen gefallen. Vor allem die Gleichungen, die zeigen, auf welche Art und Weise eine Störung des Magnetfelds der Erde einen Polsprung herbeiführen kann.«

Am Tisch brach eine Diskussion aus zwischen denen, die ihrer Hypothese zustimmten, und denen, die ihr widersprachen. Trotz ihrer zivilisierten Umgangsformen war offensichtlich, dass es in der Gruppe Spannungen gab. Das überraschte sie nicht. Wissenschaftler unterschieden sich nicht von sogenannten normalen Menschen, außer dass sie vielleicht um einiges eitler und kleinlicher waren. Marias ausgeprägt freundliche Persönlichkeit beendete den verbalen Schlagabtausch.

»Ich entschuldige mich für dieses ungehörige Verhalten gegenüber einem Gast«, sagte sie und schien ihren Mann mit Blicken erdolchen zu wollen. »Wie sehen Ihre Pläne für morgen aus?«

Nachdem Arbatov einen Dämpfer erhalten hatte, endete die Diskussion so schnell, wie sie ausgebrochen war.

»Vielleicht kann mir jemand von Ihnen zeigen, wo Sie Babar gefunden haben.«

Das sei kein Problem, wurde ihr gesagt. Alle halfen Maria beim Aufräumen. Wenig später schlüpfte Karla in ihren Schlafsack. In dem alten Gebäude war es bemerkenswert gemütlich und warm, und bis auf das Geraschel, das von allerlei kleinem Getier verursacht wurde, fühlte sie sich recht wohl. In ihrer Erregung über den Fund des Mammutbabys hatte sie Schwierigkeiten einzuschlafen.

Sie erinnerte sich an ein Gute-Nacht-Gedicht, das ihr Großvater immer aufgesagt hatte, nachdem sie nach dem Tod ihrer Eltern zu ihm gezogen war.

Sie kam kaum fünf Zeilen weit, als der Schlaf sie am Ende doch übermannte.

19

Die Trouts landeten am Spätnachmittag in Albuquerque und fuhren anschließend nach Santa Fé, wo sie übernachteten. Früh am nächsten Morgen stiegen sie in ihren Mietwagen und machten sich auf den Weg nach Los Alamos, das auf einer natürlichen Zitadelle oberhalb der drei Mesas lag, die sich an das Panaretos Plateau anschlossen.

Während der fünfundsechzig Kilometer langen Fahrt bemerkte Trout bei seiner Frau eine deutliche Veränderung. Hatte sie sich anfangs noch begeistert über die Landschaft gezeigt, durch die sie fuhren, und den Wunsch geäußert, sich unterwegs ein indianisches Pueblo anzusehen, war sie nun ungewöhnlich schweigsam.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte er. »Natürlich unter Berücksichtigung der Inflationsrate.«

»Wenn ich diese friedliche Landschaft sehe, muss ich an die Arbeit denken, die hier im Rahmen des Manhattan Projects geleistet wurde, und an die schrecklichen Kräfte, die dadurch entfesselt wurden.«

»Jemand hatte es tun müssen. Sei bloß froh, dass wir die Ersten waren.«

»Das weiß ich, aber es bedrückt mich immer noch, wenn ich mir vorstelle, dass wir noch immer nicht gelernt haben, wie wir den Geist unter Kontrolle halten, den wir aus der Flasche befreit haben.«

»Kopf hoch. Atomkraft könnte verglichen mit Strudeln und Riesenwellen am Ende ein alter Hut sein.«

Gamay schickte ihm einen säuerlichen Blick. »Vielen Dank für deinen liebevollen Aufmunterungsversuch.«

Seit den Tagen, als Robert Oppenheimer und sein Team von Genies dahintergekommen waren, wie man die Kraft des Atoms in einen stählernen, mit einem Steuerschwanz versehenen Zylinder einsperrt, hatte Los Alamos sich erheblich verändert. Es war eine betriebsame, im Südwesten der USA gelegene Stadt mit Einkaufszentren, Schulen, Parks, Sinfonieorchester und Theater, hatte es aber nie geschafft, sich von seiner düsteren Vergangenheit zu befreien. Vielleicht hatte die Stadt es auch gar nicht gewollt. Obgleich das Los Alamos National Laboratory sich heutzutage mit zahlreichen friedlichen wissenschaftlichen Projekten befasst, ist der Geist des Manhattan Project dort immer noch greifbar.

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