Der Wagen flog einen Hügel hinauf, ohne langsamer zu werden, und auf der anderen Seite wieder hinunter. Austin konnte vor sich Autos sehen, die über eine Straße am Rand des Schlachtfeldes rollten. Er musste einer Steinmauer und einem Zaun ausweichen, aber einen kurzen Moment später hüpfte der Stanley über das Bankett und landete auf zwei Highwayfahrbahnen.
Er richtete den Wagen aus und steigerte die Geschwindigkeit. Auf dem harten Asphalt verwandelte der Wagen sich in ein verspieltes junges Füllen, das einfach nur rennen wollte. Die Hartgummiräder summten auf dem Asphalt. Er überholte mit den Bikern im Schlepptau einige Fahrzeuge, und sobald er freie Bahn hatte, beschleunigte Austin den Wagen bis auf hundertvierzig Stundenkilometer. Er entdeckte ein Schild, das auf eine Ausfahrt aufmerksam machte, und betätigte behutsam die Bremsen. Die Biker ließen sich zurückfallen, weil sie mit einer List rechneten.
Austin lenkte den Wagen in eine Auffahrt. Der Stanley gelangte auf den Haupthighway. Austin lenkte hin und her, aber jedes Mal, wenn er dieses Manöver ausführte, blieben die beweglicheren Motorradfahrer dicht an ihm dran. Er versuchte, sie mithilfe noch höherer Geschwindigkeit abzuschütteln. Er war jetzt mit fast hundertsechzig Sachen unterwegs, dann mit hundertachtzig. Aufgrund des Windes, der ihm heftig ins Gesicht peitschte, konnte er kaum etwas erkennen.
»Wo ist die Verkehrspolizei, wenn man sie dringend braucht?«
Karla kauerte sich in ihrem Sitz so gut es ging zusammen, während sie versuchte, dem eisigen Fahrtwind möglichst zu entgehen.
»Was ist?«
»Haben Sie ein Mobiltelefon?«
»Sagen Sie bloß, Sie wollen jetzt telefonieren«, fragte sie entgeistert.
»Nein, Sie sollen telefonieren. Rufen Sie die Staatspolizei an und erklären Sie ihnen, ein Irrer sei in einem alten roten Wagen unterwegs und würde von einer Bande Biker in Bürgerkriegsuniformen verfolgt. Das müsste sie eigentlich aufscheuchen.«
Karla nickte und suchte in ihrer Tasche nach einem Telefon. Sie gab die Notrufnummer ein. Als sich am anderen Ende die Polizei meldete, gab sie Austins Meldung durch.
»Sie sagen, sie würden es von jemandem überprüfen lassen«, berichtete sie. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir geglaubt haben.«
Die Motorradfahrer kamen wieder näher. Austin holte alles aus dem Wagen heraus. Er hätte sich eigentlich um die verschiedenen Kontrollen kümmern sollen, die den Wasserstand, den Dampfdruck und andere Funktionen überwachten, aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, das Vehikel auf der Straße und auf geradem Kurs zu halten.
Ein beweglicher Schatten erschien plötzlich auf dem Highway. Austin blickte seitlich hoch. Ein Helikopter holte zu ihnen auf. »Das war schnell!«
»Das ist nicht die Polizei«, sagte Karla. »Es ist der Verkehrshelikopter irgendeiner Fernsehstation.«
Der Hubschrauber erschien über ihnen und blieb ohne Schwierigkeiten auf gleicher Höhe. Austin zermarterte sein Gehirn auf der Suche nach einem Plan, aber er hatte alle Optionen ausgeschöpft. Der Wagen flog an einer Abfahrt vorbei. Austin schaute in den Rückspiegel und sah, wie die Motorräder langsamer wurden und dann in die Abfahrt einbogen.
»Unsere Freunde haben sich verabschiedet«, stellte er fest.
Karla drehte sich um, während der letzte Rebellensoldat den Highway verließ. »Warum?«, wollte sie wissen.
»Kamerascheu. Sie wollen nicht in den Sechs-Uhr-Nachrichten erscheinen.«
Er bremste den Wagen auf vergleichsweise gemütliche hundert Stundenkilometer ab. Er und Karla winkten dem Hubschrauber zu.
Sie winkten noch immer, als drei Streifenwagen der Virginia State Police sie einholten. Austin gehorchte der Phalanx rotierender Blaulichter und dem Geheul der Sirenen und fuhr vom Highway herunter. Der Stanley wurde sofort von bewaffneten Polizisten eingekreist. Austin empfahl Karla, die Hände so zu halten, dass die Polizisten sie ständig sehen konnten. Sobald die Polizisten ihre Nervosität überwunden und Austins Führerschein und seinen NUMA-Ausweis überprüft hatten, schienen sie sich mehr für den Dampfwagen als für seine Insassen zu interessieren.
Austin erzählte ihnen von den sechs Bikern, die versucht hatten, sie von der Straße zu drängen. Auf seine Bitte hin sprachen sie mit einem Vertreter der NUMA, der für Austin bürgte. Die Fernsehstation bestätigte die Biker-Geschichte. Nach etwa einer Stunde erhielt Austin seinen Führerschein zurück und die offizielle Erlaubnis, mit Karla den Ort des Geschehens unbehelligt zu verlassen.
Sie machten an einer Autowaschanlage Halt, um das Gras und sonstigen Schmutz von der Karosserie des Wagens zu entfernen. Austin stellte zu seiner Verblüffung fest, dass der Wagen keinerlei Schäden davongetragen hatte. Leute, die das Schlachtfeld verließen, lachten und winkten, als sie kurze Zeit später den Dampfwagen vorbeifahren sahen. Ein hochgewachsener Mann mit dunklem Haar und bläulich schillernden Augen wartete geduldig auf sie.
Austin brachte den Wagen zum Stehen und lächelte. »Hi, Dirk. Vielen Dank für die Familienkutsche.«
»Ich habe euch zwischen den Schlachtlinien hindurchbrettern gesehen mit den Hell’s Angels im Nacken. Was ist eigentlich los?«
»Das ist Karla Janos. Karla, Dirk Pitt.«
Pitt strahlte Karla gewinnend an. »Ich habe schon ungeduldig darauf gewartet, Sie endlich persönlich kennen zu lernen, Miss Janos.«
»Vielen Dank«, sagte sie.
»Wie schnell wart ihr mit dem Schlitten?«, erkundigte er sich beiläufig bei Austin.
»Etwa hundertachtzig.«
»Beeindruckend«, sagte Pitt. »Ich habe nur ein einziges Mal knapp hundertsechzig aus ihm rausgeholt.«
»Tut mir leid, dass ich mir den Wagen ausborgen musste, ohne zu fragen. Aber wir mussten schnellstens von hier weg. Jemand wollte uns vom Leben zum Tode befördern.«
»Das ist nur eine Kopie. Mach dir keine Sorgen.« Pitt überprüfte den Dampfwagen auf Schäden und sagte, als er nichts dergleichen finden konnte: »Nicht jeder besitzt einen Wagen, der an der dritten Schlacht von Bull Run teilgenommen hat.«
Austins Mobiltelefon meldete sich mit einem polyphonen Blues-Rufzeichen. Er entschuldigte sich und nahm den Anruf an. Barrett war am anderen Ende, und er klang aufgeregt. Im Hintergrund war gedämpftes Motorengeräusch zu hören.
»Ich kann Sie kaum verstehen«, sagte Austin. »Was hat dieser Lärm zu bedeuten?«
»Ich denke immer besser, wenn ich fahre. Ich glaube, ich hab’s.«
»Was haben Sie?«
»Der Kinderreim. Es war ein Code. Ich habe die Formel für die Gegenmaßnahme, das Alarmprogramm.«
Austin traute seinen Ohren nicht. »Sagen Sie das noch mal.«
»Die Rettung«, rief Barrett, der annahm, dass Austin ihn bei dem Dröhnen seines Motorrads nicht hören konnte. »Ich habe Lazio Kovacs’ Gegenmaßnahme zur Umkehrung des Polsprungs!«
37
Kurz nachdem die glühende brasilianische Sonne hinter den Bergen versunken war, verließ das ansehnliche, knapp hundertzwanzig Meter lange Expeditionsschiff Polar Adventure den Hafen von Rio de Janeiro und ging mit seiner Reisegeschwindigkeit von fünfzehn Knoten auf südlichen Kurs in Richtung Atlantik.
Die Polar Adventure war Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf einer dänischen Werft gebaut worden und in der Folgezeit dank eines dichten Fahrplans im Mittelmeer sowie in den Gewässern um Europa und Grönland unterwegs gewesen. In letzter Zeit waren sogar Kreuzfahrten durch die Antarktis hinzugekommen. Das Schiff war seinen Eigentümern von einer Scheinfirma abgekauft worden, die eigens für diesen Zweck von Gants Stiftung gegründet worden war.
Der Kauf tauchte lediglich als Buchhaltungsposten auf. In den Büchern waren die Millionen, die für den Kauf und die Umrüstung des Schiffs ausgegeben worden waren, für den Bau einer Fabrik in Santiago, Chile, ausgewiesen worden. Die Adventure war als kleinere Version eines Ozeankreuzers konstruiert worden. Die Erbauer hatten ihre Decks und Kabinen reichlich mit lackiertem Holz und auf Hochglanz poliertem Messing ausgestattet. Passagiere konnten ihre Reise eingebettet in den Luxus der Außenkabinen, des rundum von der Decke bis zum Boden verglasten Speisesaals, eines ähnlich ausgestatteten Salons, diverser Aussichts- und überdachter Promenadendecks sowie einer Aussichtsplattform unterhalb der Kommandobrücke genießen.