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»Ich mache Schluß hier«, sagte Rolande. »In einer Woche reise ich.«

»Für immer?«

Sie nickte und holte ein Telegramm aus ihrem Brustausschnitt. »Hier.«

Ravic öffnete es und gab es zurück. »Deine Tante? Ist sie endlich gestorben?«

»Ja, ich gehe zurück. Ich habe es Madame erklärt. Sie ist wütend, aber sie versteht es. Jeanette muß mich ersetzen. Sie muß noch eingearbeitet werden.« Rolande lachte. »Die arme Madame. Sie wollte dieses Jahr in Cannes glänzen. Ihre Villa ist schon voll von Gästen. Sie ist vor einem Jahr Gräfin geworden. Hat einen Pimp aus Toulouse geheiratet. Zahlt ihm fünftausend Frank im Monat, solange er Toulouse nicht verläßt. Jetzt muß sie hierbleiben.«

»Machst du dein Café auf?«

»Ja. Ich laufe schon den ganzen Tag herum, alles zu bestellen. In Paris kann man es billiger haben. Chintz für die Vorhänge. Was sagst du zu diesem Muster?«

Sie holte aus ihrem Brustausschnitt einen zerdrückten Fetzen Stoff hervor. Blumen auf gelbem Grund. »Wunderbar«, sagte Ravic.

»Ich bekomme es mit dreißig Prozent. Zurückgesetzt vom vorigen Jahr.« Rolandes Augen leuchteten warm und zärtlich. »Ich spare dreihundertsiebzig Frank dabei. Gut, wie?«

»Fabelhaft. Wirst du heiraten?«

»Ja.«

»Warum willst du heiraten? Warum wartest du nicht noch und erledigst vorher alles, was du willst?«

Rolande lachte. »Du verstehst das Geschäft nicht, Ravic. Ohne einen Mann geht das nicht. Der Mann gehört da hinein. Ich weiß schon, was ich tue.«

Sie stand da, fest, sicher, ruhig. Sie hatte alles überlegt. Der Mann gehörte ins Geschäft. »Überschreibe ihm nicht gleich dein Geld«, sagte Ravic. »Warte erst, wie alles geht.«

Sie lachte wieder. »Ich weiß schon, wie es gehen wird. Wir sind vernünftig. Wir brauchen uns im Geschäft. Ein Mann ist kein Mann, wenn seine Frau das Geld hat. Ich will keinen Pimp. Ich muß Respekt haben vor einem Mann. Das kann ich nicht, wenn er kommen muß, mich jeden Augenblick um Geld fragen. Siehst du das nicht ein?«

»Ja«, sagte Ravic, ohne es einzusehen.

»Gut.« Sie nickte zufrieden. »Willst du etwas trinken?«

»Nichts. Ich muß gehen. Ich kam nur so vorbei. Muß morgen früh arbeiten.«

Sie sah ihn an. »Du bist vollkommen nüchtern. Willst du ein Mädchen?«

»Nein.«

Rolande dirigierte zwei Mädchen mit einer leichten Handbewegung zu einem Mann hinüber, der auf einer Banquette saß und schlief. Die übrigen tobten herum. Nur noch wenige saßen auf den Hockern, die in zwei Reihen den Mittelgang entlangstanden. Die andern schlitterten auf den glatten Fliesen des Ganges wie Kinder im Winter auf Eis. Immer zwei zogen eine dritte, hockende, im Galopp den langen Gang hinab. Die offenen Haare flogen, die Brüste wippten, die Schultern schimmerten, das bißchen Seide verhüllte nichts mehr, die Mädchen schrien vor Vergnügen, und die »Osiris« war plötzlich eine arkadische Szene klassischer Unschuld.

»Sommer«, sagte Rolande. »Man muß ihnen ein bißchen Freiheit morgens gönnen.« Sie sah ihn an. »Am Donnerstag ist mein Abschiedsabend. Madame gibt ein Essen für mich. Kommst du?«

»Donnerstag?«

»Ja.«

Donnerstag, dachte Ravic. In sieben Tagen. Sieben Tage. Das sind sieben Jahre. Donnerstag — dann ist es längst geschehen. Donnerstag — wer konnte so weit denken? »Natürlich«, sagte er. »Wo?«

»Hier. Um sechs Uhr.«

»Gut. Ich werde da sein. Gute Nacht, Rolande.«

»Gute Nacht, Ravic.«

Es kam, als er den Retraktor einsetzte. Es kam rasch, bestürzend, heiß. Er zögerte einen Moment. Die offene, rote Höhle, der dünne Dampf der heißen, feuchten Tücher, mit denen die Därme hochgeschoben waren, das Blut, das neben den Klammern aus feinen Adern sickerte — er sah plötzlich Eugenie, die ihn fragend anblickte, er sah das Gesicht Vebers, groß, mit allen Poren und jedem Haar des Schnurrbarts unter dem metallischen Licht — und fing sich und arbeitete ruhig weiter.

Er nähte. Seine Hände nähten. Die Wunde schloß sich. Er fühlte, wie das Wasser unter seinen Armen rann. Es lief an seinem Körper herunter. »Wollen Sie fertignähen?« fragte er Veber.

»Ja. Ist was los?«

»Nein. Die Hitze. Nicht genug geschlafen.«

Veber sah Eugeniens Blick. »Kommt vor, Eugenie«, sagte er. »Selbst bei Gerechten.«

Der Raum schwankte einen Augenblick. Eine wilde Müdigkeit. Veber nähte weiter. Ravic half ihm automatisch. Seine Zunge war dick. Der Gaumen wie Watte. Er atmete sehr langsam. Mohn, dachte etwas in ihm. Mohn in Flandern. Offener, roter Bauch. Rot, offene Mohnblüte, schamloses Geheimnis, Leben, so dicht unter Händen mit Messern. Zucken, die Arme herab, magnetischer Kontakt, weit her von einem fernen Tod. Ich kann nicht mehr operieren, dachte er. Dieses muß erst vorbei sein.

Veber pinselte den geschlossenen Schnitt. »Fertig.«

Eugenie kurbelte die Beine der Operierten herunter. Leise rollte der Wagen hinaus. »Zigarette?« fragte Veber.

»Nein. Ich muß fort. Habe etwas zu erledigen. Ist noch was zu tun hier?«

»Nein.« Veber sah Ravic verwundert an. »Wozu haben Sie es so eilig? Wollen Sie nicht einen Vermouth-Soda oder sonst irgend etwas Kühles trinken?«

»Nichts. Ich muß los! Wußte nicht, daß es schon so spät war! Adieu, Veber.«

Er ging rasch hinaus. Taxi, dachte er draußen. Taxi, schnell. Er sah einen Citroën kommen und hielt ihn an. »Zum Hotel ›Prince de Galles‹! Rasch!«

Ich muß Veber sagen, daß er ein paar Tage ohne mich auskommen muß, dachte er. Es geht so nicht. Ich werde verrückt, wenn ich während der Operation plötzlich denke, daß Haake gerade jetzt anrufen könnte.

Er zahlte das Taxi und ging durch die Halle. Es schien endlos zu dauern, bis der Aufzug kam. Er ging den breiten Korridor hinab und schloß das Zimmer auf. Das Telefon. Er hob den Hörer ab, als sei er ein schweres Gewicht. »Hier ist von Horn. Hat jemand für mich angerufen?«

»Einen Augenblick, mein Herr.«

Ravic wartete.

Die Stimme der Telefonistin kam zurück. »Nein. Kein Anruf.«

»Danke.«

Morosow erschien nachmittags. »Hast du gegessen?« fragte er.

»Nein. Ich habe auf dich gewartet. Wir können zusammen hier essen.«

»Unsinn. Würde auffallen. Niemand ißt in Paris in seinem Zimmer, wenn er nicht krank ist. Geh essen. Ich bleibe hier. Um diese Zeit telefoniert niemand. Jeder ißt. Geheiligter Brauch. Sollte er trotzdem anrufen, bin ich dein Valet, nehme seine Nummer und sage, du wärest zurück in einer halben Stunde.«

Ravic zögerte. »Gut«, sagte er dann. »Ich werde in zwanzig Minuten zurück sein.«

»Laß dir Zeit. Du hast lange genug gewartet. Werde jetzt nicht nervös. Gehst du zu Fouquet’s?«

»Ja.«

»Laß dir von dem offenen 37er Vouvray geben. Habe ihn gerade gehabt. Erste Klasse.«

»Gut.«

Ravic fuhr hinunter. Er überquerte rasch die Straße und ging die Terrasse ab. Dann ging er durch das Restaurant. Haake war nicht da. Er setzte sich an einen leeren Tisch an der Avenue George V. und bestellte boeuf à la mode, Salat, Ziegenkäse und eine Karaffe Vouvray.

Er beobachtete sich, während er aß. Er zwang sich zu schmecken, daß der Wein leicht und etwas spritzig war. Er aß langsam, er schaute umher, er sah den Himmel wie eine blaue Seidenfahne über dem Arc de Triomphe hängen, er bestellte noch einen Kaffee, er spürte den bitteren Geschmack, er zündete sich langsam eine Zigarette an, er wollte sich nicht eilen, er saß noch eine Weile, er betrachtete die Menschen, die vorübergingen, dann stand er auf und ging zum »Prince de Galles« hinüber und hatte alles vergessen.

»Wie war der Vouvray?« fragte Morosow.

»Gut.«

Morosow holte ein Taschenschachspiel hervor. »Wollen wir eine Partie machen?« »Ja.«

Sie steckten die Figuren in die Löcher des Spiels. Morosow setzte sich in einen Sessel. Ravic saß auf dem Sofa. »Ich glaube nicht, daß ich hier länger als drei Tage bleiben kann ohne Paß«, sagte er.

»Hat die Rezeption schon danach gefragt?«

»Noch nicht. Manchmal verlangen sie Pässe mit Visa bei der Ankunft. Ich bin deshalb nachts eingezogen. Der Nachtknabe hat nicht viel gefragt. Ich habe ihm gesagt, ich brauche ein Zimmer für fünf Tage.«

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