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»Nicht so. Vor ein paar Jahren war mein Hausverwalter noch ein freundlicher Mann in Manchesterhosen und Bastschuhen. Jetzt ist er ein Held in hohen Stiefeln, einem schwarzen Hemd, gespickt mit goldenen Dolchen, und hält Vorträge — das Mittelmeer müsse italienisch werden, England vernichtet und Nizza, Korsika und Savoyen zurück zu Italien. Ravic, diese liebenswürdige Nation, die seit Ewigkeiten keinen Krieg gewonnen hat, ist verrückt geworden, seit man sie in Abessinien und Spanien hat gewinnen lassen. Freunde von mir, die vor drei Jahren noch vernünftig waren, glauben heute ernsthaft, daß sie England in drei Monaten besiegen können. Das Land kocht. Was ist nur los? Ich bin aus Wien geflohen vor der Brutalität brauner Hemden — ich habe jetzt Italien verlassen vor dem Wahnsinn schwarzer — anderswo soll es grüne geben; in Amerika natürlich silberne — ist die Erde in einem Hemdentaumel?«

»Scheinbar. Aber das wird sich wohl bald ändern. Die Einheitsfarbe wird rot werden.«

»Rot?«

»Ja, rot wie Blut.«

Kate Hegström sah hinunter in den Hof. Das späte Nachmittagslicht filterte dort sanft und grün durch das Laub der Kastanien. »Man kann das nicht glauben«, sagte sie. »Zwei Kriege in zwanzig Jahren — das ist zuviel. Wir sind noch zu müde vom ersten.«

»Nur die Sieger. Nicht die Besiegten. Siegen macht achtlos.«

»Ja, vielleicht.« Sie sah ihn an. »Da ist nicht mehr viel Zeit übrig, wie?«

»Nicht allzuviel mehr, fürchte ich.«

»Glauben Sie, daß es genug für mich ist?«

»Warum nicht?« Ravic blickte auf. Sie wich seinen Augen nicht aus. »Haben Sie Fiola gesehen?« fragte er.

»Ja, ein-, zweimal. Er war einer der wenigen, die nicht angesteckt waren von der schwarzen Pest.«

Ravic antwortete nicht. Er wartete.

Kate Hegström nahm eine Kette Perlen vom Tisch und ließ sie durch ihre Hände gleiten. Sie wirkten zwischen den langen, schmalen Fingern wie ein kostbarer Rosenkranz. »Ich komme mir vor wie der Ewige Jude«, sagte sie, »auf der Suche nach Frieden. Aber es scheint, ich habe zur falschen Zeit angefangen. Er ist nirgendwo mehr. Nur hier noch — hier ist noch ein Rest.«

Ravic blickte auf die Perlen. Formlose, graue Mollusken hatten sie gebildet, gereizt durch einen Fremdkörper, ein Sandkorn zwischen ihren Schalen. Aus zufälliger Irritation war so sanft schimmernde Schönheit geworden. Man sollte sich das merken, dachte er. »Sie wollen doch nach Amerika fahren, Kate«, sagte er. »Wer Europa verlassen kann, soll es tun. Für alles andere ist es schon zu spät.«

»Wollen Sie mich fortschicken?«

»Nein. Aber sagten Sie nicht das letztemal, Sie wollten Ihre Sachen regeln und nach Amerika zurückgehen?«

»Ja. Aber jetzt will ich es nicht mehr. Noch nicht. Ich will noch hier bleiben.«

»Paris ist heiß und unangenehm im Sommer.«

Sie legte die Perlen beiseite. »Nicht, wenn es der letzte Sommer ist, Ravic.«

»Der letzte?«

»Ja. Der letzte, bevor ich zurückfahre.«

Ravic schwieg. Was weiß Sie? dachte er. Was hat Fiola ihr gesagt?

»Was macht die Scheherazade?« fragte sie.

»Ich war lange nicht da. Morosow sagte, sie sei jeden Abend überfüllt. Wie alle anderen Nachtklubs auch.«

»Im Sommer?«

»Ja, im Sommer, wo die meisten Häuser geschlossen waren. Wundert Sie das?«

»Nein. Jeder will noch mitnehmen, was er kann, bevor das Ende kommt.«

»Ja«, sagte Ravic.

»Werden Sie mich einmal mit hinnehmen?«

»Natürlich, Kate. Immer, wenn Sie wollen. Ich dachte, Sie wollten nicht mehr hingehen.«

»Das dachte ich auch. Ich habe meine Meinung gewechselt. Ich will auch noch mitnehmen, was ich kann.«

Er sah sie wieder an. »Gut, Kate«, sagte er dann. »Wann immer Sie wollen.«

Er stand auf. Sie ging mit ihm zur Tür. Sie lehnte in der Türöffnung, schmal, mit der trockenen, seidenen Haut, die aussah, als werde sie rascheln, wenn man sie berührte. Die Augen waren sehr klar und größer als früher. Sie gab ihm die Hand. Sie war heiß und trocken. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, was mir fehlt?« fragte sie leichthin, als frage sie nach dem Wetter.

Er starrte sie an und antwortete nicht.

»Ich hätte es ausgehalten«, sagte sie, und etwas wie der Widerschein eines ironischen Lächelns ohne jeden Vorwurf huschte über ihr Gesicht. »Adieu, Ravic.«

Der Mann ohne Magen war tot. Er hatte drei Tage lang gestöhnt, und Morphium hatte wenig mehr genützt. Ravic und Veber hatten gewußt, daß er sterben würde. Sie hätten ihm diese drei Tage ersparen können. Sie hatten es nicht getan, weil es eine Religion gab, die die Liebe zum Nächsten predigte und verbot, ihm seine Qualen zu verkürzen. Und es gab ein Gesetz, das sie schützte.

»Haben Sie den Verwandten telegrafiert?« fragte Ravic.

»Er hat keine«, sagte Veber.

»Oder irgendwelchen Angehörigen?«

»Er hat niemand.« — »Niemand?«

»Niemand. Die Concierge seiner Wohnung war hier. Er bekam nie Briefe — abgesehen von Warenhauskatalogen und Traktaten gegen die Trunksucht, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten und so was. Er hatte nie Besucher. Die Operation und vier Wochen Klinik hat er vorausbezahlt. Zwei Wochen zuviel. Die Concierge behauptet, er habe ihr alles versprochen, was er besitze, weil sie für ihn gesorgt habe. Sie wollte das Geld für die zwei Wochen unbedingt zurückhaben. Sie sei wie eine Mutter gewesen. Sie hätten die Mutter sehen müssen. Sagte, sie hätte allerlei Ausgaben für ihn gehabt. Die Wohnungsmiete für ihn ausgelegt. Ich sagte ihr, er habe hier vorausbezahlt; es gäbe keinen Grund, warum er das mit seiner Wohnung nicht auch gemacht hätte. Im übrigen sei das alles eine Sache der Polizei. Darauf verfluchte sie mich.«

»Geld«, sagte Ravic. »Wie erfinderisch das macht.«

Veber lachte. »Wir werden die Behörden benachrichtigen. Die können sich darum kümmern. Auch um das Begräbnis.«

Ravic warf noch einen Blick auf den Mann ohne Verwandte und ohne Magen. Er lag da, und sein Gesicht veränderte sich in dieser Stunde, wie es sich nie in den fünfunddreißig Jahren seines Lebens verändert hatte. Aus dem erstarrten Krampf des letzten Atemzuges wuchs langsam das strenge Antlitz des Todes hervor. Das Zufällige zerschmolz, die Zeichen des Sterbens verwischten sich, und abwesend, schweigend, formte sich aus dem schiefen Durchschnittsgesicht die ewige Maske. In einer Stunde würde sie allein noch da sein.

Ravic ging. Im Korridor traf er die Nachtschwester. Sie war gerade gekommen. »Der Herr in zwölf ist tot«, sagte er. »Er ist vor einer halben Stunde gestorben. Sie brauchen nicht mehr zu wachen.« Und als er ihr Gesicht sah: »Hat er Ihnen etwas hinterlassen?«

Sie zögerte. »Nein. Er war ein sehr kühler Herr. Und in den letzten Tagen sprach er fast nicht mehr.«

»Nein, das tat er nicht.«

Die Schwester blickte Ravic hausfraulich an. »Er hatte ein wunderschönes Toiletten-Necessaire; alles Silber. Eigentlich etwas zu zierlich für einen Herrn. Mehr für eine Dame.«

»Haben Sie ihm das gesagt?«

»Wir haben einmal darüber gesprochen. Dienstag nacht; da war er ruhiger. Aber er sagte, Silber wäre auch richtig für einen Mann. Und die Bürsten wären so gut. Das gäbe es heute nicht mehr. Sonst sprach er wenig.«

»Das Silber geht jetzt zur Behörde. Der Mann hat keinen Verwandten.«

Die Schwester nickte verständig. »Schade! Es wird schwarz werden. Und Bürsten verderben, wenn sie nicht neu sind und nicht gebraucht werden. Man sollte sie vorher auswaschen.«

»Ja, schade«, sagte Ravic. »Besser, Sie hätten sie bekommen. Dann hätte wenigstens jemand Freude daran gehabt.«

Die Schwester lächelte dankbar. »Es macht nichts. Ich habe nichts erwartet. Sterbende verschenken selten etwas. Nur Genesende. Sterbende wollen nicht glauben, daß sie sterben. Deshalb tun sie es nicht. Manche tun es auch nicht aus Bosheit. Sie glauben nicht, Herr Doktor, wie schrecklich Sterbende sein können! Was die einem manchmal sagen, bevor sie tot sind!«

Ihr rotbackiges Kindergesicht war offen und klar. Sie machte sich nichts aus dem, was rund um sie vorging, wenn es nicht in ihre kleine Welt paßte. Sterbende waren unartige Kinder oder hilflose Kinder. Man achtete auf sie, bis sie tot waren, und dann kamen neue; manche wurden gesund und waren dankbar, andere nicht, und andere starben eben. Das war so. Nichts, um sich zu beunruhigen. Es war viel wichtiger, ob beim Ausverkauf im »Bonmarché« die Preise um fünfundzwanzig Prozent herabgesetzt wurden — oder ob Cousin Jean die Anne Couturier heiraten würde.

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