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Morosow lachte. »Dieser Seidenbaum!« sagte er. »Er war bei der ganzen Sache dabei. Mit einer Aktentasche, irgendwelchen Papieren darin und seinem Pincenez. Er trat als Advokat und Vertreter der Versicherungsfirma auf. War ziemlich scharf mit der Polizei. Hat den Paß des alten Goldberg gerettet. Behauptete, er brauche ihn; die Polizei habe nur Recht auf die Carte d’Identite. Kam damit durch. Hat er selbst Papiere?«

»Nicht einen Fetzen.«

»Gut«, erklärte Morosow. »Der Paß ist Gold wert. Ist noch ein Jahr gültig. Irgend jemand kann darauf leben. Nicht gerade in Paris, wenn er nicht so frech wie Seidenbaum ist. Die Fotografie kann man leicht austauschen. Für die Änderung der Geburtsdaten gibt es billige Fachleute, wenn der neue Aaron Goldberg zu jung sein sollte. Moderne Art von Seelenwanderung — ein Paß und mehrere Leben darauf.«

»Dann heißt Seidenbaum also von jetzt an Goldberg?«

»Seidenbaum nicht. Er hat abgelehnt. Ist unter seiner Würde. Er ist der Don Quichotte der Untergrund-Welt-bürger. Zu fatalistisch neugierig, was mit seinem Typ passiert, als daß er ihn durch einen geborgten Paß verfälschen würde. Wie wäre es mit dir?«

Ravic schüttelte den Kopf. »Auch nicht. Ich bin auf Seidenbaums Seite.«

Er nahm seine Koffer und stieg die Treppen hinauf. Auf dem Goldbergschen Flur wurde er von einem alten Juden in schwarzem Kaftan mit Bart und Peijes, der das Gesicht eines biblischen Patriarchen hatte, überholt. Der Alte ging lautlos, auf Gummisohlen, und es war, als schwebe er dunkel und bleich durch den düsteren Korridor. Er öffnete die Goldbergsche Tür. Rötliches Licht, wie von Kerzen, fiel einen Augenblick heraus, und Ravic hörte ein seltsames, halb unterdrücktes, halb wildes, fast melancholisches, montones Jammern. Klageweiber, dachte er. Sollte es so etwas noch geben? Oder war es nur Ruth Goldberg?

Er öffnete seine Tür und sah Joan am Fenster sitzen. Sie fuhr auf. »Da bist du! Was ist los? Wozu hast du die Koffer? Mußt du wieder weg?«

Ravic stellte die Koffer neben das Bett. »Nichts ist los. Es war nur Vorsicht. Irgend jemand ist gestorben. Die Polizei hatte zu kommen. Es ist alles schon wieder vorbei.«

»Ich habe angerufen. Jemand war am Apparat und sagte, du wohntest nicht mehr hier.«

»Das war unsere Wirtin. Vorsichtig und klug wie immer.«

»Ich bin hierhergelaufen. Das Zimmer war offen und leer. Deine Sachen waren nicht mehr da. Ich dachte... Ravic!« Ihre Stimme zitterte. Ravic lächelte mit Mühe. »Du siehst — ich bin eine unzuverlässige Kreatur. Nichts, um viel darauf zu bauen.«

Es klopfte. Morosow kam herein, ein paar Flaschen in der Hand. »Ravic, du hast deine Munition vergessen...«

Er sah Joan in der Dunkelheit stehen und tat, als bemerke er sie nicht. Ravic wußte nicht, ob er sie überhaupt erkannt hatte. Er händigte die Flaschen aus und verabschiedete sich, ohne hereinzukommen.

Ravic stellte den Calvados und den Vouvray auf den Tisch. Durch das offene Fenster hörte er die Stimme, die er vom Korridor her gehört hatte. Totenklage. Sie schwoll an, verebbte und begann wieder. Wahrscheinlich standen bei Goldberg die Fenster offen in der warmen Nacht, in der der steife Körper des alten Aaron in einem Zimmer mit Mahagonimöbeln jetzt langsam zu verwesen begann.

»Ravic«, sagte Joan. »Ich bin traurig. Ich weiß nicht, warum. Den ganzen Tag schon. Laß mich hier bleiben.«

Er antwortete nicht gleich. Er fühlte sich überrumpelt. Er hatte das anders erwartet. Nicht so direkt.

»Wie lange?« fragte er.

»Bis morgen.«

»Das ist nicht lange genug.«

Sie setzte sich auf das Bett. »Können wir das nicht einmal vergessen?«

»Nein, Joan.«

»Ich will nichts. Ich will nur neben dir schlafen. Oder laß mich auf dem Sofa schlafen.«

»Es geht nicht. Ich muß auch noch fort. Zur Klinik.«

»Das macht nichts. Ich werde auf dich warten. Ich habe das ja schon oft getan.«

Er antwortete nicht. Er wunderte sich, daß er so ruhig war. Die Wärme und die Erregung, die er auf der Straße gefühlt hatte, waren verschwunden.

»Du mußt auch nicht zur Klinik«, sagte Joan.

Er schwieg einen Augenblick. Er wußte, wenn er mit ihr schlief, war er verloren. Es war wie einen Wechsel unterzeichnen, der durch nichts mehr gedeckt war. Sie würde wieder und wieder kommen und auf das pochen, was sie erreicht hatte, und jedesmal etwas verlangen, ohne selbst etwas aufzugeben, bis er völlig in ihren Händen war und sie ihn dann schließlich gelangweilt verließ, schwach, korrupt in sich, ein Opfer seiner Schwäche und seiner gebrochenen Begierde. Sie beabsichtigte das nicht; sie wußte nicht einmal etwas davon, aber es würde so kommen. Es war einfach, zu denken, eine Nacht mache keinen Unterschied; aber jedesmal ging ein Stück Widerstand und ein Stück dessen, was man nie im Leben korrumpieren durfte, mit. Die Sünden gegen den Geist nannte das der katholische Katechismus mit sonderbarer, vorsichtiger Furcht und fügte, dunkel, im Widerspruch zur ganzen Lehre, hinzu, daß sie weder in diesem noch im anderen Leben vergeben würden.

»Es ist wahr«, sagte Ravic. »Ich muß nicht zur Klinik. Aber ich will nicht, daß du hier bleibst.«

Er erwartete einen Ausbruch. Aber sie sagte nur ruhig: »Warum nicht?«

Sollte er versuchen, es ihr zu erklären? Konnte er es überhaupt? »Du gehörst nicht mehr hierher«, sagte er.

»Ich gehöre hierher.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Er schwieg. Wie geschickt sie war! dachte er. Durch einfaches Fragen brachte sie ihn zu Erklärungen. Und wer erklärte, verteidigte bereits.

»Du weißt es«, sagte er. »Frag nicht so töricht.«

»Du willst mich nicht mehr?«

»Nein«, erwiderte er und fügte gegen seinen Willen hinzu: »Nicht so.«

Durch das Fenster kam das eintönige Weinen aus dem Goldbergschen Zimmer. Die Klage um den Tod. Hirtentrauer von Libanon, in einer Pariser Seitenstraße.

»Ravic«, sagte Joan. »Du mußt mir helfen.«

»Ich helfe dir am besten, wenn ich dich allein lasse. Und du mich auch.«

Sie beachtete es nicht. »Du mußt mir helfen. Ich könnte lügen; aber ich will es nicht mehr. Ja, da ist jemand. Aber es ist anders als mit dir. Wenn es dasselbe wäre, wäre ich nicht hier.«

Ravic zog eine Zigarette aus seiner Tasche. Er fühlte das trockene Papier. Da war es also. Nun wußte er es. Es war wie ein kühles Messer, das nicht schmerzte. Gewißheit schmerzt nie. Nur das Vorher und Nachher.

»Es ist nie dasselbe«, sagte er. »Und es ist immer dasselbe.«

Was für ein billiges Zeug ich rede, dachte er. Zeitungs-paradoxe. Wie schäbig Wahrheiten werden können, wenn man sie ausspricht.

Joan richtete sich auf. »Ravic«, sagte sie. »Du weißt, daß es nicht wahr ist, daß man nur einen Menschen lieben kann. Es gibt Menschen, die können nur das. Sie sind glücklich. Und es gibt andere, die durcheinander geworfen werden. Du weißt das.«

Er zündete seine Zigarette an. Ohne hinzusehen, wußte er, wie Joan aussah. Blaß, die Augen dunkel, still konzentriert, fast flehend fragil — und nie umzubringen. Sie hatte ebenso ausgesehen an dem Nachmittag in ihrer Wohnung — wie ein Engel der Verkündung, voll von Glauben und schwebender Überzeugung, der vorgab, einen retten zu wollen, während er einen langsam ans Kreuz zu schlagen versuchte, damit man ihm nicht entkam.

»Ja«, sagte er. »Es ist eine unserer Ausreden.«

»Es ist keine Ausrede. Man ist nicht glücklich dabei. Man wird hineingeworfen und kann sich nicht helfen. Es ist etwas Finsteres, ein Knäuel, ein Krampf — etwas, durch das man hindurch muß. Man kann nicht weglaufen. Es kommt einem nach. Es holt einen ein. Man will es nicht. Aber es ist stärker.«

»Warum denkst du darüber nach? Folge ihm, wenn es stärker ist.«

»Das tue ich. Ich weiß, es gibt nichts anderes. Aber...« Ihre Stimme wechselte. »Ravic, ich will dich nicht verlieren.«

Ravic schwieg. Er rauchte und spürte den Rauch nicht. Du willst mich nicht verlieren, dachte er. Aber den anderen auch nicht. Das ist es. Daß du das kannst! Deshalb muß ich von dir weg. Es ist nicht der eine — das wäre rasch vergessen. Du hattest alle Entschuldigungen dafür. Aber daß es dich so gepackt hat, daß du nicht davon loskommen kannst, das ist es. Du wirst davon loskommen. Aber es wird wieder geschehen. Es wird immer wieder geschehen. Es ist in dir. Ich konnte das auch früher. Mit dir kann ich es nicht. Deshalb muß ich los von dir. Jetzt kann ich es noch. Das nächstemal...

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