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»Warum kommst du nicht?« fragte Joan.

Ravic ging durch das Zimmer, durch das Dunkel und das Licht und wieder durch das Dunkel, es waren wenige Schritte, aber es schien ihm weit.

»Hast du die Flasche mitgebracht?«

»Ja.«

»Willst du das Glas? Wie spät ist es?«

Ravic sah auf das kleine Zifferblatt der Uhr mit den phosphoreszierenden Zahlen. »Ungefähr fünf Uhr.«

»Fünf. Es könnte auch drei sein. Oder sieben. Nachts steht die Zeit still. Nur die Uhren gehen.«

»Ja. Und trotzdem geschieht alles nachts. Oder deshalb.«

»Was?«

»Das, was am Tage dann sichtbar wird.«

»Mach mir keine Angst. Du meinst, eigentlich schon vorher, wenn man schläft ?«

»Ja.«

Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und trank. Sie war sehr schön, und er fühlte, daß er sie liebte. Sie war nicht schön wie eine Statue oder wie ein Bild; sie war schön wie eine Wiese, über die der Wind weht. Es war das Leben, das in ihr klopfte und das sie geheimnisvoll aus dem Zusammenprall zweier Zellen, aus einem Nichts in einem Schoß, so geformt hatte, wie sie war. Es war dasselbe, unbegreifliche Rätsel, daß in einem winzigen Samenkorn schon der ganze Baum war, versteinert, mikroskopisch, aber da, vorher bestimmt, Wipfel schon und Frucht und schon der Blütenschauer aller Aprilmorgen in ihm — und daß aus einer Liebesnacht und einem bißchen Schleim, der sich traf, ein Gesicht wurde, Schultern und Augen, gerade diese Augen und Schultern, und daß sie da waren, irgendwo verstreut, unter Millionen von Menschen, irgendwo auf der Welt, und dann stand man in einer Novembernacht am Pont de l’Alma in Paris, und sie kamen auf einen zu...

»Warum nachts?« fragte Joan.

»Weil«, sagte Ravic, »komm nahe zu mir, Geliebte, wiedergeschenkt aus den Abgründen des Schlafes, zurückgekommen von den Mondwiesen des Ungefährs — weil die Nacht und der Schlaf Verräter sind. Weißt du noch, wie wir einschliefen, in dieser Nacht, einer dicht neben dem andern, wir waren uns so nahe, wie Menschen sich nur nahe sein können. Unsere Stirnen, unsere Haut, unsere Gedanken, unser Atem berührten sich, vermischten sich — und dann langsam begann der Schlaf zwischen uns zu sickern, grau, farblos, ein paar Flecken erst, dann mehr, wie Aussatz fiel es auf unsere Gedanken, in unser Blut, es tropfte und tropfte aus dem Unbewußten Blindheit in uns hinein — und dann plötzlich war jeder von uns allein, wir trieben einsam irgendwo herum auf dunklen Kanälen, ausgeliefert an unbekannte Mächte und jede gestaltlose Drohung. Als ich aufwachte, sah ich dich. Du schliefst. Du warst immer noch weit fort. Du warst mir gänzlich entglitten. Du wußtest nichts mehr von mir. Du warst irgendwo, wohin ich dir nicht folgen kann.« Er küßte ihre Hand.

»Wie kann Liebe vollkommen sein, wenn ich dich jede Nacht schon an den Schlaf verliere?«

»Ich lag dicht bei dir. Neben dir. In deinem Arm.«

»Du warst in einem unbekannten Land. Du warst neben mir, aber du warst weiter fort, als wenn du auf dem Sirius gewesen wärest. Wenn du am Tage fort bist, so ist das nichts — ich weiß alles über den Tag. Aber wer weiß etwas über die Nacht?«

»Ich war bei dir.«

»Du warst nicht bei mir. Du lagst nur neben mir. Wer weiß je, wie er zurückkommt aus dem Land ohne Kontrolle? Verwandelt, ohne es zu wissen.«

»Du auch.«

»Ja, ich auch«, sagte Ravic. »Und nun gib mir das Glas wieder. Während ich Unsinn rede, trinkst du.«

Sie reichte ihm das Glas hinüber. »Gut, daß du aufgewacht bist, Ravic. Gesegnet sei der Mond. Ohne ihn hätten wir geschlafen und nichts voneinander gewußt. Oder in einen von uns wäre der Keim des Abschieds geworfen worden, während wir wehrlos waren. Und er wäre langsam und unsichtbar gewachsen und gewachsen, bis er eines Tages durchgebrochen wäre.«

Sie lachte leise. Ravic sah sie an. »Du nimmst das nicht besonders ernst, wie?«

»Nein. Du?«

»Nein. Aber es ist etwas daran. Deshalb nehmen wir es nicht ernst. Darin ist der Mensch groß.«

Sie lachte wieder. »Ich habe keine Angst davor. Ich vertraue auf unsere Körper. Die wissen besser, was sie wollen, als das, was in unserem Kopf nachts herumspukt.«

Ravic trank sein Glas aus. »Gut«, sagte er. »Auch richtig.«

»Wie wäre es, wenn wir diese Nacht nicht mehr schliefen?«

Ravic hob die Flasche gegen den Silberschacht des Mondlichts. Sie war noch ein Drittel voll. »Nicht mehr viel«, sagte er. »Aber wir können es versuchen.«

Er stellte sie auf den Tisch neben dem Bett. Dann drehte er sich um und sah Joan an. »Du siehst aus, wie alle Wünsche eines Mannes und noch einer mehr, den er nicht gewußt hat.«

»Gut«, sagte sie. »Wir wollen jede Nacht aufwachen, Ravic. Nachts bist du anders als am Tage.«

»Besser?«

»Anders. Nachts bist du überraschend. Du kommst immer irgendwo her, von wo man nichts weiß.« »Tagsüber nicht?« »Nicht immer. Manchmal.« »Schönes Bekenntnis«, sagte Ravic. »Vor ein paar Wochen hättest du mir das nicht gesagt.« »Nein. Damals kannte ich dich auch noch weniger.« Er blickte auf. Es war nicht der Schatten von Doppeldeutigkeit in ihrem Gesicht. Sie meinte es einfach so und fand es ganz natürlich. Sie wollte ihn weder verletzen noch etwas Besonderes sagen. »Das kann gut werden«, sagte er.

»Warum?«

»In ein paar weiteren Wochen wirst du mich noch besser kennen, und ich werde noch weniger überraschend sein.« »Genau wie ich«, sagte Joan und lachte. »Du nicht.« — »Warum nicht?« »Das hat seinen Grund in fünfzigtausend Jahren Biologie. Die Liebe macht die Frau scharfsinnig und den Mann konfus.« »Liebst du mich?« »Ja.« »Du sagst das viel zuwenig.« Sie dehnte sich. Wie eine satte Katze, dachte Ravic. Wie eine satte Katze, die ihres Opfers sicher ist. »Manchmal könnte ich dich aus dem Fenster werfen«, sagte er.

»Warum tust du es nicht?«

Er sah sie an.

»Könntest du es?« fragte sie.

Er antwortete nicht. Sie legte sich in die Kissen zurück. »Jemand zerstören, weil man ihn liebt? Ihn töten, weil man ihn zu sehr liebt?«

Ravic griff nach der Flasche. »Mein Gott«, sagte er. »Womit habe ich das verdient? Nachts aufzuwachen, um so was anhören zu müssen?«

»Ist es nicht wahr?«

»Ja. Für drittklassige Poeten und Frauen, denen es nicht passiert.«

»Für die, die es tun, auch.«

»Meinetwegen.«

»Könntest du es?«

»Joan«, sagte Ravic. »Laß dieses Geschwätz. Ich tauge nicht für solche Spekulationen. Ich habe schon zu viele Menschen getötet. Als Amateur und als Professionalist. Als Soldat und als Arzt. Das gibt einem Verachtung, Gleichgültigkeit und Respekt für das Leben. Mit Töten löscht man nicht viel aus. Wer oft getötet hat, tötet nicht mehr aus Liebe. Man macht den Tod dadurch lächerlich und klein. Und der Tod ist nie klein und lächerlich. Er geht Frauen auch nichts an; er ist eine Sache unter Männern.«

Er schwieg eine Zeitlang.

»Was reden wir da?« sagte er dann und beugte sich über sie. »Bist du nicht mein Glück ohne Wurzel? Mein Wolken-und Scheinwerferglück? Komm, laß dich küssen! Nie war das Leben so kostbar wie heute — wo es so wenig gilt.«

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