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»Ich nehme an, daß sie durchschlafen wird bis morgen. Wenn sie aufwacht und fragt, sagen Sie ihr, alles sei gut abgelaufen. Sie solle weiterschlafen. Geben Sie ihr, wenn es nötig wird, ein Mittel. Wenn sie unruhig wird, rufen Sie Doktor Veber oder mich an. Ich hinterlasse im Hotel, wo ich bin.«

Er stand auf der Straße wie jemand, der noch einmal entkommen war. Ein paar Stunden Frist, ehe er in ein vertrauendes Gesicht hineinlügen mußte. Die Nacht erschien ihm plötzlich warm und schimmernd. Der graue Aussatz des Lebens wurde wieder einmal barmherzig überdeckt von ein paar geschenkten Stunden, die wie Tauben emporflogen. Auch sie waren Lügen — es wurde einem nichts geschenkt; sie waren nur ein Aufschub, aber was war es nicht? War nicht alles Aufschub, barmherziger Aufschub, eine bunte Fahne, die das ferne, schwarze, unerbittlich näher kommende Tor verdeckte?

Er trat in ein Bistro und setzte sich an einen Marmortisch am Fenster. Der Raum war rauchig und voll Lärm. Der Kellner kam. »Einen Dubonnet und ein Paket Colonial.«

Er öffnete das Paket und zündete sich eine der schwarzen Zigaretten an. Neben ihm debattierten ein paar Franzosen über die korrupte Regierung und den Pakt von München. Ravic hörte nur halb hin. Jeder wußte, daß die Welt apathisch in einen neuen Krieg hineintrieb. Niemand hatte etwas dagegen — Aufschub, noch ein Jahr Aufschub — das war alles, worum man sich aufraffte, zu kämpfen. Aufschub auch hier — immer wieder.

Er trank das Glas Dubonnet. Der süßlich dumpfe Geruch des Aperitifs füllte den Mund mit schalem Widerwillen. Wozu hatte er ihn nur bestellt? Er winkte dem Kellner. »Einen fi ne.«

Er blickte durch die Scheiben hinaus und schüttelte die Gedanken ab. Wenn man nichts tun konnte, sollte man sich nicht verrückt machen. Er erinnerte sich, wann er diese Lehre bekommen hatte. Eine der großen Lehren seines Lebens. —

Es war 1916 gewesen, im August, in der Nähe von Ypern. Die Kompanie war einen Tag vorher von der Front zurückgekommen. Es war ein ruhiger Abschnitt gewesen, in dem sie das erstemal, seit man sie ins Feld geschickt hatte, eingesetzt worden war. Nichts war passiert. Jetzt lagen sie in der warmen Augustsonne um ein kleines Feuer herum und brieten Kartoffeln, die sie in den Feldern gefunden hatten. Eine Minute später war nichts mehr davon da. Ein plötzlicher Artillerieüberfall — eine Granate, die mitten ins Feuer geschlagen hatte —; als er wieder zu sich kam, heil, unverletzt, sah er zwei seiner Kameraden tot — und etwas weiter seinen Freund Paul Meßmann, den er kannte, seit sie beide laufen konnten, mit dem er gespielt hatte, die Schule besuchte, von dem er unzertrennlich gewesen war — er lag da, den Magen und den Bauch aufgerissen, die Eingeweide hervorquellend...

Sie schleppten ihn auf einer Zeltbahn zum Feldlazarett, den nächsten Weg, durch ein Getreidefeld einen flachen Abhang hinauf. Sie schleppten ihn zu viert, jeder an einer Ecke, und er lag in der braunen Zeltbahn, die Hände in die weißen, fetten, blutigen Eingeweide gepreßt, den Mund offen, die Augen verständnislos starr.

Er starb zwei Stunden später. Eine davon schrie er.

Ravic erinnerte sich, wie sie zurückgekommen waren. Er hatte stumpf und verstört in der Baracke gesessen. Es war das erstemal, daß er so etwas gesehen hatte. Katczinsky hatte ihn da gefunden, der Gruppenführer, Schuhmacher im Privatleben. »Komm mit«, hatte er gesagt. »In der Bayernkantine gibt es heute Bier und Schnaps. Wurst auch.« Er hatte ihn angestarrt. Hatte solche Roheit nicht begriffen. Katczinsky hatte ihn eine Weile beobachtet, hatte dann gesagt: »Du kommst mit. Und wenn ich dich hinprügeln sollte. Du wirst heute fressen und saufen und in einen Puff gehen.« Er hatte nicht geantwortet. Katczinsky hatte sich neben ihn gesetzt. »Ich weiß, was los ist. Ich weiß auch, was du jetzt über mich denkst. Aber ich bin zwei Jahre hier und du zwei Wochen. Hör zu! Können wir noch etwas für Meßmann tun? — Nein. — Glaubst du, daß wir alles riskieren würden, wenn eine Chance da wäre, ihn zu retten?« — Er hatte aufgeblickt. Ja, das wußte er. Er wußte das von Katczinsky. »Gut. Er ist tot. Wir können nichts mehr machen. Aber in zwei Tagen müssen wir wieder ’raus und nach vorn. Diesmal wird es nicht so ruhig da sein. Wenn du jetzt hier hockst und an Meßmann denkst, frißt du es in dich ’rein. Es macht deine Nerven kaputt, wirst unsicher. Gerade genug vielleicht, daß du beim nächsten Feuerüberfall draußen nicht schnell genug bist. Halbe Sekunde zu spät. Dann schleppen wir dich wie Meßmann zurück. Wem nützt das? Meßmann? Nein. Jemand anderem? Nein. Dich haut es um, das ist alles.Verstehst du nun?« — »Ja, aber ich kann nicht.« — »Halt’s Maul, du kannst! Andere haben es auch gekonnt. Du bist nicht der erste.«

Es war besser geworden nach dieser Nacht. Er war mitgegangen, er hatte seine erste Lektion gelernt. Hilf, wenn du kannst — tu alles dann —; aber wenn du nichts mehr tun kannst, vergiß! Dreh dich um! Halt dich fest! Mitleid ist etwas für ruhige Zeiten. Nicht, wenn es ums Leben geht.

Begrabe die Toten und friß das Dasein! Du wirst es noch brauchen müssen. Trauer ist eines, Tatsachen sind ein anderes. Man trauert nicht weniger, wenn man trotzdem die Tatsachen sieht und anerkennt. Nur so überlebt man.

Ravic trank den Kognak aus. Die Franzosen am Nebentisch schwatzten immer noch über ihre Regierung. Über das Versagen Frankreichs. Über England. Über Italien. Über Chamberlain. —

Worte, Worte. Die einzigen, die handelten, waren die anderen. Sie waren nicht stärker, nur entschlossener. Sie waren nicht mutiger; sie wußten nur, daß die anderen nicht kämpfen würden. Aufschub, aber was tat man damit? Rüstete man, holte man nach, raffte man sich auf? Man sah zu, wie die andern weiterrüsteten — und wartete, hoffte untätig auf neuen Aufschub. Die Geschichte der Walroßherde. Hunderte am Strand; zwischen ihnen der Jäger, der eines nach dem andern mit der Keule erschlug. Zusammen konnten sie ihn leicht erdrücken — aber sie lagen da, sahen ihn kommen, morden und rührten sich nicht; er erschlug ja nur gerade den Nachbarn — einen Nachbarn nach dem andern. Die Geschichte der europäischen Walrosse. Das Abendrot der Zivilisation. Müde, gestaltlose Götterdämmerung. Die leeren Banner der Menschenrechte. Der Ausverkauf eines Kontinents. Anbrandende Sintflut. Krämergeschäftigkeit um die letzten Preise. Der alte Jammertanz auf dem Vulkan. Völker, wieder einmal langsam auf die Schlachtbank getrieben. Die Flöhe würden sich schon retten, wenn das Schaf geopfert wurde. Wie immer.

Ravic drückte seine Zigarette aus. Er blickte sich um. Was sollte das alles? War der Abend nicht wie eine Taube gewesen vorhin, wie eine weiche, graue Taube? Begrabe die Toten und friß das Leben. Die Zeit ist kurz. Überstehen war alles. Irgendwann würde man gebraucht werden. Man sollte sich dafür heil und bereit halten. Er winkte dem Kellner und zahlte.

Die Scheherazade war dunkel, als er eintrat. Die Zigeuner spielten, und nur das Licht des Scheinwerfers lag voll auf dem Tisch neben dem Orchester, an dem Joan Madou saß.

Ravic blieb am Eingang stehen. Einer der Kellner kam heran und rückte ihm einen Tisch zurecht. Aber Ravic blieb stehen und sah zu Joan Madou hinüber.

»Wodka?« fragte der Kellner.

»Ja. Eine Karaffe.«

Ravic setzte sich hin. Er goß sich ein Glas Wodka ein und trank es rasch. Er wollte loswerden, was er draußen gedacht hatte. Die Fratze der Vergangenheit und die Fratze des Todes — einen von Granaten zerrissenen Bauch und einen von Krebs zerfressenen. Er sah, daß er an demselben Tisch saß, an dem er vor zwei Tagen mit Kate Hegström gesessen hatte. Nebenan wurde ein anderer Tisch frei. Er rückte nicht hinüber. Es war gleichgültig, ob er an diesem Tisch saß oder am nächsten — es half Kate Hegström nicht. Was hatte Veber einmal gesagt? Weshalb regen Sie sich auf, wenn eine Operation hoffnungslos ist? Man tut, was man kann, und geht nach Hause. Wo bliebe man sonst? Ja, wo bliebe man sonst? Er hörte die Stimme Joan Madous vom Orchester her. Kate Hegström hatte recht gehabt — es war eine erregende Stimme. Er griff nach der Karaffe mit dem klaren Schnaps. Einer dieser Augenblicke, wo die Farben zerfielen und das Leben grau wurde unter machtlosen Händen. Die mystische Ebbe. Die tonlose Zäsur zwischen den Atemzügen. Der Biß der Zeit, die langsam das Herz zernagte. Santa Lucia Luntana, sang die Stimme neben dem Orchester. Es kam herüber wie ein Meer — von einem vergessenen anderen Ufer, an dem etwas blühte.

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