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»Sie sollten heiraten, Eugenie«, sagte er. »Einen Witwer mit Kindern. Oder den Besitzer eines Begräbnisinstituts.«

»Herr Ravic«, sagte die Schwester mit Würde. »Wollen Sie sich bitte nicht um meine Privatsachen kümmern? Ich muß mich sonst bei Herrn Doktor Veber beschweren.«

»Das tun Sie ohnehin den ganzen Tag.« Ravic sah mit Freude zwei rote Flecken auf ihren Wangenknochen erscheinen. »Warum können fromme Menschen so selten loyal sein, Eugenie? Den besten Charakter haben Zyniker; am unerträglichsten sind Idealisten. Gibt Ihnen das nicht zu denken?«

»Gottlob nein.«

»Das dachte ich mir. Ich gehe jetzt hinüber zu den Kindern der Sünde. Zum ›Osiris.‹ Für den Fall, daß Doktor Veber etwas für mich hat.«

»Ich glaube kaum, daß Doktor Veber etwas für Sie haben wird.«

»Jungfräulichkeit macht noch nicht zur Hellseherin. Es könnte doch sein. Ich werde bis ungefähr fünf Uhr dort sein. Dann in meinem Hotel.«

»Schönes Hotel, die Judenbude.«

Ravic drehte sich um. »Eugenie, nicht alle Refugiés sind Juden. Noch nicht einmal alle Juden sind Juden. Und manche sind es, von denen man es nicht glaubt. Ich kannte sogar mal einen jüdischen Neger. War ein furchtbar einsamer Mensch. Das einzige, was er liebte, war chinesisches Essen. So geht es in der Welt zu.«

Die Schwester antwortete nicht. Sie putzte eine Nickelplatte, die völlig blank war.

Ravic saß in dem Bistro an der Rue La Boissiere und starrte durch die verregneten Scheiben, als er den Mann draußen sah. Es war wie ein Schlag in den Magen. Im ersten Augenblick fühlte er nur den Schock, ohne zu realisieren, was es war — aber gleich darauf stieß er den Tisch beiseite, sprang von seinem Stuhl auf und drängte sich rücksichtslos durch den vollen Raum der Tür zu.

Jemand hielt ihn am Arm fest. Er drehte sich um. »Was?« fragte er verständnislos. »Was?«

Es war der Kellner. »Sie haben nicht bezahlt, mein Herr.«

»Was? — Ach so... ich komme zurück...« Er zerrte seinen Arm los.

Der Kellner wurde rot. »Das gibt es hier nicht! Sie...«

»Hier...«

Ravic riß einen Schein aus der Tasche, warf ihn dem Kellner zu und riß die Tür auf. Er drängte sich an einer Gruppe von Leuten vorbei und stürzte nach rechts, um die Ecke, die Rue La Boissiere entlang.

Jemand schimpfte hinter ihm her. Er besann sich, hörte auf zu laufen und ging weiter, so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Es ist unmöglich, dachte er, es ist völlig unmöglich, ich bin verrückt, es ist unmöglich! Das Gesicht, dieses Gesicht, es muß eine Ähnlichkeit sein, irgendeine hundsgemeine, verfluchte Ähnlichkeit, ein blöder Trick, den meine Nerven mir spielen — es kann nicht in Paris sein, dieses Gesicht, es ist in Deutschland, es ist in Berlin, die Scheibe war verregnet, man konnte nicht deutlich sehen, ich muß mich geirrt haben, bestimmt…

Er ging weiter, eilig, er schob sich durch die Menge, die aus einem Kino strömte, er musterte jedes Gesicht, das er überholte, genau, er starrte unter Hüte, er begegnete ärgerlichen und erstaunten Blicken, weiter, weiter, andere Gesichter, andere Hüte, graue, schwarze, blaue, er überholte sie, er wandte sich um, er starrte sie an...

An der Kreuzung der Avenue Kléber blieb er stehen. Eine Frau, eine Frau mit einem Pudel, erinnerte er sich plötzlich. Gleich hinterher war der andere gekommen.

Die Frau mit dem Pudel hatte er schon längst überholt. Rasch ging er zurück. Als er die Frau mit dem Hund von weitem sah, blieb er an der Bordkante stehen. Er ballte die Fäuste in den Taschen und musterte jeden Vorübergehenden genau. Der Pudel blieb an einem Laternenpfahl stehen, schnupperte und hob unendlich langsam ein Hinterbein. Dann kratzte er umständlich das Pflaster und lief weiter. Ravic spürte plötzlich, daß sein Nacken naß war von Schweiß. Er wartete noch einige Minuten — das Gesicht kam nicht. Er musterte die geparkten Autos. Niemand saß darin. Er kehrte wieder um und ging bis zur Untergrundbahn an der Avenue Kleber. Er lief den Eingang hinunter, löste ein Billett und ging den Bahnsteig entlang. Es waren ziemlich viel Leute da. Bevor er durch war, lief ein Zug ein, hielt und verschwand in dem Tunnel. Der Bahnsteig war leer.

Langsam ging er zurück in das Bistro. Er setzte sich an den Tisch, an dem er vorher gesessen hatte. Da stand noch ein Glas, halbvoll mit Calvados. Es schien sonderbar, daß es immer noch da stand...

Der Kellner schlurfte heran. »Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich wußte nicht...«

»Gut, gut«, sagte Ravic. »Bringen Sie mir ein anderes Glas Calvados.«

»Ein anderes?« Der Kellner blickte auf das halbvolle Glas auf dem Tisch. »Wollen Sie dieses nicht erst trinken?«

»Nein. Bringen Sie mir ein anderes.«

Der Kellner nahm das Glas und roch daran. »Ist er nicht gut?«

»Doch. Ich will nur ein anderes haben.«

»Gut, mein Herr.«

Ich habe mich geirrt, dachte Ravic. Die verregnete Scheibe, halb beschlagen, wie konnte man da etwas genau erkennen? Er starrte durch das Fenster. Er starrte aufmerksam hinaus, wie ein Jäger auf dem Anstand, er beobachtete jeden Menschen, der vorüberging — aber schattenhaft, grau und scharf, jagte gleichzeitig ein Film darüber, ein Fetzen Erinnerung...

Berlin. Ein Sommerabend 1934 — das Haus der Gestapo; Blut; ein kahles Zimmer ohne Fenster; das grelle Licht nackter elektrischer Birnen; ein rotbespritzter Tisch mit Riemen zum Festschnallen; die übernächtige Helligkeit seines Gehirns, das ein dutzendmal aus Ohnmachten durch halbes Ersticken in einem Wassereimer wieder aufgeschreckt worden war; seine Nieren, die so zerschlagen waren, daß sie nicht mehr schmerzten; das verzerrte, fassungslose Gesicht Sybils; ein paar Henkersknechte in Uniform, die sie hielten — und eine Stimme und ein lächelndes Gesicht, das freundlich erklärte, was mit der Frau geschehen würde, wenn man nicht gestand — Sybil, die dann drei Tage später angeblich erhängt aufgefunden wurde.

Der Kellner erschien und stellte das Glas auf den Tisch. »Dies ist eine andere Sorte, mein Herr. Von Didier aus Caën. Älter.«

»Gut, gut. Danke.«

Ravic trank das Glas aus. Er holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, zog eine heraus und zündete sie an. Seine Hände waren noch immer nicht ruhig. Er warf das Streichholz auf den Boden und bestellte einen anderen Calvados.

Das Gesicht, dieses lächelnde Gesicht, das er soeben wiedergesehen zu haben glaubte — es mußte ein Irrtum sein! Es war unmöglich, daß Haake in Paris war. Unmöglich! Er schüttelte die Erinnerungen ab. Es hatte keinen Zweck, sich damit kaputtzumachen, solange man nichts tun konnte. Die Zeit dafür war, wenn das drüben zusammenkrachte und man zurückkonnte. Bis dahin...

Er rief den Kellner und zahlte; aber er konnte es nicht hindern, daß er jeden unterwegs genau beobachtete.

Er saß mit Morosow in der Katakombe.

»Du glaubst nicht, daß er es war?« fragte Morosow.

»Nein. Aber er sah so aus. Irgendeine verdammte Ähnlichkeit. Oder mein Gedächtnis, das nicht mehr sicher ist.«

»Pech, daß du im Bistro warst.«

»Ja.«

Morosow schwieg eine Weile. »Regt einen verflucht auf, was?« sagte er dann.

»Nein. Warum?«

»Weil man es nicht weiß.«

»Ich weiß es.«

Morosow erwiderte nichts.

»Gespenster«, sagte Ravic. »Dachte, ich wäre drüber weg.«

»Das ist man nie. Ich habe das auch gehabt. Im Anfang hauptsächlich. In den ersten fünf, sechs Jahren. Ich warte noch auf drei in Rußland. Es waren sieben. Vier sind gestorben. Zwei davon erschossen von der eigenen Partei. Ich warte jetzt schon seit über zwanzig Jahren. Seit 1917. Einer von den dreien, die noch leben, ist jetzt an siebzig. Die anderen beiden um vierzig, fünfzig herum. Die werde ich hoffentlich noch kriegen. Es sind die für meinen Vater.«

Ravic sah Boris an. Er war ein Riese, aber über sechzig. »Du wirst sie kriegen«, sagte er.

»Ja.« Morosow öffnete und schloß die großen Hände. »Darauf warte ich. Lebe deshalb vorsichtiger. Trinke nicht mehr so oft. Vielleicht dauert es noch eine Zeit. Ich muß kräftig sein dann. Ich will nicht schießen und nicht stechen.«

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