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Morosow erwiderte nichts. »Sie versteht nichts von Hüten«, sagte Ravic. »Sieh dir an, was sie da auf hat! Sie hat überhaupt wenig Geschmack. Das ist ihre Stärke. Kultur schwächt. Zum Schluß kommt es immer wieder nur auf den nackten Lebenstrieb an. Du selbst bist ein herrliches Beispiel dafür.«

Morosow grinste. »Laß mir meine niedrigen Freuden, du Höhenwanderer. Wer einen einfachen Geschmack hat, dem gefällt viel. Er sitzt nie mit leeren Händen da. Wer sechzig ist und hinter der Liebe herrennt, ist ein Idiot, der gewinnen will, wenn die anderen mit gezinkten Karten spielen. Ein gutes Bordell gibt Frieden des Gemütes. Das Haus, das ich frequentiere, hat sechzehn junge Frauen. Für wenig Geld bin ich dort ein Pascha. Die Zärtlichkeiten, die ich empfange, sind echter als die, die mancher Knecht der Liebe beschluchzt. Knecht der Liebe, sagte ich.«

»Ich habe es verstanden, Boris.«

»Gut. Dann laß uns dies hier austrinken. Kühler, leichter Pouilly. Und laß uns die silberne Luft von Paris atmen, solange sie noch nicht verpestet ist.«

»Das wollen wir. Hast du gesehen, daß die Kastanien in diesem Jahr zum zweitenmal blühen?«

Morosow nickte. Er zeigte zum Himmel, an dem rötlich und groß über den dunklen Dächern der Mars funkelte. »Ja. Und der dort soll der Erde näher stehen als seit vielen Jahren.« Er lachte. »Bald werden wir lesen, daß irgendwo ein Kind mit einem Muttermal wie ein Schwert geboren wurde. Und daß irgendwo anders blutiger Regen gefallen ist. Es fehlt nur noch der rätselhafte Komet des Mittelalters, um die Vorzeichen voll zu machen.«

»Der Komet ist da.« Ravic zeigte auf die laufenden Leuchtschriften über dem Zeitungsgebäude, die sich ohne Pause zu jagen schienen, und auf die Menge, die schweigend davorstand, die Köpfe zurückgereckt.

Sie saßen eine Zeitlang. Ein Ziehharmonikaspieler postierte sich am Bordrand und spielte La Paloma. Die Teppichhändler mit den seidenen Keshans über den Schultern erschienen. Ein Junge verkaufte Pistazien zwischen den Tischen. Es schien alles wie immer — bis die Händler mit den neuen Zeitungsausgaben kamen. Sie wurden ihnen sofort aus den Händen gerissen, und die Terrasse sah ein paar Sekunden später mit all den entfalteten Zeitungen aus, als wäre sie begraben unter einem Schwarm riesiger, weißer, blutloser Motten, die mit leise schlagenden Flügeln gierig auf ihren Opfern saßen.

»Da geht Joan«, sagte Morosow.

»Wo?«

»Drüben.«

Joan ging schräg über die Straße zu einem grünen, offenen Wagen hinüber, der an der Champs-Elysées geparkt war. Sie sah Ravic nicht. Der Mann, der mit ihr war, ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. Er trug keinen Hut und war ziemlich jung. Er manövrierte den Wagen geschickt aus den andern heraus. Es war ein niedriger Delahaye.

»Schöner Wagen«, sagte Ravic.

»Schöne Reifen«, erwiderte Morosow und schnaufte. »Braver eiserner Ravic«, setzte er ärgerlich hinzu. »Detachiert und mitteleuropäisch. Schöner Wagen. Verfluchtes Luder — das würde ich verstehen.«

Ravic lächelte. »Was macht das aus? Luder oder Heilige — es ist immer nur, was man selber daraus macht. Du verstehst das nicht, mit deinen sechzehn Frauen, du friedlicher Bordellbesucher. Die Liebe ist kein Händler, der seine Einlagen zurückhaben will. Und die Phantasie braucht nur ein paar Nägel, um ihre Schleier daran zu hängen. Ob es goldene, blecherne oder verrostete sind, macht ihr nichts. Wo sie sich fängt, da fängt sie sich. Dornbüsche und Rosensträucher — wenn der Schleier aus Mond und Perlmutter darüber fällt, sind beide Märchen aus Tausendundeiner Nacht.«

Morosow nahm einen Schluck Wein. »Du redest zuviel«, sagte er. »Außerdem stimmt das alles nicht.«

»Das weiß ich. Aber in völliger Dunkelheit ist ein Irrlicht auch schon ein Licht, Boris.«

Die Kühle kam auf silbernen Füßen vom Etoile her. Ravic legte seine Hand um das beschlagene Glas mit Wein. Es war kühl unter seiner Hand. Sein Leben war kühl unter seinem Herzen. Der tiefe Atem der Nacht trug es, und mit ihm kam die tiefe Gleichgültigkeit gegen das Schicksal. Das Schicksal und die Zukunft. Wann war das schon einmal so ähnlich gewesen? In Antibes, erinnerte er sich. Als er wußte, daß Joan ihn verlassen würde. Es war eine Gleichgültigkeit, die zu Gleichmut wurde. So wie der Entschluß, nicht zu fliehen. Nicht mehr zu fliehen. Es gehörte zusammen. Er hatte Rache gehabt und Liebe. Das war genug. Es war nicht alles, aber es war so viel, wie ein Mann verlangen konnte. Er hatte beides nicht mehr erwartet. Er hatte Haake getötet und Paris nicht verlassen. Er würde es nicht mehr verlassen. Es gehörte dazu. Wer eine Chance nahm, mußte auch eine geben. Das war nicht Resignation; es war die Ruhe eines Entschlusses, jenseits von Logik. Aus Schwanken wurde Halt. Etwas war geordnet. Man wartete, sammelte sich und sah sich um. Es war wie ein mystisches Vertrauen, zu dem das Dasein sich sammelte vor einer Zäsur. Nichts war mehr von Bedeutung. Alle Flüsse wurden still. Ein See hob seinen Spiegel in die Nacht; der Morgen würde zeigen, wohin er sich ergießen würde.

»Ich muß gehen«, sagte Morosow und sah auf die Uhr.

»Gut. Ich bleibe noch, Boris.«

»Die letzten Abende vor der Götterdämmerung mitnehmen, wie?«

»Genau. Das wird alles nicht wiederkommen.«

»Ist das so schlimm?«

»Nein. Wir kommen ja auch nicht wieder. Das Gestern ist verloren, und keine Tränen und Beschwörungen bringen es zurück.«

»Du redest zu viel.« Morosow stand auf. »Sei dankbar. Du erlebst das Ende eines Jahrhunderts mit. Es war kein gutes Jahrhundert.«

»Es war unseres. Du redest zuwenig, Boris.«

Morosow trank den Rest seines Glases stehend aus. Er stellte es so vorsichtig zurück, als wäre es aus Dynamit und wischte sich den Bart. Er war in Zivil und stand mächtig und groß vor Ravic. »Glaube nicht, daß ich nicht verstehe, warum du nicht weg willst«, sagte er langsam. »Ich verstehe sehr gut, daß du nicht weiter willst, du fatalistischer Knochenschreiner.«

Ravic kam früh ins Hotel zurück. Im Vestibül sah er eine kleine verlorene Figur sitzen, die bei seinem Eintritt aufgeregt, mit einem sonderbaren Schwung beider Hände, vom Sofa aufstand. Er bemerkte, daß ein Bein der Hose keinen Fuß hatte. Ein schmutziger, splittriger Holzstumpf ragte statt dessen darunter hervor.

»Doktor — Doktor...«

Ravic blickte genauer hin. Im trüben Licht des Foyers sah er das Gesicht eines Jungen, breitgezogen in ein einziges Grinsen. »Jeannot«, sagte er überrascht. »Natürlich, das ist Jeannot!«

»Richtig! Immer noch! Ich warte schon den ganzen Abend hier. Habe erst heute nachmittag Ihre Adresse gekriegt. Hatte schon vorher ein paarmal versucht, sie von dem alten Teufel, der Oberschwester in der Klinik, zu erfahren. Aber sie sagte mir jedesmal, Sie wären nicht mehr in Paris.«

»Ich war auch eine Zeitlang nicht hier.«

»Heute nachmittag hat sie mir endlich erklärt, daß Sie hier wohnen. Da bin ich gleich gekommen.« Jeannot strahlte.

»Ist etwas los mit deinem Bein?« fragte Ravic.

»Nichts!« Jeannot klopfte auf den Holzstumpf, als klopfe er einem treuen Hunde auf den Rücken. »Absolut nichts. Alles tadellos.«

Ravic blickte auf den Stumpf. »Ich sehe, du hast, was du wolltest. Wie bist du mit der Versicherung auseinandergekommen?«

»Nicht schlecht. Sie haben mir ein mechanisches Bein bewilligt. Ich habe das Geld dafür von dem Geschäft mit fünfzehn Prozent Abzug bekommen. Alles in Ordnung.«

»Und deine Crèmerie?«

»Deshalb bin ich hier. Wir haben das Milchgeschäft aufgemacht. Klein, aber wir kommen durch. Mutter verkauft. Ich kaufe ein und verrechne. Habe gute Quellen. Direkt vom Lande.«

Jeannot hinkte zu dem abgeschabten Sofa zurück und holte ein festverschnürtes, braun eingepacktes Paket. »Hier, Doktor! Für Sie! Ich habe Ihnen das mitgebracht. Nichts Besonderes. Aber alles aus unserem Geschäft — das Brot, die Butter, der Käse, die Eier. Wenn man mal keine Lust hat, auszugehen, ist das schon ein ganz gutes Abendessen, wie?«

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