Einmal stürzte der Mann, stand dann aber gleich wieder auf seinen Skiern. Diese kurze Verzögerung würde Schroeder die nötige Zeit verschaffen, um den Schützen zu überholen, ehe er ins Freie gelangte. Trotzdem wäre er immer noch ein leichtes Ziel. Stattdessen schoss Schroeder deshalb direkt auf ihn zu, als er neben der Piste aus dem Wald herausglitt.
Der Mann sah Schroeder auf sich zurasen und versuchte mit hektischen Bewegungen, die Maschinenpistole aus seiner Jacke zu zerren.
Schroeder holte aus und zielte mit seinem Skistock auf das Gesicht des Mannes wie ein Kosake bei einer Attacke. Der Schlag traf das Gesicht im oberen Teil und zersplitterte die Skibrille. Der Mann verlor das Gleichgewicht, stand erst auf dem einen, dann auf dem anderen Ski. Die Maschinenpistole rutschte ihm aus der Hand. Wie betrunken schwankend und mit wild rudernden Armen flog er über den Rand der Piste und stürzte ungefähr zehn Meter tief in den Wald.
Er landete kopfüber in der Schneewehe um den Stamm einer hohen Tanne. Seine Skier hatten sich in den unteren Ästen des Baums verfangen. Er bemühte sich, die Bindungen zu lösen, aber sie befanden sich außer Reichweite seiner Hände. Hilflos blieb er hängen. Sein Atem ging pfeifend.
Schroeder stieg seitlich den Abhang zu ihm hinunter. Er hob die Uzi aus dem Schnee auf, wo der Mann sie fallen gelassen hatte, und hielt sie lässig in der Hand.
»Für wen arbeitest du?«, fragte Schroeder.
Der Mann schaffte es, seine zersplitterte Schneebrille nach oben zu schieben. »Acme Security«, sagte er. Das Sprechen bereitete ihm hörbar Mühe.
»Acme?« Schroeder grinste.
»Das ist eine große Firma unten in Virginia.«
»Du hast gewusst, wer ich bin, also müsstest du auch wissen, was sie von mir wollen.«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Was hattet ihr mit mir vor?«
»Wir sollten Sie zu den Leuten unten am Berg bringen. Dort müsste ein Wagen stehen.«
»Ihr habt mich schon seit Tagen beobachtet. Du weißt mehr, als du sagst. Dann verrate mir mal, was die Leute wirklich erzählt haben«, sagte Schroeder beinahe freundlich. »Ich verspreche dir, dass ich dich nicht töten werde. Sieh mal.« Er schleuderte die Uzi in den Wald.
Ein misstrauischer Ausdruck trat in die Augen des Mannes, aber er beschloss, es darauf ankommen zu lassen. »Es ging um das Bild eines Mädchens, das wir in Ihrem Haus gefunden haben. Sie glauben, dass Sie wissen, wo es sich aufhält.«
»Was wollen sie von ihr?«
»Das weiß ich nicht.«
Schroeder nickte. »Eins noch. Wer hat Schatsky getötet?«
»Wen?« Der Mann sah Schroeder an, als sei er verrückt.
»Meinen kleinen Dackel. Den bellenden Hund.«
»Den hat mein Partner erledigt.«
»Aber du hast ihn nicht daran gehindert.«
»Ich mag Hunde.«
»Das glaube ich dir sogar.« Schroeder machte sich in kurzen Schwüngen an den Abstieg.
»Sie können mich nicht hier zurücklassen«, rief der Mann mit Panik in der Stimme.
Schroeder blieb stehen. »Ich habe nur gesagt, dass ich dich nicht töten würde. Ich habe nicht davon gesprochen, dir zu helfen. Keine Sorge, sie werden dich finden, wenn der Schnee geschmolzen ist.«
Die Temperatur würde in der Nacht bis unter null sinken. Die lebenswichtigen Organe des menschlichen Körpers waren nicht darauf eingestellt, auf dem Kopf stehend zu funktionieren, und der Mann würde wahrscheinlich ersticken.
Schroeder fuhr zum Fuß des Berges hinab und suchte sich eine Stelle, von wo aus er einen ungehinderten Blick auf den Parkplatz hatte. Er entdeckte einen schwarzen Yukon Geländewagen mit getönten Scheiben. Drei Männer standen daneben und blickten zum Berg hinauf. Er hätte gerne gewusst, wer sie waren, entschied jedoch, dass es nicht so wichtig war. Zumindest in diesem Moment.
Er schnallte seine Ski ab, deponierte sie im Skiständer und ging in den Umkleideraum. Er holte eine Gürteltasche aus dem Spind, stellte seine Skischuhe hinein, schlüpfte in ein Paar Laufschuhe und ging zu dem Parkplatz, wo er seinen Pick-up abgestellt hatte.
Schroeder sah sich um, bemerkte nichts Verdächtiges und ging schnell zu seinem Wagen und stieg ein. Während er den Parkplatz verließ, holte er seine Pistole unterm Sitz hervor und legte sie in seinen Schoß.
Dann überlegte er seinen nächsten Schritt. Es wäre gefährlich, zu seinem Haus zurückzukehren. Er verließ die Stadt und fuhr in Richtung Glacier Nationalpark. Zwanzig Minuten später stoppte er vor einem kleinen baufälligen Haus. Das Schild vor dem Haus verkündete:
GLACIER PARK
WILDERNESS TOURING COMPANY AND CAMPS
Es war eine von mehreren Firmen, in die Schroeder über Strohfirmen investiert hatte. Hinter dem Gebäude befanden sich mehrere Blockhäuser, die er während des Sommers vermietete.
Er parkte hinter dem Gebäude, begab sich in eine Hütte, die er für seine persönliche Benutzung reserviert hatte, und nahm einen mottenzerfressenen Elchkopf von der Wand über dem Kamin. Dahinter kam ein Wandsafe zum Vorschein. Er öffnete den Safe mit ein paar Drehungen des Kombinationsschlosses. Darin befand sich eine Kassette voller Bargeld, das er zusammen mit falschen Führerscheinen, Reisepässen und Kreditkarten in den Taschen seines Parka verstaute.
Danach suchte Schroeder das Badezimmer auf und rasierte sich seinen Schnurrbart ab. Er färbte seine Haare braun, so dass sie dem Foto auf seinem Ausweis entsprachen, und holte aus einem Wandschrank einen bereits reisefertig gepackten Koffer. Der Identitätswechsel nahm weniger als eine halbe Stunde in Anspruch. Eile war geboten. Jemand, der einen Weg durch das Labyrinth falscher Identitäten fand, das er angelegt hatte, musste über ungewöhnlich gute Beziehungen verfügen. Es wäre daher nur eine Frage der Zeit, bis seine Verfolger auch auf dieses Jagd- und Angelcamp stoßen würden.
Möglicherweise beobachtete bereits jemand den kleinen Flugplatz in Kalispell. Er beschloss daher, nach Missoula zu fahren und sich dort einen Wagen zu mieten. Auf halbem Weg dorthin machte er an einem Münzfernsprecher Halt. Unter Verwendung einer Telefonkarte führte er ein Ferngespräch. Während das Rufzeichen ertönte, hielt er unwillkürlich den Atem an und fragte sich, ob sie ihn wohl erkennen würde. Es war lange her. Ein Mann meldete sich. Sie redeten ein paar Worte und legten auf. Enttäuschung lag in seinen Augen.
Zum Glück herrschte auf den Straßen Montanas keine Geschwindigkeitsbeschränkung. Während Schroeder aus dem Truck alles herausholte, fragte er sich, wie es hatte passieren können, dass der Geist wieder aus der Flasche entwichen war. Er war viel jünger gewesen, als er zum ersten Mal eingesperrt worden war, und er war sich nicht sicher, ob er es in seinem Alter abermals mit ihm würde aufnehmen können.
Er dachte an das Mädchen. Das Foto in seinem Schlafzimmer war von einem Profistudio hergestellt worden. Sie würden seine Herkunft enträtseln können. Er glaubte, dass sein Computer in dieser Hinsicht sauber war, aber man konnte sich dessen eigentlich nie ganz sicher sein. Dann waren da seine Telefondaten. Er war auf seine alten Tage sorglos geworden. Es wäre wirklich nur eine Frage der Zeit, bis sie sie finden würden. Er hätte gerne gewusst, wie sie jetzt aussah. Das letzte Mal hatte er sie anlässlich der Beerdigung ihres Großvaters gesehen. Er tauchte in Gedanken in die Vergangenheit ab und rief sich die Ereignisse ins Gedächtnis, die ihn mit der jungen Frau verbanden.
Es war 1948. Er wohnte in seiner Blockhütte in Montana. Obgleich er dank Schweizer Bankkonten Zugang zu enormen Geldbeträgen hatte, verdiente er sich einen bescheidenen Lebensunterhalt mit Gelegenheitsarbeiten und indem er Touristen durch den Glacier Nationalpark führte. Ein Kunde, ein Geschäftsmann aus Detroit, hatte in seiner Hütte eine Illustrierte liegen gelassen. Schroeder pflegte die Generalreinigung der Hütten persönlich vorzunehmen und hatte in dem Magazin, als er es fand, herumgeblättert. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er, was mit Laszlo Kovacs seit der Nacht geschehen war, als die Wilhelm Gustloff sank.