»Hey, Spider, du kannst den Leuten die Einzelheiten dieser Geschichte nicht verraten«, sagte Doyle und schüttelte heftig den Kopf. »Bist du ganz sicher, dass du damit an die Öffentlichkeit gehen willst? Du könntest in größte Schwierigkeiten geraten.«
»Das Risiko muss ich eingehen.«
»Das wird Tris und dem ganzen Projekt den Todesstoß versetzen. Er ist immerhin dein Partner.«
»Darüber habe ich gründlich nachgedacht. Auf lange Sicht wird es für ihn das Beste sein.«
»Also ich weiß nicht so recht.«
»Ich aber. Am Ende wird er mir noch dafür danken, dass ich diesen verrückten Plan vereitelt habe.«
»Warum wartest du nicht? Er sagte, er würde sich zurückhalten, bis jemand mit Kovacs’ Enkelin gesprochen hat.«
»Ich arbeite schon lange mit Tris zusammen und kenne ihn. Er hat es nur gesagt, um mich zu beruhigen«, meinte Barrett lächelnd. »Die Welt muss erfahren, was wir ausbrüten, und unglücklicherweise bin ich derjenige, der alles ausplaudern wird.«
»Ach, Mist.«
»Was ist, Mickey? Du meintest doch, ich sei der Schwermütige in unserer Truppe.«
»Wie lange kennen wir uns schon, Spider?«
»Seit unserer Zeit am MIT. Du hast damals in der Cafeteria gearbeitet. Wie könnte ich das vergessen?«
»Ich hab’s nicht vergessen. Du warst der Einzige unter diesen neunmalklugen College-Kids, der mich nicht wie den letzten Dreck behandelt hat. Du warst mein Freund.«
»Du hast dich dafür bestens revanchiert. Du kanntest in Cambridge immer die Bars, wo man die besten Girls treffen konnte.«
»Die kenne ich immer noch«, sagte Doyle grinsend.
»Du hast deinen Weg gemacht, Mickey. Nicht jeder kann Pilot werden.«
»Ich bin doch nur ein ganz kleines Licht, verglichen mit dem Großen Mann.«
»Tris? Ich vermute, er ist überlebensgroß. Ich bin wie ein Architekt, der nur ein einziges Haus baut. Er ist dagegen wie der Entwickler, der Tausende dieser Häuser verkauft. Seine Visionen waren es, die uns reich gemacht haben.«
»Glaubst du eigentlich an diesen Anarchiekram, von dem er ständig redet?«
»An einiges schon. Auf dieser Welt ist vieles aus dem Gleichgewicht geraten, und ich würde gerne die Eliten aufrütteln, aber im Grunde interessierte mich die wissenschaftliche Herausforderung viel mehr. Nun hat sich das zerschlagen, und ich muss die Dinge in Ordnung bringen.«
»Und ich kann dir als guter Freund nur den Rat geben, dass das keine gute Idee ist.«
»Ich weiß diese Freundschaft zu schätzen, aber ich muss darauf erwidern, dass es mir leid tut, aber ich kann nicht anders.«
Doyle schwieg einige Sekunden lang, dann meinte er: »Mir tut es auch leid.« Tiefe Traurigkeit lag in seiner Stimme.
Nachdem dieses Thema offensichtlich abgehandelt war, widmete Barrett seine Aufmerksamkeit wieder der Mappe und blickte nur gelegentlich aus dem Cockpitfenster. Sie überflogen dichte Wälder, als Doyle plötzlich die Ohren spitzte.
»Verdammt! Was ist das?«
Barrett schaute von seiner Lektüre hoch. »Außer dem Motor höre ich nichts.«
»Irgendetwas stimmt nicht«, sagte Doyle stirnrunzelnd. Das Flugzeug sackte einige Meter ab. »Verdammt, wir werden langsamer. Halt dich fest. Ich muss die Kiste runterbringen.«
»Du willst landen?« Barretts Stimme zitterte. Er reckte den Hals, während er seinen Blick über die Baumwipfel unter sich gleiten ließ. »Wo?«
»Ich kannte mich in der Region mal ganz gut aus, aber es ist schon eine Weile her, seit ich in dieser Gegend hier auf Jagd war. Ich glaube, nicht weit von hier gibt es einen See.«
Das Flugzeug verlor weiter an Höhe.
»Ich sehe etwas.« Barrett deutete auf einen funkelnden Fleck, der offenbar das Sonnenlicht reflektierte.
Doyle stieß den Daumen nach oben und lenkte die Maschine in Richtung der blauen Wasserfläche. Das Flugzeug ging so steil in den Sinkflug über, dass es aussah, als würde es in die hohen Kiefern krachen. Im letzten Moment zog Doyle die Maschine hoch, berührte fast die Baumkronen, ehe er eine mustergültige Landung auf dem See hinlegte.
Das Flugzeug hatte genug Schwung, um bis zum Ufer zu treiben und einen schmalen Strand hinaufzurutschen. Doyle lachte. »Das war der reinste Höllenritt. Bist du okay?«
»Ich habe zwar das Gefühl, als steckte ich mit den Ohren in meinem eigenen Hintern, aber ansonsten geht es mir gut.«
»Reinzukommen war einfach«, stellte Doyle fest und betrachtete den dichten Wald ringsum. »Wieder rauszukommen dürfte ziemlich schwierig werden.«
Barrett deutete auf das Funkgerät. »Sollten wir nicht lieber Hilfe anfordern?«
»Gleich. Ich will mir erst mal den Schaden ansehen.« Er kletterte hinaus auf den Schwimmer und machte einen weiteren Schritt auf den Strand hinunter. Er bückte sich zweimal und warf einen Blick unter den Rumpf. »Hey, Spider, sieh dir das mal an.«
Barrett stieg ebenfalls aus dem Flugzeug. »Was ist los?«
»Hier, unter dem Rumpf. Es ist einfach erstaunlich.«
Barrett machte Anstalten, sich hinzuknien. Er hatte noch immer die Mappe in der Hand.
»Ich sehe nichts.«
»Du wirst es«, sagte Doyle. »Du wirst es.« Er holte eine Pistole aus seinem Anorak.
Barrett bückte sich tiefer, und die Ledermappe rutschte ihm aus der Hand. Der dicke Papierstapel ergoss sich auf den Erdboden. Einige Blätter wurden von einer Windböe erfasst, die über den See wehte, und auf der Lichtung verteilt, als führten sie ein Eigenleben.
Barrett hechtete hinter der Mappe her und sammelte die Papiere mit der Fertigkeit eines Footballprofis ein. Er schaffte es, alle Papiere an sich zu bringen, ehe sie zwischen die Bäume geweht wurden. Er stopfte sie zurück in die Mappe und drückte sich diese fest an die Brust. Ein siegreiches Grinsen lag auf seinem Gesicht, während er sich auf den Rückweg zum Flugzeug machte.
Er erblickte die Pistole in Doyles Hand.
»Was ist los, Mickey?«
»Mach’s gut, Spider.«
Am Tonfall in Doyles Stimme erkannte er, dass sein Freund nicht scherzte. Sein Grinsen verflog. »Warum?«
»Ich kann nicht zulassen, dass du das Projekt scheitern lässt.«
»Sieh mal, Mickey. Tris und ich können das ausdiskutieren und uns einigen.«
»Es hat nichts mit Tris zu tun.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich trinke ein Bier auf dich, sobald ich wieder in Cambridge bin«, sagte Doyle.
Die .25er Pistole in seiner Hand knallte zweimal.
Die erste Kugel bohrte sich in die Ledermappe. Barrett verspürte den Stoß gegen seine Brust, aber er stand der Situation immer noch völlig ungläubig gegenüber, als die zweite Kugel seinen Schädel streifte. Dann meldeten sich seine Überlebensreflexe. Er ließ die Mappe fallen, machte kehrt und stürmte in den Wald. Doyle feuerte zwei weitere Schüsse ab, doch die Kugeln schlugen harmlos in einen Baumstamm ein. Er fluchte und nahm die Verfolgung auf.
Barrett achtete nicht auf die tief hängenden Zweige, die ihm ins Gesicht peitschten, oder die Dornenranken, die sich in seiner Jeans verhakten. Seine Überraschung und Enttäuschung, von einem Freund beschossen zu werden, hatte nacktem Entsetzen Platz gemacht. Blut sickerte an der Seite seines Kopfs und am Hals herab. Während er durch den Wald stürmte, erkannte er voraus einen silbernen Glanz. Oh verdammt! Er war im Kreis gelaufen und zum See zurückgekehrt, aber nun gab es kein Zurück mehr.
Er brach aus dem Wald und gelangte auf einen Sandstrand, ungefähr hundert Meter vom Flugzeug entfernt. Er konnte hören, wie Doyle sich dicht hinter ihm durchs Unterholz wühlte. Ohne zu zögern rannte er ins Wasser, holte tief Luft und tauchte unter. Er war ein guter Schwimmer, und trotz seiner Schuhe an den Füßen hatte er sich bereits mehrere Meter vom Strand entfernt, als Doyle am Seeufer erschien. Er tauchte so tief unter wie möglich.
Doyle stand am Ufer und zielte auf die Wellen, die auf der Wasseroberfläche die Stelle markierten, wo Barrett verschwunden war. Er jagte eine ganze Salve ins Wasser, lud in aller Ruhe nach und leerte ein zweites Magazin.