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»Sie werden Ihre Chance bekommen.«

Die See hatte keine Zeit vergeudet, von der Southern Belle Besitz zu nehmen.

Das Schiff, das von den Lichtkegeln der starken Scheinwerfer des ferngesteuerten Vehikels eingefangen wurde, hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem prachtvollen Ozeanriesen, der einst wie eine bewegliche Insel die Fluten der Weltmeere geteilt hatte. Sein blauer Rumpf war mit einem grünlich grauen Bewuchs bedeckt, der dem Schiff das Aussehen eines müden, zottigen Hundes verlieh. Man hätte meinen können, dem Schiff wäre ein Fell gewachsen. Mikroorganismen hatten sich im Seetang angesiedelt und lockten Fischschwärme an, die in den Nischen und Winkeln des Wracks, das sich in einen riesigen Brutkasten vielfältigen marinen Lebens verwandelt hatte, nach Nahrung stöberten.

Das ROPOS ROV war vom kantigen Heck der Throckmorton zu Wasser gelassen worden, kurz nachdem Austin die Brücke davon informiert hatte, dass die Sonarsuche das Schiff aufgespürt habe und ein recht genaues Bild von ihm liefere. Das Remote Operated Vehicle, kurz ROV, war etwa zwei Meter lang und jeweils einen Meter breit und hoch und hatte in etwa die Form eines seetüchtigen Kühlschranks. Trotz seiner eher klobigen äußeren Form übertraf das ROV in Bezug auf seine Funktionen die früheren ferngesteuerten Modelle um ein Vielfaches. Es war mittlerweile zu einem beweglichen meereskundlichen Labor herangereift, das eine Vielzahl wissenschaftlicher Aufgaben erledigen konnte.

Das ROV verfügte über zwei Videokameras, Zwillingsgreifer, Vorrichtungen zum Einsammeln von Materialproben jeglicher Art sowie sonare wie digitale Datenleitungen. Das Vehikel war mit dem Schiff über eine faseroptische Leitung verbunden, die eine Kommunikation und die Liveübertragung von Video- und anderen Daten ermöglichte. Angetrieben von einem vierzig PS starken Elektromotor, war das ROV schnell in knapp zweihundert Meter Tiefe abgestiegen, wo das Schiff aufrecht auf dem Meeresboden ruhte.

Joe Zavala saß vor der Kontrolltafel und lenkte den kastenförmigen Unterwasserroboter mittels eines Joysticks. Zavala war ein erfahrener Pilot, der Hunderte Stunden in Helikoptern, kleinen Jets und Turbopropflugzeugen gesessen hatte, doch die Steuerung eines Objekts, das einige Hundert Meter weit entfernt operierte, erforderte an den Kontrollen die sensible Hand eines halbwüchsigen Videospielsüchtigen.

Während er das Videobild auf dem Schirm aufmerksam beobachtete, lenkte Zavala das ROV, als säße er darin. Mit fester, aber äußerst behutsamer Hand am Joystick gab er dem Vehikel vorsichtige Befehle, um die Strömungswechsel auszugleichen. Bei jeder Bewegung des Joysticks musste er darauf achten, dass das ROV sich nicht in seiner eigenen Nabelschnur verfing.

Die Stimmung in der dicht besetzten Steuer- und Beobach­tungszentrale war angespannt und ernst. Mannschaftsangehörige und Wissenschaftler waren in dem Raum zusammengekommen, nachdem die Nachricht von der Entdeckung der Southern Belle sich wie ein Lauffeuer im Schiff verbreitet hatte. Die stummen Beobachter betrachteten die geisterhaften Bilder des toten Schiffs wie Trauernde den Sarg des Verstorbenen während einer Begräbnisfeier.

Die anfängliche Aufregung über die Entdeckung des Schiffs hatte sich inzwischen gelegt und war durch eine von Nüchternheit geprägte Stimmung abgelöst worden. Diejenigen, die sich der See verschrieben haben, sind sich darüber im Klaren, dass das solide Deck unter ihren Füßen auf einem wogenden Fundament Meerwasser ruht, das mindestens genauso trügerisch wie zugleich schön ist. Jeder auf der Throckmorton wusste, dass das gesunkene Schiff für seine Besatzung zum Sarg geworden war. Alle waren sich der Tatsache bewusst, dass sie das gleiche Schicksal erleiden könnten. Es gab keine Spur von den Männern, die mit der Southern Belle untergegangen waren, jedoch war es unmöglich, sich die letzten grauenvollen Sekunden der todgeweihten Mannschaft des Frachtschiffs nicht vorzustellen.

Indem er sich ausschließlich auf seine Aufgabe konzentrierte, brachte Zavala das ROV auf Deckniveau hinunter und ließ es vom Bug zum Heck über den Frachter gleiten. Normalerweise hätte er besonders darauf achten müssen, dass das Vehikel nicht mit den Masten oder den Funkantennen kollidierte, doch das Oberdeck der Belle war so glatt und eben wie ein Billardtisch. Die Kamera fing verbogene und geborstene Stahlbolzen ein, wo die Kräne und Hebebäume, mit denen die Frachtcontainer an Bord hin und her bewegt werden konnten, wie Zahnstocher abgebrochen waren.

Während das ROV über das Achterdeck des Schiffs hinwegschwebte, erfassten seine Scheinwerfer eine rechteckige Öffnung im Deck.

Zavala murmelte auf Spanisch einen Fluch. »Das Deckhaus ist verschwunden«, sagte er dann.

Austin beugte sich über Zavalas Schulter. »Such gleich mal die nähere Umgebung des Schiffs ab«, schlug er vor.

Zavala betätigte den Joystick, und das Vehikel stieg über dem Deck in die Höhe. Es beschrieb über dem Schiff eine nach außen gerichtete Spirale, doch von dem Deckhaus war nirgendwo etwas zu sehen.

Professor Adler hatte das Geschehen schweigend verfolgt. Er tippte Austin leicht auf den Arm und begab sich mit ihm zum anderen Ende des Raums, weg von der Gruppe, die sich um den Monitor des ROV drängte.

»Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns eingehend unterhalten«, flüsterte der Professor.

Austin nickte und kehrte zur Kontrolltafel zurück. Er sagte Joe Bescheid, dass er im Aufenthaltsraum des Schiffs zu finden sei, und verließ danach zusammen mit dem Professor die Beobachtungszentrale.

Da alle dienstfreien Mitglieder der Schiffsbesatzung sich für die Bilder der Belle interessierten, hatten sie den Aufenthaltsraum für sich. Es war ein komfortabel eingerichteter Freizeitbereich mit Ledersitzgruppen, einem Fernseher mit DVD-Player, einem kleinen Filmraum, einem Pooltisch und einer Tischtennisplatte, einigen Brettspielen und einem Computer.

Austin und Adler machten es sich in zwei Sesseln gemütlich. »Nun«, begann Adler, »was denken Sie?«

»Über die Belle? Man braucht nicht gerade Sherlock Holmes zu sein, um sich zusammenreimen zu können, weshalb sie unterging. Das Deckhaus wurde weggerissen.«

»Wir haben die Satellitenbilder, die einen hohen Wellengang zeigen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass die Belle von einer oder zwei Killerwellen getroffen wurde, die mächtiger als alles waren, das wir bisher gesehen haben.«

»Was uns auf Ihre Theorien zurückkommen lässt. Sie hatten vorhin Hemmungen, sich dazu zu äußern. Hat die Entdeckung des Schiffs Ihre Meinung geändert?«

»Ich fürchte, meine Theorien fallen ziemlich aus dem Rahmen des Normalen.«

Austin lehnte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe gelernt, dass nichts normal ist, wenn es um den Ozean geht.«

»Ich habe mich bisher bedeckt gehalten, weil ich keine Lust hatte, als Spinner dazustehen. Es hat Jahre gedauert, bis die Wissenschaft Monsterwellen als tatsächlich existent angenommen hat. Meine Kollegen würden mich in der Luft zerreißen, wenn sie meine Überlegungen zu diesem Thema kennen würden.«

»Dazu wollen wir es doch nicht kommen lassen«, versicherte Austin ihm. »Ich betrachte dieses Gespräch als vertraulich.«

Der Professor nickte. »Als die empirischen Beweise für das Vorhandensein dieser Wellen zu offensichtlich wurden, um weiterhin geleugnet zu werden, schoss die Europäische Union zwei Satelliten ins All, die Bilder mit höchster Auflösung lieferten. Das Projekt trug den Namen MaxWave. Das Ziel der Untersuchungen war es, die Existenz dieser Wellen nachzuweisen und zu untersuchen, auf welche Weise sie sich auf die Konstruktion und den Bau von Schiffen und Bohrinseln auswirken. Die Satelliten der European Space Agency lieferten sogenannte ›Imagettes‹, die eine Fläche von zehn mal fünf Kilometern abdecken. In einem Zeitraum von drei Wochen zeichneten die Satelliten mehr als zehn Monsterwellen auf, die alle höher waren als vierundzwanzig Meter.«

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