»Entschuldigen Sie, dass ich so einfach bei Ihnen hereinplatze«, begann sie, »aber wir haben jeglichen Kajakbetrieb auf dem Puget Sound verboten, bis wir diesem Vorfall auf den Grund gegangen sind. Das Beobachten der Wale ist in dieser Region ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor, daher hat diese Untersuchung absoluten Vorrang. Die Souvenirhändler und Bootsvermieter schreien bereits Zeter und Mordio wegen des Verbots, aber wir dürfen kein Risiko eingehen.«
Austin Senior forderte sie auf, Platz zu nehmen, und Kurt erzählte seine Geschichte zum zweiten Mal.
»Das ist höchst seltsam«, stellte Sheila Rowland kopfschüttelnd fest, nachdem er geendet hatte. »Ich habe noch nie gehört, dass Orcas gezielt einen Menschen angreifen.«
»Was ist denn mit den gelegentlichen Attacken in Seewasseraquarien?«, fragte Kurt.
»In diesen Fällen handelt es sich um Wale, die in Gefangenschaft gehalten werden und ständig irgendwelche Kunststücke vorführen müssen. Sie werden aggressiv, weil sie eingesperrt und gelegentlich überfordert sind, und lassen manchmal ihre Wut ganz spontan an ihren Trainern aus. Es hat auch in freier Wildbahn Fälle gegeben, in denen ein Orca sich ein Surfbrett geschnappt hat, weil er es für eine Robbe gehalten hat. Doch sobald sie ihren Irrtum bemerkten, haben sie die Surfer ausgespien.«
»Ich vermute, dass dem Wal, mit dem ich aneinandergeraten bin, mein Gesicht nicht gefallen hat«, sagte Kurt mit seinem typischen trockenen Humor.
Sheila Rowland lächelte und dachte bei sich, dass Kurt Austin mit seinem gebräunten Gesicht und seinen durchdringenden hellblauen Augen einer der attraktivsten Männer war, denen sie je begegnet war. »Das glaube ich nicht. Wenn ein Orca Ihr Gesicht nicht leiden könnte, dann hätten Sie keins mehr. Ich habe mal beobachtet, wie ein Orca einen fünfhundert Pfund schweren Seelöwen herumgeschleudert hat wie eine Lumpenpuppe. Ich werde mich mal erkundigen, ob es irgendwelche Videoaufnahmen von dem Vorfall gibt.«
»Das dürfte kein Problem sein angesichts der vielen Kameras, die das Rennen verfolgt haben«, sagte Kurt. »Gibt es Ihrer Meinung nach irgendetwas, das die Wale gereizt und ihre Aggressivität ausgelöst haben könnte?«
Sie schüttelte den Kopf. »Orcas haben ungemein empfindliche Sinnesorgane. Wenn irgendetwas in ihrer Umgebung aus dem Lot gerät, könnte es sein, dass sie diese Störung mit einer Attacke gegen das nächstliegende Objekt kompensieren.«
»Ähnlich wie die Wale in den Seewasseraquarien?«
»Schon möglich. Ich werde mich mal mit einigen Cetologen unterhalten und mich erkundigen, was sie dazu meinen.«
Sie erhob sich und bedankte sich bei den beiden Männern für ihr Entgegenkommen. Nachdem sie von Bord gegangen war, wollte Austin senior eine weitere Runde ausschenken, aber Kurt deckte eine Hand über sein Glas.
»Ich weiß, was du vorhast, du alter Fuchs. Du versuchst, mich zu shanghaien und auf eins deiner Bergungsschiffe zu entführen.«
Kurt Senior hatte niemals einen Hehl aus seinem Wunsch gemacht, seinen Sohn von der NUMA wegzulocken und ihn in den Familienbetrieb zurückzuholen. Kurt juniors Entscheidung, bei der NUMA zu bleiben, anstatt die Leitung der Firma zu übernehmen, war zwischen den beiden Männern lange ein Streitpunkt gewesen. Im Laufe der Jahre hatten sie gelernt, diese Angelegenheit eher humorvoll zu behandeln.
»Du entwickelst dich allmählich zu einem Weichei«, stellte der ältere Austin mit einem Ausdruck gespielter Abscheu fest. »Wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass die NUMA nicht allzu viel Aufregendes zu bieten hat.«
»Ich habe es dir doch schon des Öfteren erklärt, Pops. Es geht mir nicht um Spannung und Abenteuer.«
»Ja, ich weiß. Es geht dir um deine Pflicht gegenüber deinem Vaterland und so weiter. Das Schlimmste ist, dass ich es Sandecker jetzt, wo er Vizepräsident ist, gar nicht mehr übel nehme, dich in Washington festzuhalten. Wie sehen denn deine weiteren Pläne aus?«
»Ich werde noch ein paar Tage hierbleiben. Ich muss mir einen neuen Kajak bestellen. Und was ist mit dir?«
»Ich habe einen dicken Auftrag an Land gezogen und soll vor Hanes in Alaska ein abgesoffenes Fischerboot heben. Möchtest du mich nicht begleiten? Ich könnte dich gut gebrauchen.«
»Vielen Dank, aber ich bin sicher, du kommst mit dem Projekt alleine zurecht.«
»Nimm mir nicht übel, dass ich es wieder mal versucht habe. Aber okay, erledigt, dann lass dich wenigstens von mir zum Dinner einladen.«
Kurt Austin arbeitete sich im Lieblingssteakhaus seines Vaters soeben durch einen beachtlichen Klotz Rindfleisch, als er spürte, wie sein Mobiltelefon vibrierte. Er entschuldigte sich und nahm den Anruf im Foyer an. Vom winzigen Display des Videophones aus sah Kurt Austin ein dunkelhäutiger Mann mit kräftigem schwarzem Haar an, das er glatt zurückgekämmt trug. Joe Zavala gehörte zu Austins Spezialteam für Sonderaufträge und war von Sandecker direkt nach seiner Abschlussprüfung am New York Maritime College rekrutiert worden. Er war ein hervorragender Marineingenieur, dessen Sachkenntnis in der Konstruktion von Unterseebooten sich bei der NUMA ungehindert austoben konnte.
»Freut mich, dich immer noch in einem Stück anzutreffen«, sagte Zavala. »Die Orca-Attacke während deines Kajakrennens war die Sensationsmeldung in sämtlichen Nachrichtensendungen. Bist du okay?«
»Mir geht’s gut. Man könnte sogar sagen, ich fühle mich wie ein Fisch im Wasser.«
Zavala verzog die Lippen zum Anflug eines Lächelns.
»Mein Leben ist ja so langweilig. Wer anders als Kurt Austin schafft es schon, ein Wohltätigkeits-Kajakrennen in einen Kampf auf Leben und Tod mit einer Herde durchdrehender Mörderwale zu verwandeln?«
»Als ich dich das letzte Mal sah, hast du höchst intensiv an der Erfüllung deines Lebenstraums gearbeitet, nämlich jede verfügbare Frau in Washington auf dein Lager zu ziehen. Ich würde das nicht gerade langweilig nennen.«
Der stets gesellige Zavala war bei vielen der unverheirateten Frauen in Washington äußerst beliebt, und sie fühlten sich von seinem Charme, seinen gefühlvoll blickenden dunkelbraunen Augen und seinem südländisch guten Aussehen unwiderstehlich angezogen.
»Ich gebe zu, dass das Leben recht interessant werden kann, wenn ich einer alten Flamme begegne, während ich gerade mit einer neuen Flamme ausgehe, aber das ist nichts im Vergleich mit deinem Rennen. Was ist passiert?«
»Ich esse gerade mit meinem Vater zu Abend, daher kann ich dir erst in ein paar Tagen Bericht erstatten, wenn ich zurückkomme.«
»Es sieht so aus, als wärest du schon eher in Washington. Wir haben Befehl erhalten, noch heute Norfolk zu verlassen. Kennst du Joe Adler?«
»Der Name klingt irgendwie vertraut. Ist er nicht der Wellenspezialist bei Scripps?«
»Er ist einer der fähigsten Fachleute für Ozeanwellen der Welt. Wir helfen ihm, die Southern Belle zu finden.«
»Ich kann mich erinnern, etwas über die Belle gelesen zu haben. Sie ist doch dieses riesige Containerschiff, das im vergangenen März untergegangen ist.«
»Richtig. Rudi hat mich angerufen. Adler möchte dich bei dem Projekt dabeihaben. Offensichtlich hat er einigen Einfluss, denn Rudi hat ihm sofort seine Bitte erfüllt.« Rudi Gunn trug die Verantwortung für die vielfältigen Operationen der NUMA.
»Das ist merkwürdig. Ich habe Adler nie persönlich kennen gelernt. Bist du sicher, dass er sich nicht geirrt hat? Es gibt bei der NUMA mindestens ein Dutzend Leute, die schon an Schiffssuchen teilgenommen haben. Warum ich?«
»Rudi sagte, er habe keinen Schimmer. Aber Adler hat international den besten Ruf, daher ist er seiner Bitte nachgekommen, ihm kompetente Hilfe zu schicken.«
»Interessant. Die Belle ging irgendwo vor der Mitte der Atlantikküste unter. Wie weit ist das Suchgebiet von der Position entfernt, wo die Trouts zur Zeit arbeiten?« Paul und Gamay Trout, die anderen Mitglieder des Spezialteams für Sonderaufgaben, steckten mitten in einem Meeresforschungsprojekt.