»Angst wovor? Angst wovor?«
Er dachte an seinen Versuch, mit ihr zu schlafen - drei Tage nach dem Fiasko von Stovington. Seitdem war sie still geworden - sie war gelegentlich immer noch heiter, aber neuerdings schien sie sich zur Heiterkeit zu zwingen. Joe hatte geschlafen. Larry hatte sich neben sie gesetzt, und sie hatten sich eine Weile unterhalten, nicht über ihre gegenwärtige Situation, sondern über vergangene Dinge. Larry hatte versucht, sie zu küssen. Sie hatte ihn weggestoßen und sich abgewandt, aber vorher hatte er gespürt, was Lucy ihm gerade gesagt hatte. Er hatte es noch einmal versucht, grob und zärtlich zugleich, weil er sie so begehrt hatte. Und einen Augenblick hatte sie sich ihm hingegeben und ihm gezeigt, wie es sein könnte, wenn...
Dann hatte sie sich losgerissen und war von ihm abgerückt, das Gesicht blaß, die Hände vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt.
Mach das nie wieder, Larry. Bitte nicht. Sonst muß ich Joe nehmen und gehen.
Warum? Warum, Nadine? Warum muß es denn so ein Getue sein?Sie hatte nicht geantwortet. Hatte einfach mit gesenktem Kopf dagestanden, und die braunen, aufgedunsenen Ringe unter ihren Augen hatten sich schon herausgebildet.
Wenn ich es dir sagen könnte, würde ich es tun, sagte sie schließlich und ging fort, ohne sich umzuschauen.
»Ich hatte mal eine Freundin, die sich ein wenig wie sie benommen hat«, sagte Lucy. »In meinem letzten Jahr an der High School. Sie hieß Joline. Joline Majors. Joline war nicht an der High School. Sie war abgegangen, um ihren Freund zu heiraten. Er war bei der Marine. Als sie geheiratet haben, war sie schwanger, aber sie hat das Baby verloren. Ihr Mann war häufig fort und Joline ... die ging gern auf Parties. Zu gern, aber ihr Mann war ein eifersüchtiger Bär. Er sagte ihr, wenn er je rauskriegen würde, daß sie was hinter seinem Rücken trieb, würde er ihr beide Arme brechen und ihr Gesicht verunstalten. Kannst du dir vorstellen, wie dieses Leben gewesen sein muß? Dein Mann kommt heim und sagt: >Nun, ich fahr' jetzt zur See, Schatz. Gib mir 'nen Kuß, dann wälzen wir uns noch eine Runde im Heu, und übrigens, wenn ich heimkomme und jemand erzählt mir, daß du rumgevögelt hast, breche ich dir beide Arme und mach dir das Gesicht kaputt.<«
»Ja, das ist schlimm.«
»Nach einer Weile lernte sie einen Typ kennen«, sagte Lucy. »Er war Turnlehrer an der Burlington High. Sie haben miteinander rumgemacht und dabei immer über die Schulter gesehen, und ich weiß nicht, ob ihr Mann jemanden auf sie angesetzt hatte, aber nach einer Weile war das auch unwichtig. Nach einer Weile wurde Joline echt nervös. Sie war so weit, daß sie dachte, ein Typ, der an der Ecke auf den Bus wartete, wäre ein Freund ihres Mannes. Oder der Vertreter, der sich nach ihr und Herb in einer verlausten Absteige eintrug. Das dachte sie auch, wenn sie sich in einem x-beliebigen Motel irgendwo im Staat New York trafen. Vielleicht gehörte sogar der Polizist dazu, der ihnen den Weg zu einem Picknickplatz erklärte, wenn sie zusammen waren. Es wurde so schlimm, daß sie geschrien hat, wenn der Wind eine Tür zuwehte, und zusammengezuckt ist, wenn jemand die Treppe raufkam. Und da sie in einem Haus wohnte, das in sieben kleine Wohnungen unterteilt war, kam immer irgend jemand die Treppe rauf. Herb bekam Angst und verließ sie. Er bekam keine Angst vor Jolines Mann - er bekam Angst vor ihr. Kurz bevor ihr Mann auf Landurlaub kam, hatte Joline einen Nervenzusammenbruch. Und nur, weil sie sich zu gerne verliebte... und er krankhaft eifersüchtig war. Nadine erinnert mich an dieses Mädchen, Larry. Sie tut mir leid. Ich glaube, ich kann sie nicht besonders gut leiden, aber sie tut mir leid. Sie sieht schrecklich aus.«
»Willst du damit sagen, Nadine hat Angst vor mir, wie dieses Mädchen Angst vor ihrem Mann gehabt hat?«
Lucy sagte: »Vielleicht. Ich will dir eines sagen - wo immer Nadines Mann ist, hier ist er nicht.«
Er lachte ein wenig unbehaglich. »Wir sollten wieder schlafen gehen. Morgen wird ein schwerer Tag.«
»Ja«, sagte sie und dachte, daß er kein Wort begriffen hatte. Und plötzlich fing sie an zu weinen.
»He«, sagte er. »He.« Er versuchte, einen Arm um sie zu legen. Sie schlug ihn weg. »Von mir bekommst du, was du willst, das kannst du dir sparen!«
Es war immer noch so viel von dem alten Larry in ihm, daß er sich fragte, ob man ihre Stimme im Lager hören konnte.
»Lucy, ich habe dich nicht gezwungen«, sagte er grimmig.
»Oh, du bist so dumm!« schrie sie und schlug nach seinem Bein.
»Warum sind Männer so dumm, Larry? Du siehst nur Schwarz und Weiß. Nein, du hast mich nicht gezwungen. Ich bin nicht wie sie. Du könntest sie zwingen, und sie würde dir trotzdem ins Gesicht spucken und die Beine zusammenkneifen. Für Mädchen wie mich haben Männer Wörter, die schreiben sie an Toilettenwände, hab' ich gehört. Aber es geht doch nur darum, daß man Wärme braucht, sich warm fühlenmuß. Daß man Liebe braucht. Ist das so schlimm?«
»Nein. Nein, das ist es nicht. Aber Lucy...«
»Aber das glaubst du ja nicht«, sagte sie verächtlich. »Du läufst weiter Miss Rührmichnichtan nach, denn du hast ja Lucy, die du nach Sonnenuntergang flachlegen kannst.«
Er saß schweigend da und nickte. Es stimmte, jedes Wort. Er war zu müde, zu geschlagen, um zu widersprechen. Das schien sie zu merken; ihr Gesicht entspannte sich wieder, und sie legte eine Hand auf seinen Arm.
»Wenn du sie erwischst, Larry, bin ich die erste, die mit Blumen kommt. Ich habe noch nie im Leben gegen jemanden Groll gehegt. Nur... versuch, nicht allzu enttäuscht zu sein.«
»Lucy...«
Ihre Stimme schwoll plötzlich an, rauh und mit unerwarteter Schärfe; einen Moment bekam Larry eine Gänsehaut. »Ich glaube nun einmal, daß Liebe sehr wichtig ist; nur Liebe kann uns helfen, dies alles zu überstehen, und gutes Einvernehmen, denn gegen uns steht Haß, schlimmer noch, Leere.« Ihre Stimme wurde wieder leiser. »Du hast recht. Es ist spät. Ich geh' wieder schlafen. Kommst du mit?«
»Ja«, sagte er, und als sie aufstanden, nahm er sie ohne Berechnung in die Arme und küßte sie fest. »Ich liebe dich, so sehr ich kann, Lucy.«
»Das weiß ich«, sagte sie und lächelte ihn müde an. »Das weiß ich, Larry.«
Diesmal wehrte sie sich nicht, als er den Arm um sie legte. Sie gingen gemeinsam ins Lager zurück, liebten sich zaghaft und schliefen ein.
Zwanzig Minuten nachdem Larry Underwood und Lucy Swann ins Lager zurückgekommen waren und zehn Minuten nach ihrem zögernden Liebesakt, als sie schon wieder schliefen, wachte Nadine wie eine Katze im Dunkeln auf.
Der schrille Ton des Entsetzens erklang in ihren Adern.
Jemand will mich, dachte sie und lauschte ihrem Herzschlag, der sich langsam normalisierte. Ihre Augen, weit aufgerissen und voll Dunkelheit, starrten nach oben, wo die überhängenden Zweige einer Ulme Schatten an den Himmel zeichneten. So ist es. jemand will mich. Es stimmt.
Aber... es ist so kalt.
Ihre Eltern und ihr Bruder waren bei einem Autounfall umgekommen, als sie sechs Jahre alt war; sie war an jenem Tag nicht mitgefahren, Onkel und Tante besuchen, sondern zu Hause geblieben, um mit ihrer Freundin zu spielen. Sie hatten ihren Bruder sowieso lieber gehabt, das wußte sie noch. Der Bruder war nicht so wie siegewesen, kein kleiner Wechselbalg, den sie im Alter von viereinhalb Monaten aus der Krippe eines Waisenhauses gestohlen hatten. Bruders Herkunft war klar. Bruder war - Fanfaren, bitte - ihr Eigenes. Aber Nadine hatte immer und ewig nur Nadine gehört. Sie war das Kind der Erde.
Nach dem Unfall zog sie zu Tante und Onkel, weil sie die einzigen Verwandten waren. In die White Mountains im Osten von New Hampshire. Sie konnte sich noch erinnern, wie die beiden an ihrem achten Geburtstag mit ihr in der Zahnradbahn auf den Mount Washington fuhren, sie in der Höhenluft Nasenbluten bekam und sie böse mit ihr gewesen waren. Tante und Onkel waren zu alt, sie waren Mitte Fünfzig gewesen, als sie sechzehn wurde, in dem Jahr, als sie unter dem Mond durch das taufeuchte Gras gerannt war - die Nacht des Weins, als Träume aus der dünnen Luft kondensierten wie die nächtliche Milch der Phantasie. Eine Liebesnacht. Und wenn der Junge sie eingeholt hätte, wäre sie bereit gewesen, ihm den Preis zu geben, den sie zu geben hatte, und was machte es schon aus, ob er sie einholte? Sie waren gerannt, war das nicht das wichtigste? Aber er hatte sie nicht eingeholt. Eine Wolke hate sich vor den Mond geschoben. Der Tau fühlte sich naßkalt, unangenehm und beängstigend an. Der Geschmack des Weins in ihrem Mund war sauer geworden. Eine Art Verwandlung hatte stattgefunden, ein Gefühl, daß sie warten sollte, warten mußte.