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»Es schadet aber, wenn du runterfällst und dir die Knochen brichst.«

Sie hatte Kopfschmerzen von der Hitze, die Cola, die sie zu Mittag getrunken hatte, schwappte ihr im Magen herum, daß ihr ganz übel wurde. »Das könnte sogar dein Ende sein.«

»Ich falle nicht«, sagte Harold nervös. Er sah sie an. »Fran, du siehst krank aus.«.

»Das macht die Hitze«, sagte sie schwach.

»Dann geh nach unten, um Gottes willen. Leg dich unter einen Baum. Beobachte die menschliche Fliege bei ihrem todesmutigen Akt an der zehnprozentigen Steilwand des Daches von Moses Richardsons Scheune.«

»Mach keine Witze. Ich halte es immer noch für albern. Und gefährlich.«

»Ja, aber ich werde mich wohler fühlen, wenn ich es tue. Geh nur, Fran.«

Sie dachte: Er tut es für mich.

Schwitzend und voll Angst stand er vor ihr, alte Spinnweben hingen an seinen feisten, nackten Schultern, sein Bauch fiel wie ein Wasserfall über den Gürtel der engen Jeans; er war entschlossen, nichts auszulassen, keinen Fehler zu machen.

Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn sacht auf den Mund.

»Sei vorsichtig«, sagte sie und ging dann hastig die Treppe hinunter, während die Cola in ihrem Bauch schwappte, schwipp-schwapp, iiiiiih; sie ging hastig, aber nicht so hastig, daß sie nicht seinen verblüfften und glücklichen Ausdruck gesehen hätte. Sie ging die genagelten Sprossen vom Heuschober zum strohbestreuten Scheunenboden so schnell hinunter, weil sie wußte, daß sie jetzt kotzen mußte, und sie wußte zwar, daß es an Hitze, Coke und dem Baby lag, aber was sollte Harold denken, wenn er es hörte? Sie wollte raus, wo er es nicht hören konnte. Und sie schaffte es. Gerade so.

Um Viertel vor vier kam Harold wieder vom Dach herunter, sein Sonnenbrand jetzt flammend rot, die Arme mit weißer Farbe bespritzt. Während er arbeitete, hatte Fran unruhig in Richardsons Vorgarten unter einer Ulme gelegen, ohne fest einzuschlafen, weil sie jeden Augenblick damit rechnete, das Krachen der Schindeln und Harolds Verzweiflungsschrei zu hören, wenn er achtzehn Meter tief vom Scheunendach auf den harten Boden stürzte. Aber dazu kam es nicht - Gott sei Dank -, und jetzt stand er stolz vor ihr - grasgrüne Füße, weiße Arme, rote Schultern.

»Warum hast du dir die Mühe gemacht und die Farbe mit runtergeschleppt?« fragte sie ihn neugierig.

»Ich wollte sie nicht da oben lassen. Sie könnte sich in der Hitze selbst entzünden, und dann wäre unser Schild weg.« Sie dachte wieder daran, wie entschlossen er war, keine Möglichkeit außer acht zu lassen. Es war fast ein wenig furchteinflößend. Sie sahen beide zum Scheunendach hinauf. Die weiße Farbe glänzte in scharfem Kontrast zu den verbliebenen grünen Schindeln, und die Worte, die er gemalt hatte, erinnerten Fran an die Aufschriften, die man im Süden manchmal auf Scheunendächern sah - JESUS RETTET UNS oder KAUEN SIE RED INDIAN. Harold hatte geschrieben:

SIND NACH STOVINGTON, VT. SEUCHENZENTRUM

US 1 NACH WELLS

INTERSTATE 95 NACH PORTLAND

US 302 NACH BARRE

INTERSTATE 89 NACH STOVINGTON

ABFAHRT VON OGUNQUIT AM 2. JULI 1990

HAROLD EMERY LAUDER

FRANCES GOLDSMITH

»Ich wußte deinen zweiten Namen nicht«, erklärte Harold.

»Sehr schön«, sagte Frannie, die immer noch die Aufschrift betrachtete.

Die erste Zeile hatte er dicht unter dem Dachfenster geschrieben, die letzte, ihren Namen, direkt über der Dachrinne. »Wie hast du denn die letzte Zeile gemalt?« fragte sie.

»Das war nicht schwer«, sagte er stolz. »Ich mußte nur die Füße ein wenig baumeln lassen, mehr nicht.«

»Oh, Harold. Warum hast du nicht nur deinen Namen geschrieben?«

»Aber wir sind doch ein Team«, sagte er und sah sie ein wenig ängstlich an. »Oder nicht?«

»Das sind wir... solange du dich nicht umbringst. Hast du Hunger?«

Er strahlte. »Wie ein Bär.«

»Dann wollen wir essen. Und ich werde dir etwas Baby-Öl auf deinen Sonnenbrand streichen. Du mußt dein Hemd anziehen, Harold. Du wirst heute nacht nicht schlafen können.«

»Ich werde sehr gut schlafen«, sagte er und lächelte sie an. Frannie lächelte zurück. Sie aßen aus Dosen und tranken Brause (Frannie machte sie-mit Zucker), und später, als es schon dunkel wurde, kam Harold mit etwas unter dem Arm zu Frannies Haus.

»Es hat Amy gehört«, sagte er. »Ich habe ihn auf dem Boden gefunden. Ich glaube, Mom und Dad haben ihn ihr geschenkt, als sie die High School abgeschlossen hat. Ich weiß nicht einmal, ob er noch funktioniert, aber ich habe aus dem Eisenwarengeschäft ein paar Batterien geholt.« Er schlug sich auf die Taschen, die mit Ever Ready-Batterien vollgestopft waren.

Es war ein tragbarer Plattenspieler mit Plastikdeckel, bestens geeignet für Strand- und Gartenparties von dreizehn- oder vierzehnjährigen Teenagern. Die Art Plattenspieler, die gedacht ist für Singles von den Osmonds, Leif Garrett, John Travolta, Shaun Cassidy. Sie sah ihn sich genau an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Nun«, sagte sie. »Wir können es ja versuchen.«

Er funktionierte. Und fast vier Stunden lang saßen sie da, jeder an einem Ende der Couch, der tragbare Plattenspieler auf dem Kaffeetisch vor ihnen, die Gesichter starr und bleich vor stummer und trauriger Faszination, und lauschten der Musik einer toten Welt, die durch die Sommernacht hallte.

37

Stu akzeptierte die Laute zunächst fraglos; sie waren solch ein typischer Teil eines hellen Sommermorgens. Er hatte gerade South Ryegate, New Hampshire, hinter sich gelassen, jetzt führte der Highway durch eine hübsche Landschaft überhängender Ulmen, die Münzen aus goldenem Sonnenlicht auf die Straße warfen. Auf beiden Seiten stand dichtes Gebüsch-leuchtender Sumach, blaugrauer Wacholder und viele Büsche, deren Namen er nicht kannte. Die Vielfalt war ein Wunder für seine Augen, die an den Osten von Texas gewöhnt waren, wo die Flora am Straßenrand bei weitem nicht so mannigfaltig war. Links verlief eine alte Steinmauer mäanderförmig durch das Gebüsch, und rechts plätscherte ein kleiner Bach fröhlich nach Osten. Hin und wieder huschten kleine Tiere durch das Unterholz (gestern hatte ihn der Anblick einer großen Hirschkuh verzaubert, die auf dem weißen Mittelstreifen der 302. stand und die Morgenluft einzog), und er konnte rauhe Vogelschreie hören. Gegen den Hintergrund dieser Geräusche schien der bellende Hund ganz natürlich zu sein.

Er ging noch fast eine Meile, bis ihm einfiel, daß der Hund - wie es sich anhörte - vielleicht doch etwas Ungewöhnliches sein mochte. Seit er Stovington verlassen hatte, hatte er viele tote Hunde gesehen, aber keine lebenden. Nun, dachte er sich, die Grippe hatte die meisten Menschen umgebracht, aber nicht alle. Offenbar hatte sie auch die meisten Hunde umgebracht, aber nicht alle. Das Tier mußte inzwischen äußerst menschenscheu geworden sein. Wenn es ihn witterte, würde es wahrscheinlich ins Gebüsch zurückkriechen und hysterisch bellen, bis Stu sein Revier wieder verlassen hatte. Stu zog die Riemen seines Rucksacks an und faltete die Taschentücher neu zusammen, die er auf jeder Schulter unter den Riemen hatte. Er trug ein Paar Georgia Giants, aber nach drei Tagen Fußmarsch sahen sie nicht mehr neu aus. Auf dem Kopf trug er einen eleganten roten Filzhut mit breiter Krempe und über der Schulter einen Armeekarabiner. Er rechnete nicht damit, daß er auf Wegelagerer stoßen würde, hatte aber die vage Idee gehabt, ein Gewehr könnte nützlich sein. Vielleicht wegen Frischfleisch. Nun, gestern hatte er Frischfleisch gesehen, noch auf Hufen, war allerdings viel zu überrascht und erstaunt gewesen, um überhaupt ans Schießen zu denken.

Der Rucksack trug sich wieder bequemer, und Stu ging weiter die Straße entlang. Der Hund hörte sich an, als wäre er gleich hinter der nächsten Kurve. Vielleicht sehe ich ihn doch, dachte Stu. Er hatte die 302 Richtung Osten gewählt, weil er annahm, daß sie ihn früher oder später zum Meer führen würde. Er hatte eine Art Abmachung mit sich selbst getroffen: Wenn ich das Meer erreiche, überlege ich mir, was ich tun werde. Bis dahin werde ich überhaupt nicht darüber nachdenken. Sein Fußmarsch - heute war der vierte Tag - war eine Art Heilungsprozeß. Er hatte daran gedacht, sich ein Fahrrad mit zehn Gängen oder vielleicht ein Motorrad zu beschaffen, damit hätte er die vereinzelten Unfallstellen umfahren können, die die Straße versperrten, aber er hatte sich statt dessen entschlossen, zu Fuß zu gehen. Er war schon immer gern gewandert, und sein Körper schrie nach Betätigung. Vor seiner Flucht aus Stovington war er fast zwei Wochen lang eingesperrt gewesen, er fühlte sich schlapp und außer Form. Früher oder später, dachte er, würde ihn die langsame Art der Fortbewegung ungeduldig machen, und er würde sich ein Fahrrad oder Motorrad besorgen, aber vorläufig war er damit zufrieden, auf dieser Straße nach Osten zu gehen, alles zu sehen, was er sehen wollte, eine Pause zu machen, wann immer er Lust dazu hatte, und nachmittags, wenn es besonders heiß war, ein wenig zu schlafen. Das tat ihm gut. Ganz allmählich war seine verrückte Suche nach einem Ausgang zur bloßen Erinnerung geworden, zu etwas Vergangenem, nichts Deutlichem mehr, das ihm kalten Schweiß heraustrieb. Die Erinnerung an das Gefühl, daß ihn jemand verfolgte, war nicht so leicht abzuschütteln gewesen. In den ersten beiden Nächten auf der Straße hatte er immer wieder von seiner letzten Begegnung mit Eider geträumt, als Eider gekommen war, um seine Befehle auszuführen. Im Traum war Stu immer zu langsam mit dem Stuhl. Eider wich dem Schlag aus, drückte die Pistole ab, und Stu spürte einen harten, aber schmerzlosen Schlag mit einem Boxhandschuh voll Bleischrot auf der Brust. Davon träumte er immer wieder, bis er morgens unausgeschlafen aufwachte, aber so froh war, noch zu leben, daß es ihm gar nichts ausmachte. Letzte Nacht hatte er keine Träume gehabt. Er bezweifelte, ob seine Ängste alle mit einem Mal aufhören würden, aber er hoffte, daß er durch das Wandern das Gift allmählich aus dem Körper bekommen würde. Vielleicht würde er es nie wieder völlig loswerden, aber er war sicher, wenn der Großteil weg war, würde er besser darüber nachdenken können, was als nächstes kam, ob er das Meer bis dahin erreicht hatte oder nicht.

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