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Er konnte es sich ohne große Mühe einigermaßen zusammenreimen. Irgendwie mußte sie herausgefunden haben, dass er ihr Tagebuch gelesen hatte. Er mußte auf einer Seite einen Schmutzfleck oder Fingerabdruck hinterlassen haben... vielleicht mehr als einen. Deshalb war sie in sein Haus gekommen, um nach einem Hinweis zu suchen, was er über das dachte, was er gelesen hatte. Etwas Schriftlichem.

Da war natürlich sein Hauptbuch. Aber er war sicher, daß sie es nicht gefunden hatte. In seinem Hauptbuch stand schwarz auf weiß, daß er Stuart Redman töten wollte. Wenn sie das gelesen hätte, hätte sie es Stu gesagt. Und selbst wenn sie es ihm nicht gesagt hätte, es wäre ihr unmöglich gewesen, so normal und unbefangen mit ihm zu reden wie gestern.

Er aß die letzte Tarte, verzog das Gesicht, als er auf den kalten Überzug und die noch kältere Marmeladenfüllung biß. Er beschloß, nicht das Motorrad zu nehmen, sondern zu Fuß zum Busbahnhof zu gehen; Teddy Weizak und Norris konnten ihn abends auf dem Heimweg absetzen. Er ging los und zog den Reißverschluß der leichten Jacke ganz hoch gegen die Kälte, die in spätestens einer Stunde vorbei sein würde. Er ging an den leeren Häusern mit den heruntergelassenen Jalousien vorbei, und als er auf der Arapahoe ungefähr sechs Blocks weit gegangen war, sah er an einer Tür nach der anderen ein kühnes X aus Kreide. Wieder sein Einfall. Der Beerdigungstrupp hatte alle Häuser überprüft, die mit einem X markiert waren, und die Leichen weggeschafft, die es wegzuschaffen gab. X, ein Durchstreichen. Die Menschen, die in den Häusern gewohnt hatten, wo das Zeichen auftauchte, waren für alle Zeiten fort. Noch ein Monat, dann würde das X überall in Boulder sein und das Ende eines Zeitalters kennzeichnen.

Es war Zeit, nachzudenken, und zwar gründlich nachzudenken. Ihm schien, als hätte er ganz einfach aufgehört zu denken, seit Nadine zu ihm gekommen war... aber vielleicht hatte er ja schon lange vorher damit aufgehört.

Ich habe ihr Tagebuch gelesen, weil ich gekränkt und eifersüchtig war, dachte er. Dann ist sie in mein Haus eingebrochen und hat wahrscheinlich meinTagebuch gesucht, aber sie hat es nicht gefunden. Aber allein der Schock, daß jemand eingebrochen war, war Rache genug. Jedenfalls hatte es ihm gehörig zu schaffen gemacht. Vielleicht waren sie jetzt quitt.

Er wollte Frannie nicht mehr, oder?... Oder?

Er spürte, wie die heiße Glut der Zurückweisung in seiner Brust brannte. Vielleicht nicht. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß man ihn ausgeschlossen hatte. Nadine hatte sich nicht weiter darüber geäußert, warum sie zu ihm gekommen war, aber Harold vermutete, daß auch sie irgendwie ausgeschlossen worden war, zurückgewiesen, mißachtet. Sie waren zwei Außenseiter, und Außenseiter schmieden Komplotte. Vielleicht ist das das einzige, was ihnen den Verstand erhält. ( Vergiß nicht, das in das Hauptbuch zu schreiben, dachte Harold... er war jetzt fast in der Innenstadt.) Auf der anderen Seite der Berge gab es eine ganze Gesellschaft von Außenseitern. Und wo genügend Außenseiter an einem Ort zusammenkommen, findet eine mystische Osmose statt, und man ist drinnen. Drinnen, wo es warm ist.

Eine kleine Sache, drinnen zu sein, wo es warm ist, und doch so ungemein wichtig. Die wichtigste Sache der Welt.

Vielleicht wollte er gar nicht quitt sein. Vielleicht wollte er kein Unentschieden, keine Karriere auf diesem Leichenkarren des zwanzigsten Jahrhunderts und keine sinnlosen Dankesbriefe für seine Ideen und nicht fünf Jahre lang darauf warten, daß Bateman von dem wunderbaren Komitee zurücktrat und er reinkonnte... und wenn sie beschlossen, ihn wieder zu übergehen? Vielleicht hatten sie das vor, schließlich war es nicht eine Frage des Alters. Den verfluchten Taubstummen hatten sie genommen, und der war nur ein paar Jahre älter als Harold selbst.

Die Glut der Zurückweisung loderte jetzt hell. Denken, klar, denken - das war leicht gesagt und manchmal leicht getan... aber was nützte alles Denken, wenn man von den Neandertalern, die die Welt regierten, nur wieherndes Gelächter erntete oder, noch schlimmer, einen Dankesbrief?

Er kam zum Busbahnhof. Es war früh, noch keiner war da. An der Tür hing ein Plakat, auf dem stand, daß am fünfundzwanzigsten wieder eine öffentliche Versammlung stattfinden sollte. Öffentliche Versammlung? Öffentlicher Lachschlager.

Der Warteraum war mit Touristikplakaten und Werbung für den Greyhound-Ameripass und Bildern von großen Ausflugsbussen voll Muttchen, die bei Kaffeefahrten durch Atlanta und New Orleans und San Francisco und Nashville und wo auch immer kreuzten, geschmückt. Er setzte sich und sah mit dunklem Morgenblick auf die Flippergeräte, den Cola-Automaten und die Kaffeemaschine, aus der man einen Becher Lipton O'Soup bekommen konnte, der ungefähr wie toter Fisch schmeckte. Er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Fußboden.

Sie hatten die Verfassung angenommen. Juhuuh. Wie ausgesprochen und ganz überaus. Herrgott, sie hatten sogar die »Star-Spangled Banana« gesungen. Was aber, wenn Harold Lauder aufgestanden wäre, nicht etwa, um ein paar konstruktive Vorschläge zu machen, sondern um ihnen in diesem ersten Jahr nach der Seuche zu sagen, worum es eigentlich ging?

Ladies and Gentlemen, mein Name ist Harold Emery Lauder, und ich stehe hier, um Ihnen zu sagen, daß, mit den Worten des alten Liedes, die grundsätzlichen Dinge immer noch gelten, auch wenn sieb die Zeiten ändern. Wie Darwin. Wenn Sie das nächste Mal aufstehen, um die Nationalhymne zu singen, Freunde und Nachbarn, dann denken Sie doch bitte daran: Amerika ist tot, mausetot, so tot wie Jacob Marley und Buddy Holly und die Big Poppers und Harry S. Truman, aber die Prinzipien, die Mr. Darwin als erster zu bedenken gegeben hat, sind immer noch sehr lebendig - so lebendig wie der Geist von Jacob Marley für Ebenezer Scrooge. Während Sie über die Schönheit einer konstitutionellen Regierung meditieren, nehmen Sie sich doch auch ein wenig Zeit, über Randall Flagg nachzudenken, den Mann des Westens. Ich bezweifle sehr, ob er für Lächerlichkeiten wie öffentliche Versammlungen und Notifizierungen und Diskussionen über die wahre Bedeutung eines Pfirsichs Zeit hat, alles nach bester liberaler Sitte. Statt dessen hat er sich auf die grundsätzlichen Dinge konzentriert, auf seinen Darwin und darauf, den großen Tisch des Universums mit euren Leichen abzuwischen. Ladies and Gentlemen, darf ich ganz bescheiden daran erinnern, daß er, während wir versuchen, das Licht wieder anzuschalten und darauf warten, daß sich ein Arzt in unseren fröhlichen kleinen Bienenstock verirrt, nach jemandem sucht, der einen Pilotenschein hat, damit er in bester Tradition eines Francis Gary Powers Boulder überfliegen kann. Während wir die brennende Frage diskutieren, wer wohl in das Straßenreinigungskomitee gewählt werden sollte, hat er wahrscheinlich schon ein Waffenreinigungs-Komitee gegründet, von Mörsern, Raketenbasen und möglicherweise sogar biologischen Waffen ganz zu schweigen, die ja auch zu den Dingen gehören, die dieses Land groß gemacht haben - welches Land, ha-ha-ha -, aber Sie sollten immerhin daran denken, daß er, während wir hier eine Wagenburg errichten ...«

»He, Hawk, machst du Überstunden?«

Harold sah lächelnd hoch. »Ja, ich habe mir gedacht, ich mach' ein bißchen Moos«, sagte er zu Weizak. »Ich habe auch für dich gestempelt, als ich hier war. Du hast schon sechs Dollar verdient.«

Weizak lachte. »Du bist vielleicht ein Kerl, Hawk, weißt du das?«

»Bin ich«, stimmte Harold immer noch lächelnd zu. Er schnürte sich die Stiefel neu. »Ein Teufelskerl.«

56

Stu verbrachte den nächsten Tag im Kraftwerk, wickelte Motoren und fuhr nach der Arbeit mit dem Motorrad nach Hause. Er war bei dem kleinen Park gegenüber der First National Bank, als Ralph ihn zu sich winkte. Er stellte das Motorrad ab und ging zum Musikpavillon, wo Ralph saß.

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