Das Kaninchen war fertig. Er brach es in zwei Hälften. Er riß ihre Hälfte in kleine Stückchen, wie Babynahrung. Er fütterte ihr ein Stück nach dem anderen. Manche Stückchen fielen ihr halb gekaut aus dem Mund in den Schoß, aber den größten Teil aß sie. Wenn sie so blieb, brauchte sie eine Krankenschwester. Vielleicht Jenny Engstrom.
»Es war sehr gut, Liebste«, sagte er leise.
Sie sah mit leeren Augen zum Mond hinauf. Flagg lächelte ihr zärtlich zu und verschlang sein Hochzeitsmahl.
Guter Sex machte ihn immer hungrig.
Er erwachte in der zweiten Nachthälfte und richtete sich verwirrt und voller Angst in seinem Schlaf sack auf... es war die instinktive, unwissende Angst eines Tieres - eines Raubtiers, das spürt, daß es vielleicht selbst gejagt wird.
War es ein Traum gewesen? Eine Vision...?
Sie kommen.
Erschrocken versuchte er, diesen Gedanken zu begreifen, ihn in einen Zusammenhang zu bringen. Aber es gelang ihm nicht. Er schwebte wie ein böser Zauber im Raum.
Sie sind schon näher.
Wer? Wer war schon näher?
Der Nachtwind flüsterte und schien ihm eine Witterung zuzutragen. Jemand kam und...
Jemand ging.
Während er schlief, war jemand in östlicher Richtung an seinem Lager vorbeigegangen. Der unbekannte Dritte? Er wußte es nicht. Es war Vollmondnacht. War der Dritte entkommen? Dieser Gedanke versetzte ihn in Panik.
Ja, aber wer kommt?
Er betrachtete Nadine. Sie schlief in Embryohaltung zusammengerollt, die Haltung, die sein Sohn in wenigen Monaten in ihrem Bauch einnehmen würde.
Sind es Monate?
Wieder hatte er das Gefühl, daß die Dinge an den Rändern unscharf wurden. Er legte sich wieder hin und glaubte, in dieser Nacht nicht mehr schlafen zu können. Aber er schlief doch. Und als er am nächsten Morgen nach Las Vegas fuhr, lächelte er wieder und hatte die nächtliche Panik fast vergessen. Nadine saß fügsam neben ihm auf dem Sitz, eine große Puppe mit einem sorgfältig in ihrem Leib verborgenen Samen.
Er fuhr zum Grand; dort erfuhr er, was geschehen war, während er schlief. Er sah den neuen Ausdruck in ihren Augen, argwöhnisch und fragend, und spürte wieder, wie ihn die Angst mit ihren leichten Mottenflügeln berührte.
66
Etwa zu der Zeit, als Nadine ein paar Einsichten kamen, die eigentlich auf der Hand hätten liegen sollen, saß Lloyd Henreid allein in der Cub Bar, spielte Big Clock Solitaire und mogelte. Er war gereizt. An diesem Tag war es in Indian Springs zu einem Brand gekommen, ein Toter, drei Verletzte, und davon würde einer mit Sicherheit an den Brandwunden sterben. Sie hatten niemand in Vegas, der solche Verletzungen behandeln konnte.
Carl Hough hatte die Nachricht überbracht. Er hatte eine extreme Stinklaune gehabt und war nicht der Mann, den man leicht nahm. Vor der Seuche war er Pilot bei Ozark Airlines gewesen, davor bei den Marines, und er hätte Lloyd mit einer Hand in zwei Hälften brechen und gleichzeitig mit der anderen einen Daiquiri mixen können, wenn er gewollt hätte. Carl behauptete, daß er im Verlauf seiner langen und aufregenden Karriere mehrere Menschen getötet hatte, und Lloyd war geneigt, ihm zu glauben. Nicht, daß Lloyd körperlich Angst vor Carl Hough gehabt hätte; der Pilot war groß und stark, hatte aber wie alle anderen im Westen einen Heidenrespekt vor dem Wandelnden Gecken, und Lloyd trug immerhin Flaggs Amulett. Aber er war einer ihrer Piloten, und aus diesem Grund mußte er diplomatisch behandelt werden. Und seltsamerweise war Lloyd Diplomat. Seine Referenzen waren schlicht, aber ehrfurchtgebietend: Er hatte mehrere Wochen mit einem Wahnsinnigen namens Poke Freeman verbracht und überlebt. Außerdem verbrachte er schon diverse Wochen mit Randall Flagg und atmete immer noch und war bei klarem Verstand.
Carl war am 12. September gegen zwei Uhr eingetroffen und hatte den Motorradhelm unter dem rechten Arm gehalten. Auf der linken Wange hatte er häßliche Brandwunden und Blasen an der Hand. Ein Feuer war ausgebrochen. Schlimm, aber nicht so schlimm, wie es hätte werden können. Ein Tanklastwagen war explodiert, brennendes Benzin war über den ganzen Asphalt verspritzt worden.
»Gut«, hatte Lloyd gesagt. »Ich werde zusehen, daß der Boß es erfährt. Sind die Verletzten im Krankenhaus?«
»Ja, sind sie. Ich glaube nicht, daß Freddy Campanari den Sonnenuntergang noch erleben wird. Bleiben zwei Piloten, ich und Andy. Sag ihm das, und sag ihm noch etwas, wenn er zurückkommt. Ich will, daß dieser Wichser von Mülleimermann verschwindet. Das ist meine Bedingung, wenn ich bleiben soll.«
Lloyd sah Carl Hough an. »Wirklich?«
»Ich hab's doch eben gesagt.«
»Dann will ich dir jetzt was sagen, Carl«, antwortete Lloyd. »Ich kann ihm diese Nachricht nicht überbringen. Wenn du ihm Befehle erteilen willst, mußt du es selbst machen.«
Carl wirkte plötzlich unsicher und ängstlich. Angst nahm sich in seinem harten Gesicht seltsam aus. »Ich weiß, was du meinst. Ich bin nur müde und hab' die Schnauze voll, Lloyd. Mein Gesicht tut höllisch weh. Aber das will ich nicht an dir auslassen.«
»Schon gut, Mann. Dazu bin ich da.« Manchmal wünschte er sich, daß es nicht so wäre. Er hatte schon wieder Kopfschmerzen. Carl sagte: »Aber er muß weg. Wenn ich es dem Boß sagen muß, werde ich es. Ich weiß, daß er einen dieser schwarzen Steine hat. Der Boß muß viel von ihm halten. Aber hör zu.« Carl setzte sich und legte den Helm auf einen Backarat-Tisch. »Müll war für das Feuer verantwortlich. Mein Gott, wie sollen wir je die Maschinen in die Luft bringen, wenn einer von den Männern vom Boß die verdammten Piloten verbrennt?«
Einige Leute, die durch das Foyer des Grand gingen, warfen besorgte Blicke zu dem Tisch, wo Lloyd und Carl saßen.
»Nicht so laut, Carl.«
»Okay. Aber du siehst das Problem, oder nicht?«
»Bist du ganz sicher, daß es Müll war?«
»Hör zu«, sagte Carl und beugte sich nach vorne, »er war im Fahrzeuglager. Er war lange dort. Viele haben ihn gesehen, nicht nur ich.«
»Ich dachte, er wäre irgendwo draußen. In der Wüste. Du weißt ja, nach Material suchen.«
»Nun, er ist zurückgekommen, klar? Sein Geländewagen war voller Material. Gott weiß vielleicht, wo er es hernimmt, ich nicht. Nun, während der Kaffeepause hat er den Leuten alles vorgeführt. Du weißt ja, wie er ist. Waffen sind für ihn das, was Süßigkeiten für ein Kind sind.«
»Ja.«
»Als letztes hat er uns eine Brandbombenzündschnur gezeigt. Man zieht am Riemen, und eine kleine Phosphorflamme fängt an zu brennen. Dann eine halbe Stunde oder vierzig Minuten nichts, je nachdem, wie lang die Zündschnur ist, klar? Kapiert? Und dann ein Höllenfeuer. Klein, aber heiß.«
»Ja.«
»Also gut. Müll zeigt es uns und sabbert förmlich über dem Ding, und Freddy Campanari sagt: >He, Leute, die mit Feuer spielen, sind Bettnässer, Müll.< Und Steve Tobin - du kennst ihn ja, der ist komischer als eine Gummikrücke -, der sagt: >Jungs, ihr solltet lieber die Streichhölzer verstecken, Mülli ist wieder in der Stadt.< Und Müll ist echt unheimlich geworden. Er hat uns alle angesehen und leise gemurmelt. Ich habe gleich neben ihm gesessen und glaube, er hat gesagt: >Fragt mich jetzt bloß nicht noch nach dem Rentenscheck der alten Oma Semple.< Kapierst du das?«
Lloyd schüttelte den Kopf. Er kapierte überhaupt nichts, wenn es um den Mülleimermann ging.
»Dann ist er einfach gegangen. Hat das Zeug genommen, das er uns gezeigt hat, und weg war er. Nun, uns war allen nicht wohl in unserer Haut. Wir wollten seine Gefühle nicht verletzen. Die meisten Jungs mögen Müll wirklich. Oder haben es. Er ist wie ein Kind, weißt du?«
Lloyd nickte.
»Eine Stunde später geht der verdammte Tanklaster hoch wie eine Rakete. Und während wir die Trümmer einsammeln, sehe ich hoch, und da ist Müll in seinem Geländewagen bei den Baracken und sieht mit dem Fernglas zu uns herüber.«