Stu sagte nichts. Er war fassungslos.
»Aber ich bin nicht hergekommen, um Ihnen zu drohen. Wir sind dringend auf Ihre Mithilfe angewiesen, Mr. Redman. Wir brauchen Sie.«
»Wo sind die anderen Leute, die mit mir hergebracht wurden?«
Deitz zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Victor Palfrey, verstorben. Norman Bruett, Robert Bruett, verstorben. Thomas Wannamaker, verstorben. Ralph Hodges, Bert Hodges, Cheryl Hodges, verstorben. Christian Ortega, verstorben. Anthony Leominster, verstorben.«
Die Namen wirbelten in Stus Kopf. Chris, der Barkeeper. Er hatte immer eine abgesägte Louisville-Schrotflinte unter dem Tresen gehabt, und der Trucker, der glaubte, Chris würde die im Notfall nicht benützen, hätte eine böse Überraschung erleben können. Tony Leominster, der den großen International mit dem Cobra-CB unter dem Armaturenbrett fuhr. Saß manchmal in Haps Tankstelle herum, aber am Abend, als Campion die Pumpen umgemäht hatte, war er nicht dort gewesen. Vic Palfrey... mein Gott, er hatte Vic sein Leben lang gekannt. Wie konnte Vic tot sein? Aber was ihn am schwersten traf, war die Familie Hodges.
» Alle?« hörte er sich sagen. »Ralphs ganze Familie?«
Deitz drehte das Blatt um. »Nein, da ist noch ein kleines Mädchen. Eva. Vier Jahre alt. Sie lebt.«
»Und wie geht es ihr?«
»Tut mir leid, das ist geheim.«
Wut durchfuhr ihn, mit der ganzen Unerwartetheit einer freudigen Überraschung. Er sprang auf, packte Deitz am Kragen und schüttelte ihn. Aus den Augenwinkeln sah er erschrockene Bewegungen hinter den Doppelscheiben. Schwach, durch Entfernung und nahezu schalldichte Wände gedämpft, hörte er eine Sirene aufheulen.
»Was habt ihr gemacht?« brüllte er. »Was habt ihr nur gemacht? Um Gottes willen, was habt ihr gemacht?«
»Mr. Redman -«
»Hm? Zum Teufel, was habt ihr gemacht?«
Die Tür ging zischend auf. Drei große Männer in olivgrünen Uniformen kamen herein. Sie trugen Nasenfilter.
Deitz starrte sie an und fauchte: »Machen Sie, daß Sie rauskommen!«
Die drei Männer blieben unentschlossen stehen.
» Unsere Befehle...«
»Raus hier, dasist ein Befehl!«
Sie zogen sich zurück. Deitz setzte sich ruhig aufs Bett. Sein Kragen war zerknittert, das Haar hing ihm in die Stirn. Das war alles. Er sah Stu ruhig, beinahe gleichgültig an. Einen wilden Augenblick überlegte Stu, ihm den Nasenfilter herunterzureißen; aber dann dachte er an Geraldo, was für ein dummer Name für ein Meerschweinchen. Dumpfe Verzweiflung kam über ihn wie ein kalter Wasserguß. Er setzte sich.
»Jesus, steh mir bei«, murmelte er.
»Hören Sie zu«, sagte Deitz. »Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass Sie hier sind. Auch Denninger nicht oder die Schwestern, die Ihren Blutdruck messen wollen. Wenn es einen Verantwortlichen gibt, dann Campion, aber wir können auch ihm nicht alles anhängen. Er ist weggelaufen; aber unter den Umständen hätte ich das vielleicht auch getan. Ein technischer Fehler hat ihm die Flucht ermöglicht. Die Situation ist nun mal eingetreten. Wir versuchen, damit fertig zu werden, wir alle. Aber deshalb sind wir noch lange nicht dafür verantwortlich.«
»Wer dann?«
.»Niemand«, sagte Deitz und lächelte. »In diesem Fall erstreckt sich die Verantwortlichkeit in so viele Richtungen, daß sie unsichtbar ist. Es war ein Unfall. Er hätte auf jede erdenkliche Weise geschehen können.«
»Schöner Unfall«, sagte Stu beinahe flüsternd. »Was ist mit den anderen? Hap und Hank Carmichael und Lila Bruett? Ihrem Sohn Luke? Monty Sullivan -«
»Geheim«, sagte Deitz. »Wollen Sie mich noch mal schütteln? Wenn Sie sich dann besser fühlen, schütteln Sie.«
Stu sagte nichts, aber der Blick, mit dem er Deitz ansah, veranlaßte diesen plötzlich, den Kopf zu senken und nervös an den Bügelfalten zu zupfen.
»Sie leben«, sagte Deitz, »und irgendwann sehen Sie sie vielleicht wieder.«
»Was ist mit Arnette?«
»Unter Quarantäne.«
»Wer ist dort gestorben?«
»Niemand.«
»Sie lügen.«
»Tut mir leid, daß Sie das denken.«
»Wann komme ich hier raus?«
»Das weiß ich nicht.«
»Geheim?« fragte Stu verbittert.
»Nein, nur unbekannt. Sie scheinen diese Krankheit nicht zu haben. Wir wollen wissen, warum nicht. Dann ist die Sache erledigt.«
»Kann ich mich rasieren? Es juckt.«
Deitz lächelte. »Wenn Sie Denninger gestatten, mit seinen Untersuchungen fortzufahren, werde ich einen Pfleger schicken, der Sie auf der Stelle rasiert.«
»Das kann ich selbst. Seit ich fünfzehn war.«
Deitz schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich glaube nicht.«
Stu lächelte ihn trocken an. »Haben Sie Angst, ich würde mir die Kehle durchschneiden ?«
»Sagen wir einfach...«
Stu unterbrach ihn mit hartem, trockenem Husten. So schlimm, dass er sich krümmte.
Das hatte auf Deitz eine elektrisierende Wirkung. Er schoß vom Bett hoch und zur Luftschleuse, ohne daß seine Füße den Boden zu berühren schienen. Dann kramte er in der Tasche nach dem Vierkantschlüssel und rammte ihn ins Schloß.
»Nicht nötig«, sagte Stu lächelnd. »Das war nur getürkt.«
Deitz drehte sich langsam um. Jetzt hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. Die Lippen waren wütend zusammengekniffen, die Augen stechend.
»Das war was?«
»Vorgetäuscht«, sagte Stu. Sein Lächeln wurde breiter. Deitz ging unsicher zwei Schritte auf ihn zu. Er ballte die Fäuste, öffnete sie und ballte sie wieder. »Aber warum? Warum machen Sie das?«
»Tut mir leid«, sagte Stu lächelnd. »Das ist geheim.«
»Sie beschissener Hurensohn«, sagte Deitz mit leisem Staunen.
»Gehen Sie. Gehen Sie raus und sagen Sie den anderen, daß sie mit ihren Untersuchungen fortfahren können.«
In dieser Nacht schlief er so gut wie seit seiner Einlieferung nicht mehr. Und er hatte einen äußerst lebhaften Traum. Er hatte schon immer viel geträumt - seine Frau hatte sich beschwert, daß er im Schlaf um sich schlug und murmelte -, aber so einen Traum hatte er noch nie gehabt.
Er stand am Rande einer Landstraße, genau an der Stelle, wo der schwarze Asphalt von weißem Sand abgelöst wurde. Eine sengende Sommersonne schien vom Himmel. Zu beiden Seiten der Straße wuchs grüner Mais, und die Felder erstreckten sich endlos. Da war ein Wegeschild, aber es war staubig, und er konnte es nicht lesen. In der Ferne das rauhe Krächzen von Raben. In der Nähe spielte jemand akustische Gitarre, Fingerpicking. Auch Vic Palfrey hatte das Fingerpicking beherrscht, es hörte sich gut an.
Hier sollte ich herkommen, dachte Stu verschwommen. Ja, das ist der Ort.
Welches Lied war das? »Beautiful Zion«? »The Fields of My Father's Home« ? »Sweet Bye and Bye« ? Ein Gospelsong, den er noch aus seiner Kindheit kannte, etwas, das er mit Inbrunst und PicknickAusflügen assoziierte. Aber er wußte das Lied nicht mehr. Plötzlich verstummte die Musik. Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Er bekam Angst. Er hatte das Gefühl, daß etwas Schreckliches in der Nähe war, etwas viel Schlimmeres als Pest oder Feuer oder Erdbeben. Etwas war in diesem Maisfeld und beobachtete ihn. Etwas Dunkles lauerte im Mais.
Er schaute, und er sah zwei glühende rote Augen tief im Schatten. Diese Augen lahmten ihn und erfüllten ihn mit dem hoffnungslosen Entsetzen, das ein Huhn vor einem Wiesel empfindet. Er, dachte Stu. Der Mann ohne Gesicht. O lieber Gott. O lieber Gott, nein.
Dann verblaßte der Traum, und er erwachte mit einem Gefühl der Verwirrung, Beunruhigung und Erleichterung. Er ging ins Bad und dann ans Fenster. Er sah zum Mond hinauf. Er ging wieder ins Bett, aber es dauerte eine Stunde, bis er wieder einschlafen konnte. Die riesigen Maisfelder, dachte er schläfrig. Muß lowa oder Nebraska gewesen sein, oder vielleicht das nördliche Kansas. Aber dort war er noch nie im Leben gewesen.
14
Es war Viertel vor zwölf. Die Dunkelheit draußen drückte gleichmäßig gegen das winzige Fenster. Deitz saß allein in seinem Bürokabuff, hatte die Krawatte aufgezogen und den Kragenknopf geöffnet. Die Füße hatte er auf dem unpersönlichen Metallschreibtisch liegen, und er hielt ein Mikrofon in der Hand. Auf dem Schreibtisch drehten sich die Spulen eines alten WollensakTonbands unablässig.