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Im Kielwasser der Supergrippe-Epidemie folgte eine zweite Epidemie, die ungefähr zwei Monate dauerte. Diese Epidemie war in technologischen Gesellschaften wie den Vereinigten Staaten weit verbreitet, weniger dagegen in unterentwickelten Ländern wie Peru oder Senegal. In den USA raffte diese zweite Epidemie etwa sechzehn Prozent der Überlebenden der Supergrippe dahin. In Peru und Senegal nicht mehr als drei Prozent. Die zweite Epidemie hatte keinen Namen, weil die Symptome von Fall zu Fall grundverschieden waren. Ein Soziologe wie Glen Bateman hätte diese zweite Epidemie vielleicht »natürlichen Tod« genannt oder »den alten Unfallaufnahme-Nachklapp«. Im streng darwinistischen Sinn war es der letzte Schnitt - der schlimmste Schnitt von allen, hätten manche vielleicht gesagt.
Sam Tauber war fünfeinhalb Jahre alt. Seine Mutter war am 24. Juni im General Hospital von Murfreesboro, Georgia, gestorben. Am 25. starben sein Vater und seine kleine Schwester, die zwei Jahre alte April. Am 27. starb sein ältester Bruder Mike, und damit war Sam sich selbst überlassen.
Sam war seit dem Tod seiner Mutter im Schock. Er irrte gleichgültig durch die Straßen von Murfreesboro, aß, wenn er Hunger hatte, und weinte manchmal. Nach einer Weile hörte er auf zu weinen, weil es nichts nützte zu weinen. Es brachte die Menschen nicht zurück. Nachts wurde sein Schlaf von gräßlichen Alpträumen unterbrochen, in denen Papa, April und Mike immer wieder starben; ihre Gesichter waren schwarz und aufgedunsen, und sie hatten alle ein schlimmes Rasseln in der Brust, während sie an ihrem eigenen Rotz erstickten. Am Morgen des 2. Juli um Viertel vor zehn verirrte sich Sam in ein Gebüsch mit wilden Brombeeren hinter Hattie Reynolds' Haus. Geistesabwesend und mit leeren Augen ging er im Zickzack um Brombeersträucher herum, die fast zweimal so hoch waren wie er, und pflückte Beeren und aß sie, bis Lippen und Kinn schwarz verschmiert waren. Dornen rissen an seiner Kleidung und manchmal der bloßen Haut, aber er merkte es kaum. Bienen summten träge um ihn herum. Er sah die alte und verfaulte Brunnendeckplatte nicht, die halb unter hohem Gras und Brombeerranken verborgen war. Sie gab mit einem knirschenden, splitternden Krachen unter seinen Füßen nach, Sam stürzte sechs Meter tief den gemauerten Schacht hinunter auf den trockenen Grund, wo er sich beide Arme brach. Er starb vierundzwanzig Stunden später an Angst und Elend ebenso wie an Schock, Hunger und Wassermangel.
Irma Fayette lebte in Lodi, Kalifornien. Sie war alleinstehend, sechsundzwanzig Jahre alt, Jungfrau und von morbider Angst vor einer Vergewaltigung erfüllt. Seit dem 23. Juni, als es in der Stadt zu Plünderungen gekommen war und keine Polizei mehr da war, um den Plünderern Einhalt zu gebieten, war ihr Leben ein einziger langer Alptraum geworden. Irma besaß ein kleines Haus in einer Seitenstraße; ihre Mutter hatte mit ihr dort gewohnt, bis sie 1985 an einem Schlaganfall gestorben war. Als die Plünderungen begannen, die Schüsse und das gräßliche Grölen betrunkener Männer, die auf Motorrädern die Hauptstraße entlang fuhren, hatte Irma sämtliche Türen abgeschlossen und sich dann in der Rumpelkammer im Keller versteckt. Seither schlich sie regelmäßig nach oben, mucksmäuschenstill, um etwas zu essen zu holen oder sich zu erleichtern.
Irma konnte die Menschen nicht ausstehen. Wenn alle auf der Welt gestorben wären, außer ihr, wäre sie darüber nicht unglücklich gewesen. Aber so war es nicht. Erst gestern, als sie schon die zaghafte Hoffnung hegte, zumindest in Lodi könnte außer ihr niemand mehr sein, hatte sie einen üblen, betrunkenen Mann gesehen, einen Hippie mit T-Shirt, auf dem stand: ICH HABE AUF SEX UND ALKOHOL VERZICHTET - ES WAREN DIE SCHLIMMSTEN 20 MINUTEN MEINES LEBENS, der mit einer Flasche Whiskey in der Hand durch die Straßen gezogen war. Er hatte langes blondes Haar, das unter der Schirmmütze hervorquoll, die er aufhatte, und bis auf die Schultern fiel. Im Saum der engen Jeans hatte er eine Pistole stecken. Irma hatte ihn hinter dem Schlafzimmervorhang beobachtet, bis er nicht mehr zu sehen war, dann war sie nach unten in die Rumpelkammer geeilt, als wäre ein böser Bann von ihr genommen worden.
Sie waren nicht alle tot. Wenn noch ein Hippie übrig war, würde es noch andere Hippies geben. Und alle waren Vergewaltiger. Sie würden sie vergewaltigen. Früher oder später würden sie sie finden und vergewaltigen.
Heute morgen war sie noch vor Anbruch der Dämmerung auf den Dachboden geschlichen, wo die wenigen Habseligkeiten ihres Vaters in Kartons verstaut waren. Ihr Vater war bei der Handelsmarine gewesen. Er hatte Irmas Mutter Ende der sechziger Jahre verlassen. Irmas Mutter hatte Irma alles darüber erzählt. Sie war ganz offen zu ihr gewesen. Irmas Vater war ein Scheusal gewesen, der sich betrank und sie dann vergewaltigen wollte. Das wollten sie alle. Wenn man verheiratet war, gab das einem Mann das Recht, einen zu vergewaltigen, wann immer er wollte. Sogar bei Tage. Irmas Mutter faßte die Tatsache, daß ihr Mann sie verlassen hatte, stets mit drei Worten zusammen, dieselben Worte, die Irma zum Tod aller Männer, Frauen und Kinder auf der Welt hätte sagen können: »Kein großer Verlust.«
Die meisten Kisten enthielten lediglich billige Kinkerlitzchen, die in fremden Häfen gekauft worden waren - Souvenir aus Hong Kong, Souvenir aus Saigon, Souvenir aus Kopenhagen. Daneben ein Album mit Fotos. Die meisten zeigten ihren Vater auf einem Schiff, manchmal hatte er den Arm um seine befreundeten Scheusale gelegt und lächelte in die Kamera. Nun, wahrscheinlich hatte ihn die Krankheit, die sie Captain Trips nannten, dort erwischt, wohin er sich verkrümelt hatte. Kein großer Verlust.
Aber es war auch eine kleine Holzkiste mit Messingscharnieren dabei, in diesem Kästchen war eine Waffe. Eine Pistole Kaliber 45. Sie lag auf rotem Samt, in einem Geheimfach unter dem roten Samt befanden sich auch ein paar Kugeln. Sie waren grün und sahen schimmlig aus, aber Irma dachte, daß sie trotzdem funktionieren würden, Kugeln waren aus Metall. Die wurden nicht schlecht wie Milch oder Käse.
Sie lud die Waffe unter der Glühbirne voller Spinnweben auf dem Dachboden, dann ging sie hinunter und frühstückte an ihrem eigenen Küchentisch. Sie würde sich nicht länger wie eine Maus in ihrem Loch verkriechen. Sie war bewaffnet. Die Vergewaltiger sollten bloss aufpassen.
Am Nachmittag ging sie auf die Veranda, um ihr Buch zu lesen. Der Titel des Buches lautete Satan lebt auf der Welt und fühlt sich wohl.Grimmige und dennoch freudige Lektüre. Die Sünder und Tunichtgute hatten ihre gerechte Strafe erhalten, genau wie das Buch es vorhergesagt hatte. Sie waren alle tot. Abgesehen von ein paar Hippie-Vergewaltigern, und mit denen, glaubte sie, würde sie schon fertig werden. Die Pistole lag neben ihr.
Um zwei Uhr kam der Mann mit dem blonden Haar zurück. Er war so betrunken, daß er kaum stehen konnte. Er sah Irma und strahlte, zweifellos weil er sich freute, daß er endlich eine »Möse« gefunden hatte.
»He, Baby!« rief er. »Nur noch wir beide! Wie lange...« Dann umwölkte Entsetzen sein Gesicht, als er sah, wie Irma das Buch weglegte und die Fünfundvierziger hob.
»He, hör mal, leg das Ding weg... ist es geladen? He...!«
Irma drückte ab. Die Pistole explodierte und tötete sie auf der Stelle. Kein großer Verlust.
George McDougall lebte in Nyack, New York. Er war Mathematiklehrer an der High School und hatte sich auf Förderkurse spezialisiert. Er und seine Frau waren praktizierende Katholiken, und Harriett McDougall hatte ihm elf Kinder geboren, neun Jungs und zwei Mädchen. Zwischen dem 22. Juni, als sein neunjähriger Sohn Jeff der Krankheit erlag, welche zu dem Zeitpunkt noch als »grippale Erkrankung der Atemwege« diagnostiziert wurde, und dem 29. Juni, als seine sechzehnjährige Tochter Patricia (o Gott, sie war so jung und so wunderschön gewesen) an derselben Krankheit gestorben war, die inzwischen alle - die noch lebten - »Halswürger« nannten, hatte George mit ansehen müssen, wie die zwölf Menschen, die er am meisten auf der Welt liebte, gestorben waren, während er selbst sich wohl und bei bester Gesundheit fühlte. In der Schule hatte er immer Witze gemacht, daß er sich nicht an alle Namen seiner Kinder erinnern könne, aber die Reihenfolge ihres Todes war in seine Erinnerung eingraviert: Jeff am 22.., Marty und Heien am 23., seine Frau Harriett und Bill und George Junior und Robert und Stan am 24., Richard am 25., Danny am 27., der dreijährige Frank am 28. und zuletzt Pat - dabei hatte es bis zum Ende ausgesehen, als würde es Pat besser gehen.